"Peter!" Annie Blaisdell strahlte ihren Pflegesohn an und umarmte ihn. Wie so oft hatte sie die Türe bereits geöffnet, noch bevor Peter den Schlüssel aus der Tasche holen konnte. "Ich dachte schon, du hättest unsere Verabredung vergessen." "Mom, es tut mir leid das ich zu spät komme." Vorsichtig drückte Peter die zierliche, kleine Frau an sich. "Aber Paps und ich..." Er brach verlegen ab. Es war alles andere als einfach, plötzlich zwei Familien unter einen Hut bekommen zu müssen. Er betrachtete das ihm lächelnd zugewandte Gesicht und versuchte aus der Miene seiner Pflegemutter zu lesen, ob sie von ihm enttäuscht war. "Unsinn, natürlich bin ich nicht enttäuscht." Annie lachte, als sie sich das verblüffte Gesicht ihres Sohnes vorstellte und hakte sich bei ihm unter, um ihn ins Wohnzimmer zu führen. "Ich verstehe, dass du jetzt so oft wie möglich mit deinem Vater zusammen sein möchtest." Peter seufzte, als er auf dem Sofa Platz nahm. "Ich wüsste wirklich gerne, wie du das machst", meinte er. "Wieso wusstest du, dass ich es bin? Ich dachte nur mein Vater liest die Gedanken anderer Menschen." Geistesabwesend rieb er seinen Oberarm, wo ihn der Shuriken getroffen hatten, die glücklicherweise unbedeutende Wunde ein Mahner an die Ereignisse der vergangenen Tage. Annie lachte und setzte sich in ihren Lieblingssessel beim Kamin. "Peter, ich bin blind, nicht taub", erinnerte sie ihn liebevoll. "Außerdem ist dein neuer Wagen unüberhörbar." Eine leichte Röte erschien auf Peters Wangen. Vielleicht sollte er froh sein, dass sie den Sportwagen nicht sehen konnte, sonst würde sie sich nur um ihn Sorgen machen. Doch nach dem Überfall von Tans Leuten war sein altes Auto nur noch Schrott und der Stealth, der aus einer Versteigerung konfiszierter Wagen stammte, günstig gewesen. Außerdem kam er gut bei den Frauen an. Und seit mit Tyler Schluss war... Annie erzählte von Carolyns Flitterwochen und dem Einrichten des Hauses, in dem das neugebackene Ehepaar wohnte. Doch Peters eher einsilbige Antworten verrieten ihr, dass etwas anderes - oder besser gesagt jemand anderes - die Gedanken ihres Sohnes beschäftigte. Und zu erraten, wer dieser jemand war, erwies sich alles andere als schwierig. Sie schwieg einen Moment. "Möchtest du darüber sprechen?", fragte sie dann ruhig. Peter sah auf. "Mom?" "Dir geht doch etwas im Kopf herum." Sie klopfte auf die breite Armlehne ihres Sessels und Peter stand auf und setzte sich zu ihr, wie er es als schlaksiger Teenager getan hatte. "Und wenn ich mich nicht völlig irre, hat es etwas mit deinem Vater zu tun - mit deinem richtigen Vater." Peter beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen, dann legte er einen Arm um ihre Schulter. "Du bist wirklich unglaublich", sagte er. "Das weiß ich", entgegnete Annie lächelnd. "Dann habe ich also recht?" Sie fand seine Hand und drückte sie. "Erzähl' es mir. Geht es ihm gut? Paul hat mir erzählt, dass dieser Tan zurückgekommen ist und deinen Vater zu einem Kampf herausforderte." Der junge Cop seufzte. "Ja, Paps geht's gut. Denke ich. Es ist schwer bei ihm zu sagen, wie es ihm geht. Er spricht über so was nicht... ich meine, über seine Gefühle. Ich habe keine Ahnung, ob er erleichtert ist, dass es endlich vorbei ist. Oder ob..." Oder ob er sogar froh ist, dass Tan tot ist? Nein, das wohl nicht. Da war kein Triumph, keine Erleichterung - nur Scham im Gesicht seines Vaters gewesen, als er sich von Tans Leiche abwandte. "Peter, ich bin deinem Vater nur einmal begegnet", erwiderte Annie nachdenklich. "Aber ich glaube, dass er unsicher ist, wie er mit dir umgehen soll. Ihr wart so lange getrennt." Sie sah zu ihm auf. "Ich verstehe das sehr gut, weißt du. Als du zu uns gekommen bist, wussten wir auch nicht so recht, wie wir mit dir umgehen sollten. Was dich kränken oder sogar verletzen würde oder wie wir dein Vertrauen gewinnen konnten, war schwierig heraus zu finden. Es ist völlig normal, dass ihr euch fremd geworden seid, aber als er bei Carolyns Hochzeitsfeier über dich sprach, da war so viel Wärme und Liebe in seiner Stimme... Peter, du musst ihm - und dir - einfach mehr Zeit geben." Sie schwieg einen Moment. "Und was ist es sonst noch?" Sie spürte, wie Peter neben ihr überrascht zusammenzuckte. "Woher.... wieso... denkst du, dass da noch etwas ist?", fragte er nach einer Weile. "Ich kenne dich, Peter", erwiderte Annie schlicht. Als er aufstand und sich aus ihrem Griff löste, ließ sie ihn gehen. Innerliche Unruhe zwang Peter immer zu Bewegung. Sie hörte ihn vor dem Kamin auf und ab gehen und fasste sich in Geduld. "Ich... ich habe meinen Vater endlich dazu bekommen, mir etwas mehr über meine... meine leibliche Mutter zu erzählen. Und über die Zeit, als ich noch sehr klein war. Über ihren Tod will er immer noch nicht