Teil 2
Author: Fu-Dragon

 

Im Gegensatz zu Caines nahezu akribischer Methode ein Geschenk auszupacken, sprang Peter das Päckchen eher wie ein Tiger an. Er setzte sich auf den Boden, das Paket vor sich, und langte mit beiden Händen zu. Kleine und größere Stückchen Geschenkpapier flogen in alle Richtungen, als er ungeduldig in das Innere des Präsents vordrang.

Zum Vorschein kam eine liebevoll gefaltete Wolldecke. Neugierig griff Peter danach, schüttelte sie aus und legte sie dann vor sich hin, um sie in ihrer ganzen Pracht zu betrachten. Dass die oberste Ecke dabei umgeschlagen blieb, schien ihn nicht weiter zu stören.

Die Decke war nicht sehr groß, vielleicht einen Meter auf einen Meter, und die weiße Wolle hatte schon einen leicht vergilbten Schimmer. Perfekt gestickte, goldene Monde, Sterne und Wolken verzierten den in dunklem Blau eingefassten Rand der Decke. Im Zentrum entdeckte Peter einen grinsenden Drachen und einen ebenfalls grinsenden Tiger, die beide mit Silberfäden in verschiedenen Farbabstufungen darauf gestickt worden waren. Sie wirkten so lebendig, als wollten sie jeden Moment aus der Decke herausspringen und im Zimmer herumtollen.

Caine bemerkte sehr wohl Peters Verwirrung, während dieser die Decke begutachtete. Er nahm vor seinem Sohn im Lotussitz Platz und schlug die eine, umgeknickte Ecke um. Dort prangte ein Monogramm in dunklem Silber: PC

"Das ist deine Kinderdecke, Peter. Deine Mutter hat sie für dich gemacht.", sagte er leise.

"M...meine Mutter?" Tränen schossen dem jungen Mann in die Augen. "A...aber wie hast du?"

"Du erinnerst dich daran, dass ich mich vor einem Monat für ein paar Tage auf einer Reise befand?"

Peter nickte stumm, unfähig die Tränen zu unterdrücken, die nun unaufhaltsam über seine Wangen rannen. Caine musste sich beherrschen, seinen deutlich gepeinigten Sohn nicht einfach in die Arme zu nehmen, doch er spürte, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Dieser Moment gehörte nicht Vater und Sohn, sondern ganz alleine Peter und dessen Erinnerungen an seine Mutter.

"Ich kehrte noch einmal zum Tempel zurück, um nach dieser Decke zu suchen und somit den letzten Wunsch deiner Mutter zu erfüllen."

Der junge Cop wischte sich über die Augen und bedeutete seinem Vater fort zu fahren. Mit zitternden Fingern nahm er die Babydecke vom Boden und hob sie hoch. Er rieb seine Wange an der flauschigen Wolle, schloss die Augen und vergrub schließlich sein Gesicht in dem weichen Stoff. Auf den Priester machte es den Eindruck, als würde Peter gerade mit aller Macht versuchen, eine Kindheitserinnerung aus längst vergangener Zeit hervor zu locken.

Mit leiser Stimme begann Caine zu erzählen: "Wir konnten uns damals solch eine Babydecke nicht leisten, doch Laura wollte unbedingt etwas besonderes haben für ihr Kind, das sie im Leibe trug - für dich. So ging sie hochschwanger zu einem der angrenzenden Bauernhöfe und bat den Schäfer um Wolle. Der Mann zeigte Mitleid und überließ ihr einige Reste der letzten Schur. Von da an verbrachte deine Mutter zahllose Nächte damit, die Wolle zu spinnen und diese Decke herzustellen. Sie lehnte dabei jede Hilfe ab und meinte nur, sie wolle es ganz alleine schaffen. Das sei ihr ganz persönliches Geschenk für dich, ihren Liebling.

"Deine Mutter liebte diese Kinderdecke über alles, mein Sohn, beinahe genauso, wie sie dich Zeit ihres Lebens liebte und vergötterte. Sie arbeitete wie eine Besessene an diesem Kleinod, wollte es unbedingt fertig stellen vor deiner Geburt. Erst kurz bevor die Wehen einsetzten, vollendete sie die letzte Stickerei, deine Initialen PC, und dann kamst du zur Welt."

