Die Nacht war klar und voller Sterne. Winzig kleine Eiskristalle glitzerten auf einer dicken Schneedecke von überall her um die Wette. Sie durchdrangen die Dunkelheit, in der kaum erkennbare Konturen mit den Lichtern der Stadt verschmolzen. --- Mit geschlossenen Augen stand Peter auf der Dachterrasse seines Vaters. Fast unbeweglich, die Arme um seinen Oberkörper geschlungen, trotzte er den eisigen Temperaturen. Seine tiefen Atemzüge verwandelten sich in kalten Nebelhauch, der davon schwebte und innerhalb von Sekunden im Nichts verschwand. Ein fernes Geräusch riß ihn aus seiner Starre, und er öffnete die Augen. Langsam schaute er sich um. Fast so, als ob er sich erst jetzt bewußt wurde, wo er sich überhaupt befand. Auch der funkelnde Sternenhimmel weckte nicht sofort seine Aufmerksamkeit. Doch dann löste sich plötzlich eine Sternschnuppe und zog ihre Bahn durch das Firmament. Sternschnuppen bedeuten, sich etwas wünschen zu können ... Peter sah ihr nach und seufzte leise. Nur ein einziger Wunsch stieg in ihm auf. Doch, wie es schien, würde er wohl unerfüllt bleiben. Der Gedanke daran umschloß seine Seele mit Traurigkeit. In wenigen Minuten war Weihnachtsmorgen und er konnte nicht verhindern, daß seine Augen feucht wurden. --- Fröstelnd zog er die Schultern zusammen, wandte sich von dem friedlichen Bild der Nacht ab und trat in das Loft ein. Was tat er eigentlich hier? Er konnte genau spüren, daß sein Vater noch nicht wieder da war, aber trotzdem hatte ihn ein leiser Funken Hoffnung den Weg zu Caines Wohnung gehen lassen. Kaum eingetreten, wußte er es schon ... Da war keine vertraute Präsenz. Niemand, der ihn auffangen würde, wenn er fiel, und auch keine Wärme, die ihn umschloß wie eine sichere Festung. Kerzen tauchten das Appartement in ein gold schimmerndes, behagliches Licht. Warum er sie angezündet hatte, wußte er selber nicht. Es war niemand hier, der ihm in diesem Schein Gesellschaft leisten würde. Das entspannende Flackern ließ seine Gedanken schweifen. Weihnachten war etwas Besonderes. Es bedeutete noch mehr als sonst, den Menschen, die man liebte, nahe zu sein. Sie bei sich zu wissen, hieß einfach, man war zu Hause angekommen. Um dieses Gefühl zu beschreiben, würden alle Worte dieser Welt nicht ausreichen... --- Peter steckte seine Hand in die Jackentasche und strich vorsichtig über das knisternde Papier des Geschenkes. Die ganze Zeit über hatte er so sehr gehofft, Caine würde bis Weihnachten wiedergekehrt sein. All die Monate war er schon fort, und noch nicht einmal jetzt sandte er ein Zeichen. Er feierte dieses Fest zwar nicht, und der Buddhismus harmonierte vielleicht nicht so einfach mit diesen Tagen, aber er wußte sehr wohl um die Tradition, die dahinter stand. Dieser ganze Trubel war nicht wichtig für seinen Vater, aber trotzdem... Das Bedürfnis, ihm ein Geschenk zu machen, war zu groß, um zu widerstehen. Einfach nur, um noch einmal zu sagen, wieviel er ihm bedeutete. Das würde sicherlich auch in der buddhistischen Welt ausnahmsweise erlaubt sein. Das passende Präsent zu finden, war nicht einfach gewesen. Materielle Dinge benötigte sein Vater nicht. Das Wesentliche, auf das er sich reduziert hatte, reichte ihm vollkommen aus. Im Grunde genommen, besaß der Priester schon alles, was er brauchte. Letztendlich hatte Peter etwas gefunden, was für seinen Vater denselben Wert besitzen würde wie für ihn. Aber was nützte das, wenn er sein Geschenk gar nicht überreichen konnte ? --- Mit traurigem Blick zog er die Hand wieder aus der Jackentasche und starrte weiter gedankenversunken in die Flamme einer der Kerzen. Von irgendwoher hörte er Glockenläuten, und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Der Wunsch, den er der Sternschnuppe vorhin mit auf den Weg gab, hatte sich nicht erfüllt. Es war Weihnachtsmorgen. Eigentlich sollte er jetzt nach Hause fahren und sich für ein paar Stunden hinlegen. Es machte keinen Sinn, noch länger hier zu bleiben. Im Prinzip war es aber auch egal, wo er sich aufhielt, denn seine Wohnung wirkte ebenso verlassen wie diese hier. Außerdem wußte er genau, daß er sowieso keinen Schlaf finden konnte. Er war einfach zu traurig, fühlte sich unendlich allein und so ... leer. Es fehlte einfach jemand in seinem Leben. Nein, falsch ! Es fehlte ein T e i l seines Lebens ! Die Vorstellung, die für ihn so wichtigen Tage ohne seinen Vater verbringen zu müssen, legte sich unerträglich schwer auf sein Gemüt. "Ich hoffe, es geht Dir gut, Paps!" dachte er, bemerkte aber nicht, daß er die Worte laut ausgesprochen hatte. "Du sollst mich doch nicht Paps nennen ..." Richtig, das sollte er nicht. Sein Vater wehrte sich immer wieder dagegen, aber in dieses Wort hatte er all seine Liebe gelegt, darum konnte und wollte er es sich nicht abgewöhnen. Sein Paps würde eben immer sein Paps bleiben ... --- Die Veränderung spürte