Autor: Lady Charena
 

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It takes time
To heal the wound I've made along the way
If I'm blind
Open my eyes 'cause I need to see again
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„Ist es so besser, mein Sohn?“

Peter war uncharakteristisch still, während ich seinen Arm verbunden habe. Jetzt dreht er die Hand hin und her, bewegt ein paar Mal prüfend seine Finger, ballt sie zur Faust. Ich lasse ihn los, im gleichen Moment, als er seinen Arm zurückzieht. Die Wunde ist tief, doch das Messer verletzte glücklicherweise weder Knochen noch Sehnen. Ich hebe Peters Jacke auf, die er achtlos fallen ließ und berühre den Schnitt im Ärmel, entsetzt über die Größe der Blutflecken auf dem dunklen Stoff.

Ich wünschte... ich wünschte, Peter würde nicht so viele Risiken bei seiner Arbeit eingehen. 'Ich bin ein Polizist. Das ist, was ich mache. Das ist, was ich bin.’ Ah, er wird niemals erfahren, dass mir diese Worte den Atem stocken ließen. Ich hatte gehofft... doch wie töricht und selbstsüchtig mir diese Hoffnung nun vorkommt. Peter ist anders als ich. Für mich gab es nie einen anderen Weg, als Shaolin. Und obwohl Peter sein Erbe nicht verleugnen kann, ist er doch von dem Leben geprägt worden, das er während unserer Trennung führte. Es ist Paul Blaisdell gewesen, der ihn auf diesen Weg geführt hat und es fällt mir schwer, ihm dafür zu danken.

Ich war bei ihm im Krankenhaus, meine persönlichen Gefühle gegenüber diesem Mann spielen keine Rolle – besonders nicht, wenn die Schuld für seine Verletzungen bei mir zu suchen ist. Ich habe die Bedrohung durch die Chi’Ru unterschätzt, sie selbstgefällig für besiegt erklärt, nachdem Everett Cooper in Sicherheit war. Und dann die größte Sünde von allen – nicht da zu sein, als die Gefahr zurückkehrte. Getreu meinem Versprechen blieb ich in der Nähe – auch wenn mir jetzt bewusst ist, dass Peter es damals nicht hörte oder verstand, als ich mich von ihm verabschiedete. Doch ich war nicht nahe genug, um den Tod all dieser Menschen zu verhindern. Auch der Überfall auf Paul Blaisdell und meinen Sohn war bereits geschehen, als ich die Stadt erreichte. Es war Annie, die mir berichtete, dass Peter sehr großes Glück hatte, er erlitt nicht mehr als ein paar Prellungen und Schnittwunden als der Wagen sich überschlug. Paul dagegen wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und danach von dem Mann, dessen plötzliches Auftauchen auf der Fahrbahn das Ausweichmanöver notwendig gemacht hatte, angegriffen. Als Peter ihn erreichte, waren die Chi’Ru bereits wieder verschwunden, Schatten gleich. Und Annie war es auch, die mir von Peters Zusammenbruch am Bett seines Pflegevaters erzählte. Zum ersten Mal war ich dankbar für ihre Blindheit, die sie daran hinderte, meine Reaktion zu sehen...

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If I can feel again
Will you tell me now
Or wait til I'm broken down again
Save me now
I'm broken
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„Viel besser. Danke, Paps.“