sprechen, aber... aber das verstehe ich. Ich weiß selbst nicht, ob ich darüber reden will." Peter fuhr sich durch die Haare und kehrte zu Annies Sessel zurück. Er stürzte sich mit beiden Händen auf der Rückenlehne ab. Annie griff nach oben und umfasste sein Handgelenk. Die Berührung wirkte beruhigend. Peter holte tief Luft. "Kurz nach dem Tod meiner Mutter wollte mein Vater mich weggeben", sagte er schließlich. "Weggeben?", wiederholte Annie. "Nein, Peter, das glaube ich nicht! Sicher hast du ihn falsch verstanden." "Er hat aber zumindest darüber nachgedacht!" Die alte Bitterkeit des verlassenen Kindes lag in Peters Stimme. "Nach dem Tod meiner Mutter wollten mich meine Großeltern zu sich nehmen. Sie dachten, mein Vater könne nicht richtig für mich sorgen. Und außerdem...", er zuckte mit den Schultern, "...sie waren wohl auch nicht besonders glücklich über die Wahl ihrer Tochter gewesen. Auf jeden Fall schalteten sie die Jugendfürsorge ein und wollten mich mitnehmen." Er drückte Annies Hand, setzte sich dann wieder auf das Sofa, ihr gegenüber. "Und mein Vater dachte tatsächlich darüber nach, ihnen nachzugeben!" Annie faltete die Hände in ihrem Schoss. "Aber er hat dich nicht weggegeben", erinnerte sie ihn. "Ich finde es sehr mutig von ihm, dass er dir das erzählt hat." Sie lächelte. "Denn so wie ich dich kenne, hast du ihm keine Gelegenheit zu einer Erklärung gegeben, nicht wahr?" Peter sah verlegen zu Boden. "Äh... nein", gestand er ein. "Ich... hätte ihm wohl zuhören sollen, oder?" "Ja, das hättest du", stimmte Annie ihm zu. "Peter..." Sie beugte sich vor. "Dein Vater hätte dich nicht weggegeben. Denk' nur an all die Jahre, die er nach dir gesucht hat. Aber ich glaube, dass er zu diesem Zeitpunkt vor zwei Alternativen stand: alleine für dich zu sorgen oder dich in die Obhut deiner Großeltern zu geben. Es ist nicht leicht, ein Kind alleine großzuziehen. Oder wenn man eine blinde Mutter ist", fügte sie nachdenklich hinzu. "Lass' mich dir etwas erzählen. Als Carolyn geboren wurde, stellte mir das Fürsorgeamt eine Pflegerin zur Seite, weil man mir nicht zutraute, für mein Kind zu sorgen. Außerdem kam regelmäßig jemand vorbei, um alles zu überprüfen. Für Paul war diese Regelung ganz in Ordnung, damals war er noch nicht bei der Polizei und kam oft wochen- oder monatelang nicht nach Hause. Aber mir gefiel diese Überwachung nicht. Also musste ich mir eine Alternative einfallen lassen. Und diese Alternative hieß Linda, eine junge Frau, die mir jeden Tag für ein paar Stunden im Haushalt zur Hand ging. Ich überredete Paul bei seinem nächsten Urlaub, sie anzustellen und konnte die Fürsorgestelle überzeugen, dass ich die Pflegerin nicht mehr brauchte. Auf diese Weise waren wir alle zufrieden gestellt und Linda kam weiter zu uns, sogar als Kelly alt genug war, um in die Schule zu gehen. Sie zog aus der Stadt weg, vielleicht zwei Jahre bevor du zu uns kamst." Sie schwieg kurz. "Dein Vater wollte das beste für dich, selbst wenn das bedeutet hätte, dich der Obhut deiner Großeltern zu überlassen. Und er fand eine dritte Möglichkeit." "Und entschied sich statt dessen, mit mir in den Shaolintempel zu ziehen", sagte Peter nach einer Weile. "Und hat es dir dort nicht gefallen?" "Doch... natürlich. Es war immer jemand da, egal ob zum Spielen oder... zum Sprechen. Ich hatte Freunde und das Lernen machte Spaß, auch wenn die vielen Regeln ziemlich nervten. Aber mein Vater war da. Es war... einfach mein Zuhause." Bei den letzten Worten sank Peters Stimme fast zu einem Flüstern. Er hob den Kopf. "Mom, bist du böse, wenn ich..." "...wenn du jetzt gleich zu deinem Vater gehst und dich mit ihm aussprichst?" Annie lächelte und streckte die Hand nach ihm aus. Als Peter aufstand und zu ihr trat, drückte sie seinen Arm. "Es ist schon in Ordnung, geh' nur. Ihr beide habt viel nachzuholen." Sie seufzte. "Und ich werde auch Paul erklären, warum du heute schon wieder nicht zum Familien-Abendessen da bist." Sie lachte, wusste das Peter jetzt eine schuldbewusste Miene zog. "Na geh' schon, er versteht es schon. Und vergiss' nicht, dass wir dich alle sehr lieben." Peter beugte sich zu ihr herunter und umarmte sie. "Danke", sagte er leise und küsste sie auf die Wange. "Du bist die beste Mutter, die man sich wünschen kann. Und sag Paul, ich hole mir meine Standpauke morgen früh im Revier ab." Er richtete sich auf und ein paar Augenblicke später hörte Annie die Haustür ins Schloss fallen, dann den Motor des Stealth aufbrausen. Kopfschüttelnd stand sie auf, um Peters Teller vom Esstisch zu räumen. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, Caine einmal zum Familienessen einzuladen. Es war doch wirklich an der Zeit, dass sie Peters Vater näher kennen lernten... Ende
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