er zunächst langsam, dann immer intensiver. Sein Herz begann schneller zu klopfen, und ein leises Zittern durchzog seinen Körper. Erst jetzt erkannte er, daß sich Caines mahnende Stimme gerade eben nicht durch seine Erinnerung gezogen hatte. Jemand ertastete vorsichtig seinen Geist und sandte vertraute Energie, die sich um ihn legte wie wärmende Decke. Langsam drehte er sich um und schaute ungläubig auf den Schatten, der sich aus dem Halbdunklen einer Zimmerecke löste und auf ihn zutrat. Erst als eine Hand behutsam sein Gesicht berührte, eine Träne wegwischte - die er gar nicht bemerkt hatte - und ihm dann mit liebevoller Geste durch das Haar strich, realisierte Peter, daß es kein Traum wahr. "Paps ..." Mehr als ein Flüstern wollte ihm nicht über die Lippen kommen. Er sah, wie sein Vater aufgrund dieser Anrede wie zum Protest eine Augenbraue hochzog, doch seine Mundwinkel umspielte bereits ein Lächeln. Nur einen Atemzug später fühlte Peter, wie er in eine Umarmung gezogen wurde, in die er sich wie befreit fallen ließ. Seine innere Leere wich einem unbeschreiblichen Glücksgefühl und auch die Kälte verschwand, von der er nun wusste, daß daran nicht nur die Temperaturen schuld gewesen waren. ----------------------------------------------- Sie standen auf der Dachterrasse und schauten zusammen in den Sternenhimmel. Caine legte einen Arm um die Schultern seines Sohnes, und dieser lehnte sich vertraut dagegen. Eng nebeneinander nahmen beide die Gegenwart des anderen so intensiv wie möglich wahr. Eigentlich warteten viele Fragen auf ihre Antworten, doch jetzt zählte nur - mehr als alles andere - dieser eine Augenblick, in dem Worte nicht nötig waren. --- Nach einer Weile unterbrach Peter jedoch das Schweigen, nestelte an seiner Tasche und zog das Geschenk heraus. Etwas zögerlich drückte er es Caine in die Hand. "Für Dich, Paps! Fröhliche Weihnachten!" Sein Vater sah ihn erstaunt an, sagte aber nichts. Langsam öffnete er das Geschenk, befreite den Inhalt mit bedächtigen Bewegungen von Schleife und Papier, bis er ein Bild in den Händen hielt, das eine Fotographie seiner verstorbenen Frau Laura zeigte. Es war das gleiche Bild, das sowohl er als auch sein Sohn immer bei sich trugen. Ihre waren jedoch alt, abgegriffen und verblaßt. Dieses hier strahlte in leuchtenden Farben, fast so, als wäre es gerade eben geschossen worden. "Ich habe es am Computer nachbearbeitet und die Farben aufgefrischt." Erschrocken sah Peter, wie Caines Blick undeutbar wurde, als dieser schweigend mit der Fingerkuppe vorsichtig über das Bild fuhr. "Es tut mir leid, Paps. Ich wollte keine schmerzhaften Erinnerungen hervorrufen. Ich weiß, daß Dir Geschenke nicht wichtig sind ... Ich ... ich .. dachte nur, Du würdest Dich über ein Foto in besserer Qualität freuen ..." Er unterbrach sich und senkte unsicher den Blick. Zweifel darüber, ob er das richtige getan hatte, durchzogen ihn plötzlich. Sein Vater war wieder bei ihm, genau an diesen besonderen Tagen, und durch seine unbedachte Handlung würde diese wunderbare Stimmung sofort wieder zerstört werden. Gerade noch war er so glücklich gewesen, ihn wieder bei sich zu haben. Zu fühlen, daß er wirklich da war, und jetzt ... Sein Gedankengang wurde unterbrochen, denn auf einmal legte sich eine Hand unter sein Kinn, die seinen Kopf anhob. Jetzt konnte er dem direkten Blick Caines nicht mehr ausweichen. Dieser strich ihm sanft über die Wange und ließ seine Hand dort für einen Augenblick ruhen. "Du hast mir damit eine sehr große Freude bereitet!" sagte er lächelnd. Er griff hinter sich und zog ebenfalls ein kleines Weihnachtsgeschenk hervor, das er ihm in die Hand legte. "Fröhliche Weihnachten, mein Sohn!" Peter war so perplex, daß er für einen Moment nur stumm den Blick abwechselnd zwischen seinem Vater und dem kleinen Präsent schweifen ließ. Dann aber löste er neugierig die Schleife, und das bunte Papier fiel zu Boden. Als er sah, was er in den Händen hielt, verstand er den Blick Caines, als dieser sein Geschenk ausgepackt hatte. "Es hat immer einen Vorteil, wenn man auf seinen Reisen Menschen trifft, die sich mit solchen Sachen auskennen." Peter schaute gerührt auf das Bildnis seiner Mutter. Es war exakt das gleiche, das er seinem Vater geschenkt hatte. Neu, überarbeitet und wunderschön. Er zog Caine in eine lange Umarmung, drückte ihn fest an sich. "Ich liebe Dich, Paps!" flüsterte er mit bewegter Stimme. "Ich liebe Dich auch, mein Sohn!" Die Stimme seines Vaters, dicht an seinem Ohr, legte sich warm auf seine Seele und sicher um sein Herz. Ein Gefühl von absoluter Zufriedenheit durchzog sowohl seinen Körper als auch seinen Geist. Als er den Blick nach oben wandte und dabei in den Himmel sah, erinnerte er sich lächelnd. Sternschnuppen bedeuten, sich etwas wünschen zu können ... ENDE
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