Caine hielt kurz inne und sammelte sich. Mit aller Macht seine eigenen, überschäumenden Emotionen und Sehnsüchte unterdrückend, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort: "Du hättest deine Mutter sehen sollen, mein Sohn. Ihre Augen strahlten wie zwei diamantene Sterne am Himmel, als sie dich zum ersten Mal in ihren Armen hielt, eingewickelt in diese Decke. In meinem ganzen Leben werde ich jenen Augenblick niemals vergessen können. Sie wirkte wie ein Engel, der direkt vom Himmel herab gestiegen war für deine Ankunft auf Erden. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen, dich anzuschauen, dich zu herzen, dir ihre Liebe zu zeigen.

"Als du dann zu groß wurdest, um in die Decke gewickelt zu werden, benutzte deine Mutter sie als Unterlage für dich. Wo immer du gingest, wo immer Laura dich zum schlafen hinlegte, immer war diese Decke zugegen. Sie gehörte so fest zu dir, wie auch Laura und ich zu dir gehörten.

"Eines Tages, es war genau zwei Wochen vor Lauras Tod, sie war schon sehr geschwächt, bestand sie darauf mit mir und dir noch einmal in ihren Lieblingspark zu gehen. Deine Mutter und ich, wir lagen im Gras. Du lagst zwischen uns und schliefest selig, jene Decke wärmte dich, da wandte sie sich mir zu. Die schreckliche Krankheit hatte ihr Gesicht schon schwer gezeichnet, aber für mich war sie noch immer die wunderschönste und anmutigste Frau dieser Welt. Sie sah mich lange Zeit nur an, mit diesen unwiderstehlichen Augen, die vor Liebe von innen heraus strahlten, dann fragte sie: 'Kwai Chang, mein Liebster, weißt du, was ich mir wünsche?' Ich verneinte.

"Sie blickte auf dich herab, spielte mit einem Zipfel dieser Decke und strich dir liebevoll über dein dunkles Haar, bevor sie sich erneut mir zuwandte und meinte: 'Ich wünschte mir, dass irgendwann auch Peters Kinder in diese Decke gehüllt würden. Seine Kinder sollen dieselbe Liebe spüren, die auch ich empfinde. Die Decke würde sie beschützen und wärmen und ihnen immer ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln. So könnte immer ein Stück von mir bei Ihnen sein, auch wenn ich sie niemals kennen lernen werde'.

"Ich wollte etwas erwidern, doch Laura legte einen Finger auf meine Lippen. 'Scht, mein Liebster', meinte sie. 'Ich weiß wohl, es wird ein Wunschtraum bleiben, denn bis dahin ist meine Decke sicher alt, grau und verschlissen. Aber bitte, lass mir diesen einen Traum. Sei einfach ruhig und küss mich!'. Was ich dann auch tat."

An dieser Stelle endete Caine seine Erzählung. Tiefe Stille herrschte im Raum, nur unterbrochen von Peters gelegentlichem Schluchzen. Noch immer hielt er die, inzwischen mit Tränen durchnässte, Decke dicht an sich gepresst hielt.

Der Shaolinpriester wagte es nicht, seinen Sohn zu berühren. Was genau ihn davon abhielt, konnte er nicht sagen. Vielleicht lag es an der intuitiven Erkenntnis, dass er einem ganz besonderen Moment zwischen Mutter und Sohn beiwohnte, den er nicht unterbrechen durfte. Irgend etwas sagte ihm, dass seine geliebte Laura ganz nahe bei ihnen war. Obwohl er absolut nichts erkennen konnte, meinte er doch zu wissen, dass seine Frau gerade neben ihrem über alles geliebten Sohn kniete und ihn mit ätherischen Armen fest umschlungen hielt. Es lag so viel...Elektrizität in der Luft...so viel Liebe und Zuneigung, wie er es immer nur empfunden hatte, wenn seine Laura um ihn herum war. Außerdem...dieser feine Duft nach Jasmin...das konnte nur seine angebetete Laura sein, die ihnen gerade einen Besuch abstattete. Woher sollte der Geruch sonst kommen?

Mehrere Minuten verharrte Caine regungslos und atmete verzückt den lang vermissten Wohlgeruch ein. Obgleich er Peter die Zweisamkeit von Herzen gönnte, konnte er nicht verhindern, dass ihn tiefe Sehnsucht erfasste. Was würde er darum geben, auch noch einmal seine geliebte Laura spüren zu dürfen.