Peters Stimme holt mich aus meinen Gedanken. Ich warte darauf, dass er mehr sagt – dass er mir erklärt, wie es dazu kommt, dass er um zwei Uhr morgens mit einer Stichwunde im rechten Arm in meiner Tür steht. Aber Peter schweigt. Statt dessen entfernt er sich von mir; geht zu der Plattform, auf der ich geschlafen hatte, als seine Unruhe mich erreichte. Ein Seufzen unterdrückend, trete ich hinter meinen Arbeitstisch und räume die Utensilien weg, die ich benutzt habe, um Peters Wunde zu reinigen. Es sind nicht viele. Die meisten Dinge aus meiner Apotheke im Kwoon befinden sich noch in Lo Sis Obhut. Es hatte sich rasch in der Gemeinde herumgesprochen, wo ich zu finden war – woran, wie ich vermute, Lo Si nicht ganz unbeteiligt ist – und die ersten meiner Patienten hatten sich bei mir eingefunden, darauf vertrauend, dass ich sie wie zuvor weiter behandle. Niemand stört sich daran, dass die Räume spärlich eingerichtet sind. Zumindest hatte ich einen Tag Zeit, den gröbsten Schmutz zu entfernen. Die Hartnäckigkeit, mit der die Farbspritzer auf dem Boden meinen Reinigungsversuchen trotzten, lässt mich darauf schließen, dass die abgebrochene Renovierung der Wohnung schon einige Zeit zurück liegt. Die vielen, ineinander verschachelten Räume bieten mehr Platz, als ich jemals zuvor bewohnt – oder gar benötigt – habe. Ich weiß nicht, wem das Gebäude gehört, doch es war Lo Si, der mir die Adresse nannte und sagte, ich könne die Räume nutzen, so lange ich es wünsche. Ich zog es vor, nicht zu fragen, wieso er sich so sicher war, dass ich bleiben würde. Vielleicht weiß er mehr über meine Zukunft, als ich wissen möchte.

„Du hältst nicht viel von Möbeln, was? Willst du ernsthaft darauf schlafen?“

Ich hebe den Kopf und sehe zu meinem Sohn hinüber. Peter ist es gelungen, aus der geflochtenen Matte, welche die Plattform bedeckt, einen Bambusstreifen zu ziehen. Gedankenverloren spielen seine Finger damit. Ich denke nicht, dass es Sinn macht ihm zu sagen, dass ich in meinem Leben oftmals unter weitaus unbequemeren Umständen geschlafen habe. Im Freien, bei Regen oder Schnee – solche Dinge spielen keine Rolle für mich. Und dieses Thema würde unsicheres Gelände zwischen uns berühren, die fünfzehn Jahre meiner Wanderschaft. Ich weiß, dass mein Sohn viele Fragen hat, die diese Jahre betreffen und ihm meine bisherigen Antworten nicht genügen. Er versteht nicht, dass es leere, bedeutungslose Jahre waren, in denen ich mich in meinem Schmerz blind treiben ließ; anderen Menschen begegnete, nur um sie irgendwann wieder zu verlassen ohne ein Teil ihres Lebens geworden zu sein. Ich hatte meinen Weg verloren, weil mir meine eigene Existenz gleichgültig geworden war. Die Suche nach dem Thronfolger und die Hoffnung darauf, die Ehre meiner Familie wiederherstellen zu können – es war eine Bürde, die auf meinen Schultern lag, weitergegeben von meinem Vater an mich. Etwas das ich tun musste, damit – wenn mit meinem Tod der Name unserer Familie erlöschen würde – man sich zumindest ehrenvoll an uns erinnern konnte. Es gab nichts anderes, das ich der Welt hätte hinterlassen können.

Ungeduldig dreht Peter sich zu mir um. „Jetzt frag’ schon!“ Sein Ton enthüllt die Wut, die ich schon die ganze Zeit in ihm spüre.

„Was möchtest du, dass ich frage?“ Bewusst halte ich meine Stimme ruhig – obwohl ihn das unbegreiflicherweise noch mehr zu verärgern scheint.

„Na, was passiert ist. Warum ich mitten in der Nacht hier auftauche, damit du mich verbindest. Wenigstens das muss dich doch interessieren!“

Meinen Blick auf den nun makellosen Arbeitstisch gerichtet, zucke ich mit den Schultern. „Es ist an dir, zu entscheiden, ob und wann du mir davon berichtest, wie du verletzt wurdest. Für die... Behandlung... deiner Wunde ist es... bedeutungslos.“

„Natürlich... du musst ja an so was gewöhnt sein. Mein Vater, der große Heiler.“ Sein Ton ist ätzend. „Komm’ nach Chinatown, frag nach Caine – er wird dir helfen.“

