Autor: Lady Charena
 

Hintergrund: In der Folge “Rite of passage“ ist Caine gezwungen, gegen einen Dämon zu kämpfen, der zuerst Lo Sis, dann Peters Gestalt angenommen hat. Trotz des Wissens, dass er nicht wirklich seinem Sohn gegenüber stand, konnte Caine ihn nicht bekämpfen und nur ein Trick des Ehrwürdigen rettete ihm das Leben.

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Herr, lass mich trachten:

Nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste.

Nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe.

Nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe...

Friedensgebet, Souvenir Normand 1912

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Peter ist während der Fahrt nach Hause sehr still.

Wie Wolken über einen Sommerhimmel jagen und ihn dadurch verdüstern, hat sich ein Schatten über seine Stimmung gelegt. War er auf der Brücke im Park noch ausgelassen und voll kindlicher Albernheiten, so haben sich jetzt nachdenkliche Falten in seine Stirn eingegraben. Doch möglicherweise lese ich zu viel in seinem Gesicht und er ist einfach erschöpft. Und vielleicht suche ich nur wieder nach Erklärungen für das unerklärliche Verhalten meines Sohnes. Lo Si hat mich getadelt, zu oft zu vieles zu entschuldigen, wenn es Peter betrifft. Doch ich sehe mich außerstande, seinem Rat zu folgen...

Ich spüre den Blick meines Sohnes und frage mich, ob mein Gesicht etwas von meinen Gedanken verrät. Der Wagen hält an einer roten Ampel und Peter dreht sich mir zu. Als er den Mund öffnet, wende ich mich... zu hastig... von ihm ab und sehe aus dem Fenster.

Peter bestand darauf, für den kurzen Weg sein Auto vom Parkplatz des Reviers zu holen und mich nach Hause zu fahren. Zuerst dachte ich, er gebrauche dies als Vorwand, um auf dem Polizeirevier „nach dem Rechten zu sehen“, doch er betrat zu meiner Verwunderung das Gebäude nicht.

Es ist noch nicht sehr spät, doch die sogenannte „Rushhour“, wenn jeder von einem Ort an den anderen eilt und die Straßen mit Autos vollgestopft sind, ist bereits vorbei. Die Gehwege vor den zahllosen kleinen Geschäften in Chinatown sind wie stets mit Menschen bevölkert, die einkaufen, Restaurants aufsuchen oder einfach nur spazieren gehen. Bald werden sie von den Vielen ersetzt, die ihrem Vergnügen nachjagen. In dieser Stadt zu wohnen ist das völlige Gegenteil dessen, was ich einst für mein Leben gewünscht - und erwartet - hatte. Die Ruhe und Abgeschiedenheit im Tempel sprach mir zu. Chinatown dagegen ist übervölkert und laut; voll Menschen, die mit mir sprechen wollen, die ihre Sorgen und ihre Freuden mit mir teilen. Ich habe diese Begegnungen zu schätzen gelernt. Und nun kann ich mir nicht mehr vorstellen, wieder so zu leben, wie ich es fünfzehn lange Jahre getan habe – isoliert.

Mit Peter ergeht es mir ähnlich. Mein Sohn fordert sehr viel von mir; manchmal ist er aufsässig bis zur Respektlosigkeit, doch in der Regel versucht er seine Ziele mit Charme zu erreichen. Zu oft hat er seine Aggression nicht unter Kontrolle, fast genauso oft verschließt er sich mir völlig. Dann wieder legt er sein Herz in meine Hände. Peter ist in sich sein eigener Widerspruch. Er ist wie eines dieser komplizierten, fesselnden chinesischen Geduldsspiele – und ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder ohne ihn zu leben.

Die Ampel schaltet auf grün und Peter beschleunigt das Auto. Kurz darauf parkt er den Wagen in der Allee hinter dem Gebäude, in dem meine Wohnung liegt. Er gähnt, als er aussteigt. Ich blicke ihn über das Dach des Fahrzeugs an – und warte.

Peter sieht mich an, doch ich bin nicht sicher, was ich in seinen Augen lese, was er von mir erwartet. Mein Schweigen bringt ihn dazu, sich nervös durch die Haare zu fahren; eine Geste der Unsicherheit, die er über die Jahre seit unserem Wiedersehen, mehr und mehr abgelegt hatte. „Hast du... hast du etwas dagegen, wenn ich noch mit reinkomme?“

Er scheint widerwillig, sich von mir zu trennen und auch ich hatte gehofft, dass er den Abend mit mir verbringt - vielleicht um darüber zu sprechen, was wir in Shamballah erlebt haben. Abgesehen von ein paar Anspielungen im Park hat er mir noch nicht viel erzählt.