Das kleine Wunder geschah. Plötzlich verstärkte sich der Duft um ein vielfaches. Ein zarter Lufthauch strich über Caines Wange und erwärmte sein ganzes Sein. Instinktiv drückte er sein Gesicht dem kaum wahrnehmbaren Kontakt entgegen. Ein Beben durchlief den Körper des Shaolin, er schloss die Augen. Etwas kühles und gleichzeitig feenhaft-liebevolles strich über seine Lippen. Kurz darauf verschwand der Geruch. Auch diese Berührung, die sich tief bis in sein Innerstes fortpflanzte und innige Gefühle und wunderbare Erinnerungen aus einer unendlich weit entfernt scheinenden Zeit wieder erweckte, löste sich auf. Bedauernd öffnete Caine seine Augen wieder und blickte zu seinem Sohn.

Ein Ausdruck von wundersamer Verzückung überzog Peters Antlitz. Ungläubig schüttelte der junge Mann den Kopf und vergrub sein Gesicht ein letztes Mal in der weichen Decke, bevor er sie sinken ließ und fassungslos aufsah.

"Dad, du kannst mich für verrückt halten, aber…. Ich...ich glaube, ich habe Mom gerade gespürt. S...Sie hat mich ganz fest umarmt", sagte er in einem Tonfall, als könne er es einfach nicht begreifen.

Caine streckte die Hand aus und wischte Peter den letzten Rest Feuchtigkeit von den Wangen. "Nicht nur du hast sie gespürt, mein Sohn", wisperte er, selbst den Tränen nahe.

Peter schluckte trocken. "D...Du auch, Paps?"

"Ja, ich auch."

Plötzlich überzog ein breites Lächeln Peters Gesicht. "Wow, Paps, weißt du denn, was das bedeutet? Wenn du es auch gespürt hast, dann...dann kann es keine Einbildung gewesen sein. Sie war wirklich hier!" rief er überglücklich aus.

Caine erwiderte das Lächeln. Er griff nach Lauras Kinderdecke, nahm sie Peter aus den Händen, faltete sie ordentlich zusammen und gab sie seinem Sprössling zurück.

"Solange du diese Decke hast, wird deine Mutter immer bei dir sein", bestätigte er Peters unausgesprochene Frage.

Ein Anflug von Bedauern machte sich in Peters Gesichtszügen breit. Umständlich krabbelte er auf die Beine, die Babydecke fest an sich gedrückt. Caine erhob sich ebenfalls und streckte die Hand nach seinem leicht schwankenden Sprössling aus. Doch der schüttelte den Kopf, so dass der Shaolin seine Hand wieder sinken ließ.

Peter strich in einer fahrigen Geste über seine Stirn und straffte sich dann deutlich. Gleich darauf hielt er seinem Vater die Decke mit einer entschlossenen Handbewegung entgegen. Das Sprechen fiel dem jungen Mann sichtlich schwer: "Wenn das stimmt, Dad, dann finde ich, ist es besser, wenn du die Decke behältst. Du hast ein Vorrecht darauf, dass Mom um dich ist."

Caine schüttelte den Kopf. "Nein, Peter. Deine Mutter wird immer bei mir sein." Er legte die Hand auf sein Herz. "Hier drinnen und in meinen Gedanken. So wie sie auch in deinem Herzen immer ihren Platz haben wird. Sie wollte, dass du dein Eigentum, ihre für dich gemachte Babydecke, bekommst und so soll es sein."

Peter seufzte erleichtert auf. "Danke, Dad." Seine Augen wanderten zur Zimmerdecke, so als wolle er direkt in den Himmel blicken. "Mom, ich verspreche dir: Sollte ich jemals Kinder haben, dann werde ich deinen Wunsch erfüllen. Dein Traum soll Wirklichkeit werden. Ich liebe dich und ich vermisse dich unendlich."

Dann trat Peter auf Caine zu, umfasste mit einer Hand seinen Nacken und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. "Paps, dich liebe ich auch. Danke, dass du deine Erinnerungen mit mir teiltest. Das bedeutet mir sehr viel. Du weißt wahrscheinlich gar nicht, welche Freude du mir damit bereitet hast.", flüsterte er. "Fröhliche Weihnachten."

"Es war mir ein Vergnügen, mein Sohn. Ich liebe dich auch.", erwiderte Caine und zog seinen Sohn in eine innige Umarmung. "Fröhliche Weihnachten, Peter."

Ende

 

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