Ich sehe auf und beobachte, wie er mit wütenden, fahrigen Bewegungen sein Hemd überstreift und sich nach seiner Jacke umsieht. Sie liegt neben mir auf dem Tisch. Um sie zu holen, muss er zu mir kommen. Peter zögert. Er hebt die Hand, fährt sich damit durch sein Haar, das in meiner Abwesenheit länger geworden ist. Es ist nicht die einzige körperliche Veränderung, die mir auffällt. Peter ist dünner geworden, seine Bewegungen, seine Gesten sind von einer unterschwelligen Nervosität gekennzeichnet. Und er ist nicht in der Lage, mir in die Augen zu sehen. Ich warte.

„Ich... ich habe Kelly nach Hause gebracht, das war alles. Es hatte nichts mit meiner Arbeit zu tun, okay? Kelly übernachtet nicht besonders gerne in einer Wohnung, in der man sie überfallen, betäubt und entführt hat. Das Auftauchen mysteriöser Schattenmörder bekommt einer Beziehung nämlich nicht so gut. Nicht, dass du davon eine Ahnung hättest.“ Er seufzt und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich habe sie nach Hause gefahren und in ihre Wohnung begleitet und als ich wieder in mein Auto steigen wollte, tauchte ein Typ mit einem Messer auf. Vielleicht wollte er den Wagen klauen, vielleicht war er einfach nur scharf auf meine Brieftasche. Die Straßen sind voll von Junkies.“ Vorsichtig berührt er die bandagierte Stelle. „Ich hatte meine Waffe nicht dabei, sonst...“ Er bricht ab. Vielleicht aus Furcht vor meiner Reaktion – vielleicht aber auch, weil er sich mit diesem Gedanken selbst schockiert hat.

Es ist nicht leicht, darauf zu antworten. Und es ist fast unmöglich, Peter eine Antwort zu geben, die er nicht als Kritik auffassen wird. Ich kann seine Vorwürfe nicht vergessen, nicht wie er zu mir sagte, er könne mein Urteil über ihn, über das, was er tut, in meinen Augen lesen.

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If I bleed
My lies won't fill the emptiness inside
I just need
For something real to open up my mind
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Aber mein Schweigen dauert zu lange für meinen ungeduldigen Sohn. Und wie so oft zuvor, interpretiert er es falsch.

„Du... du verstehst das einfach nicht, Vater. Ich bin Polizist. Ich... ich brauche eine Waffe.“

Dieser Gedanke erfüllt mich mit Trauer. Als Kind habe ich ihn gelehrt, dass er vor allem Mitgefühl braucht im Umgang mit seinen Mitmenschen. Aber glaube ich selbst noch daran? Es ist meine Pflicht, für die zu sorgen, die meine Hilfe suchen, ebenso für die, die sie nicht wollen oder nicht darum bitten können. Eine Pflicht, die ich erfülle. Ein Shaolin dient allen Menschen, ohne Ansehen der Person, ohne zu urteilen – ohne Rücksicht auf persönliche Belange und sogar im Angesicht von Beeinträchtigungen der eigenen Person. Mein Leben lang habe ich mich an diese Grundsätze gehalten. Ich habe gegeben, was ich konnte, jedem der darum bat. Warum kann ich Peter nicht geben, was er braucht? Seit er wieder bei mir ist, habe ich seine Bedürfnisse über die aller anderen gestellt – seine Ängste, seinen Schmerz, seine Freude, seine Sehnsüchte... alles war mir wichtiger, als die Gefühle jeder anderen Person, einschließlich meiner selbst.

„Du brauchst keine Waffe, Peter. Alles was du brauchst im Umgang mit anderen... ist in dir.“

Spott zeigt sich in seinem Gesicht. „Richtig, Vater. Ich werde das beim nächsten Mal sicher berücksichtigen, wenn mir wieder mal ein Junkie ein Loch in den Bauch schießt.“

Ich weiß nicht, was heftiger schmerzt – seine Respektlosigkeit oder die Erinnerung, die seine bitteren Worte heraufbeschwören. Es ist noch nicht so lange her, dass ich in einem Krankenzimmer stand und nicht wusste, ob mein Sohn seine Schussverletzungen überleben würde. Blindlings greife ich nach der Tischkante um Halt an der Realität zu finden, schiebe die Qual dieser ungewissen Stunden von mir, verbanne sie in die Tiefen meines Bewusstseins, aus dem sie gekommen ist.