Doch nun erkenne ich, dass Erklärungen warten müssen. Es war auch für mich kein... normaler... Tag. Dieser Gedanke ruft eine seltsame bittere Heiterkeit hervor, die ich jedoch unterdrücke. Die Wunden in meinen Handflächen, tiefe Schnitte, schmerzen trotz der Versorgung durch die Mönche. Auch die Prellungen, die ich mir am ganzen Körper zugezogen habe und meine müden, überbeanspruchten Muskeln sagen mir, dass es Zeit ist, sich auszuruhen. Die Wirkung von Lo Sis schmerzstillender Arznei ist abgeklungen und zum ersten Mal seit all dies begonnen hat, höre ich auf meinen Körper und... ‚zähle’... meine Wunden. Während des ersten Kampfes renkte ich mir beim Aufprall auf eine Steinsäule die Schulter aus und meine komplette linke Körperhälfte ist mit Prellungen übersät. Meine Kehle zeigt Spuren des brutalen Griffs, der meinen Hinterkopf gegen die Säule geschlagen hat. Doch dank Lo Sis rascher Hilfe und seiner Kenntnis über Arzneien und Salben ist nichts davon gefährlich – nur... unangenehm.

Mir wird bewusst, dass Peter mich noch immer wartend anblickt und ich nicke. Die Unsicherheit bleibt in seinen Gesichtszügen, als er den Wagen abschließt. Er tritt neben mich und ich lege die Hand auf seine Schulter. „Geht es dir gut?“

Peter schüttelt den Kopf und lächelt matt. „Sollte ich das nicht eher dich fragen? Als ich dich gefunden habe, konntest du dich nicht einmal auf den Beinen halten.“

„Mir fehlt nichts.“ Ich lausche meinen eigenen Worten und bin geschockt, wie leicht es mir inzwischen fällt, meinen Sohn zu belügen, um seine Gefühle zu schonen... Doch ganz scheine ich ihn nicht getäuscht zu haben, denn während wir die Feuertreppe zu meiner Wohnung nehmen, spüre ich immer wieder seinen Blick auf mir ruhen.

* * *

Ich lasse Peter alleine, um mich umzukleiden und meine Wunden zu behandeln. Als ich in den Hauptraum zurückkehre, steht er noch immer an der geöffneten Tür, die auf den Balkon führt. Er ist heute Abend ungewöhnlich ruhig, durchwandert nicht ruhelos den Raum oder fordert ungeduldig meine Aufmerksamkeit. Das macht mir Sorgen.

„Bist du hungrig?“, frage ich schließlich, um die Stille zu brechen.

Peter schüttelt den Kopf.

„Ich werde dir eine Salbe für deine Wunden geben.“

„Das ist nicht nötig, es ist nichts.“ Eine Ahnung eines aufkommenden Sturmes liegt in seiner Stimme.

“Dann werde ich dir jetzt ein Bett in einem der hinteren Räume bereiten.“

„Vater!“

Ich halte inne, wende mich ihm wieder zu. „Ja, Peter.“

„Ich will mit dir über deinen Brief reden.“

Für einen Augenblick versuche ich vorzugeben, nicht zu wissen, worüber er spricht. Doch es würde ihn nicht täuschen. Als ich ihm schrieb, dass ich gehen müsse, hatte ich nicht erwartet, ihm so bald wieder gegenüber zu treten und meine Worte verteidigen zu müssen. Ich hatte nicht erwartet, dass er meiner Spur so hartnäckig folgen würde, um an meiner Seite zu kämpfen. Ich sollte meinen Sohn besser kennen. „Wir werden darüber sprechen, aber das kann bis morgen warten.“

„Nein, ich...“ Sein Protest ist erwartungsgemäß emotional und heftig.

„Morgen, Peter.“ Ich weiß, dass er sich an den strengen Ton meiner Stimme aus seiner Kindheit erinnert und daran, dass Widerspruch sinnlos ist. Worauf ich nicht gefasst bin, ist der Schmerz in seinen Augen. Wann wird er endlich lernen, nicht hinter jedem unerfüllten Wunsch eine Ablehnung zu vermuten?

Und doch kann ich ihm nicht fernbleiben, wenn er mich so ansieht und so trete ich zu ihm, lege eine Hand auf seine Schulter. Vorsichtig, denn auch sein Körper ist übersät mit Prellungen. Ein Shaolin ist demütig, nicht stolz. Aber nichtsdestotrotz erfüllt mich Stolz, als ich meinen Sohn betrachte. Er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um mir zu helfen. Ein Gedanke, der zugleich mein Herz mit Kälte erstickt.

„Du bist erschöpft“, fahre ich in milderem Tonfall fort. „Wir können morgen über alles sprechen, worüber du sprechen willst.“

Seine Augen verdunkeln sich und ich muss wieder an Gewitterwolken denken, die den Himmel verdecken. „Wer sagt mir, dass ich nicht morgen früh aufwache und wieder nur einen Brief finde, in dem steht, dass du auf unbestimmte Zeit weg bleibst?“, sagt er bitter. „Auf welche Rettungsmission wirst du morgen verschwinden, Vater? Wen wirst du übermorgen beschützen? Was wird es dann sein, für das du dein Leben riskierst? Und welchen Preis bist du dann dafür bereit, zu bezahlen? Wen zu opfern? Ich meine nicht mich. Es ist mir schon lange klar, dass du nicht auf mich Rücksicht nehmen kannst, Vater.“

Vater. Nicht Dad oder Paps. So oft ich ihn dafür getadelt habe, nun scheint es der Ausdruck einer Distanz zwischen uns zu sein, die mich beunruhigt. Die Anklagen, die er gegen mich vorbringt, echoen in mir weiter, vermischen sich auf beängstigende Weise mit den Vorwürfen, die bereits auf der Lauer liegen. „Ich werde hier sein.“ Es ist die einzige Antwort, die ich ihm geben kann.

Er wendet sich von mir ab, verschränkt die Arme vor der Brust, als wäre ihm plötzlich kalt. „Dein Leben ist voll von Dingen, die ich nicht verstehe. Du tust Dinge, die ich nicht verstehe. Was heute... was heute passiert ist, erscheint mir wie ein Traum. Ich kann mich nur nicht entscheiden, ob es ein Alptraum war.“

„Wenn du Geduld hast, wirst du eines Tages alles verstehen, was dich jetzt noch so sehr verwirrt, Peter.“ Wenn er sich entschließen sollte, seine Ausbildung zu beenden. Doch ich spreche diese Worte nicht laut aus. Peter würde sich nur unter Druck gesetzt fühlen. Es muss seine eigene Entscheidung sein, ungeachtet dessen, was ich für ihn wünsche.

Er sieht mich an und die Zweifel sind nicht aus seinem Gesicht verschwunden. Seine Augen sind wachsam, als wisse er nicht, ob er mir vertrauen soll. Ein Gedanke, der mir den Atem nimmt. Doch sein Blick bittet um Beruhigung. „Geh’ schlafen, mein Sohn. Ich werde hier sein, wenn du aufwachst“, versichere ich erneut. Dieses Mal weicht er nicht vor mir zurück, als ich mich ihm nähere und seine Wange küsse. Die Zeit scheint zurückgedreht und er ist wieder mein kleiner Sohn; der Junge, der Trost und Beruhigung bei mir sucht. Peter zögert noch immer, doch ich lese aus seiner Haltung, wie erschöpft er ist – und nicht alles davon ist körperliche Müdigkeit. Es ist die richtige Entscheidung, dieses Gespräch zu verschieben. Doch ich kann nicht verhehlen, das es mich zugleich erleichtert. „Ich werde da sein“, wiederhole ich – und für den Fall, dass er darauf wartet, füge ich hinzu: „Ich bin sehr stolz auf dich, Peter, und auf deine heutige Leistung.“

Er lächelt ein wenig, vielleicht nicht völlig überzeugt. Mit einem Nicken verlässt er den Raum und kurz darauf höre ich, wie die Dusche rauscht.

* * *

Während er duscht, bereite ich Tee. Als Kind liebte Peter Tee und oft trug ich eine Tasse an sein Bett, wenn ihn Alpträume aus dem Schlaf schrecken ließen. Er ist noch nicht zurück und ich stelle die Tasse auf einem kleinen Tisch im Hinterzimmer ab, um den Futon aus der Truhe in der Ecke zu nehmen und ihn auszurollen. Meine Gedanken sind nur auf das gerichtet, was ich zu tun habe, um sie daran zu hindern, um die Anklagen meines Sohnes zu kreisen. Eine Kerze, um etwas Licht in den fensterlosen Raum zu bringen. Ein Baumwolllaken aus einer Schublade, um es über den Futon zu breiten. Kleine Knitterfalten haben sich in den Stoff gedrückt, ich streiche sie glatt. Ein weiches Kissen, das ich extra für ihn besorgt habe, kommt an das eine Ende. Peter hat sich nie darüber beklagt, doch ich weiß, dass er es jetzt so gewöhnt ist und besser schlafen wird.

Hinter mir erklingen zögernde Schritte und ich sehe über die Schulter. Peter kommt in den Raum. Sein Oberkörper ist unbedeckt und die blauen Flecken auf seiner Haut sind deutlich zu erkennen. Er hat sich angewöhnt, einige Kleidungsstücke bei mir aufzubewahren, um sich nach dem Training umziehen zu können und die Hose, die er trägt, ist etwas zu kurz für seine langen Beine. Sein Haar ist feucht und fällt ihm in die Stirn. Das alles radiert die vergangenen Jahre aus, verwandelt ihn wieder in den schlaksigen, hochaufgeschossenen Jungen von zwölf Jahren, der sich nur widerwillig früh ins Bett schicken ließ.

Doch seine Augen... seine Augen sind die des Mannes, zu dem er herangewachsen ist. Sie haben die Unschuld und Neugier vielleicht verloren, die er als Kind besessen hatte – aber noch immer wirken sie wie Magnete auf mich und jedes Mal, wenn ich ihn ansehe... Ich wende den Blick ab. „Ich habe dir Tee gebracht.“

Peter setzt sich auf den Futon, seine Schulter streift meine. „Ich brauche keins deiner Mittelchen zum Einschlafen.“

Ich gehe über seinen respektlosen Ton hinweg; ich kann ihn nicht zwingen, an Dinge zu glauben, die ihm offensichtlich so fremd geworden sind. Oder dazu, mir zu vertrauen. „Es ist nur Ginseng und Kamille.... wie ich es dir als Kind oft zu trinken gegeben habe. Es hat dich immer ruhiger schlafen lassen.“

Eine kleine Weile des Schweigens schließt sich an meine Worte an. „Ich erinnere mich daran“, sagt Peter schließlich. Er nimmt die Tasse, riecht daran, leert sie schließlich in einem Zug und schneidet eine Grimasse. Dann blickt er mich über ihren Rand hinweg an. „Danke.“

Seine Worte, sein Gesicht verraten mir nichts über seine Gedanken. Ich stehe auf und nehme ihm die Tasse ab, stelle sie zurück auf den Tisch. „Soll ich dich... zudecken?“

Vielleicht ist er nur zu müde, um sich darüber zu beklagen, dass ich ihn wie ein Kind behandle, denn Peter nickt nur. Er streckt sich auf dem Futon aus, dreht sich auf die Seite, das Gesicht ins Kissen vergraben. Auf dem Regal liegt eine Decke, ich nehme sie, falte sie auseinander und breite sie über ihn. Peter rührt sich nicht, als ich mich über ihn beuge und ihn auf die Schläfe küsse. „Gute Nacht, mein Sohn.“ Die Tiefe seiner Erschöpfung zeigt sich daran, dass er nicht antwortet. Er kann es nicht. Peter ist bereits eingeschlafen.

* * *

Finger wie Stahlklammern pressen mir die Kehle zu. Ich verliere den Boden unter den Füßen, spüre wie ich in die Luft gehoben und gegen die Säule gepresst werde. Blut rauscht in meinen Ohren und vor meinen Augen verschwimmt für einen Moment alles. Ich schüttle den Kopf, um meinen Blick zu klären.

Von irgendwoher kommt Lo Sis Stimme. „Es ist nicht dein Sohn. Er hat nur Peters Gestalt angenommen.“

Der Griff ist unerbittlich. Ein höhnisches „Paps“ wird mir ins Gesicht geschleudert.

Ich öffne die Augen und starre in die Dunkelheit. Mein Herz rast und ich versuche vergeblich, es zu disziplinieren. Langsam entspanne ich meine zu Fäusten geballten Finger, spüre dumpfes Pochen in den Schnittwunden in meinen Handflächen. Es ist noch immer dunkel, ich habe nicht lange geschlafen, bevor der Alpträum begann. Oder die Erinnerung. Denn es ist beides.

Obwohl sämtliche Muskeln in meinem Körper protestieren, zwinge ich mich dazu, auf zu stehen. An der Tür zu dem Raum, in dem Peter schläft, bleibe ich stehen und lausche auf seinen Atem. Heute Nacht bleibt sein Schlaf von Alpträumen verschont...

Ende

 

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