Etwas davon muss sich in meinem Gesicht gezeigt haben, denn als ich die Augen öffne, steht Peter dicht bei mir. Er zögert, berührt dann meinen Arm. Sein Blick ist weit und verletzlich, eher voll Schreck als Wut, wie noch Momente zuvor. „Es tut mir leid, das wollte ich nicht. Ich wollte nicht... verdammt, Paps...“

Er blickt weg von mir, auf meine Hände. Ich folge seinen Augen und lockere meinen Klammergriff um die Tischkante, falte meine Finger. Vor allem, um mich zurück zu halten, ihn zu berühren, wie ich es in der Vergangenheit getan habe, um seine Verwirrung zu lindern. Es ist ein seltsamer Gedanke, das eigene Kind so fremd zu sehen.

Peter zieht seine Hand zurück. „Es ist spät, ich sollte gehen und dich in Ruhe lassen.“ Aber er bleibt neben mir stehen.

„Peter... warum bist du Polizist geworden?“ Die Frage ist über meine Lippen, bevor ich mir dessen ganz bewusst bin. Ich dachte bisher, ich kenne die Antwort darauf – weil Peter schon immer so war, weil es immer sein heftigster Wunsch war, die zu schützen, die sich nicht selbst schützen konnten. Aber was ich wirklich fragen möchte, ist – bist du Polizist geworden, weil Paul dir ein besserer Vater gewesen ist als ich es war? Weil du in seine Fußstapfen treten wolltest?

Ich wage nicht, ihn anzusehen, aber sein Schweigen sagt mir, dass ich ihn überrascht habe.

„Ummm... ich... das ist nicht einfach so zu beantworten.“ Peter greift nach seiner Jacke, spielt damit, legt sie zurück, als wäre er bei etwas Unrechtem ertappt worden. „Ich glaube, es war das nächste, das ich mir vorstellen konnte, das... das was am nächsten kam, Shaolin zu sein. Ich wusste, dass ich niemals Shaolin sein werde, schon lange vor der Zerstörung des Tempels. Du hast immer versucht, mir klar zu machen, was es bedeutet, ein Caine zu sein. Aber du hast nie verstanden, wie sehr mir das Angst machte, ich würde niemals deine Erwartungen erfüllen können. Und genau das habe ich ja auch nicht getan. Ich war niemals gut genug. Du hast nichts gesagt, aber ich hörte es bei anderen. Einmal... einmal sagte einer der Lehrer zu mir, dass... dass für den Sohn von Kwai Chang Caine auch das allergrößte Bemühen zu wenig sei. Das habe ich nie vergessen. Und da warst du, als überlebensgroßes Vorbild...“

Er schweigt einen Moment, bewegt sich unruhig neben mir. Seine Schulter streift meine – und er weicht zurück, als habe er sich an mir verbrannt.

„Als ich im Waisenhaus war, suchte ich nach jemand, der mir sagen konnte, was ich jetzt tun solle. Es war, als wäre ich in einer fremden Welt gelandet, deren Spielregeln ich nicht kannte. Ich war anders als die Kinder dort – und es hatte nichts damit zu tun, dass ich keine Haare hatte. Da war nur niemand. Ich... ich musste mich anpassen, ich musste vergessen, was du mir beigebracht hattest, damit ich in dieser neuen Welt irgendwie überleben konnte.“

Es fällt mir schwer, seine Worte anzuhören. Mein Herz will bluten für die Schmerzen, durch die er gehen musste – wegen eines racheblinden Mannes... und wegen meines Stolzes, für den ich den ultimativen Preis bezahlen musste.

„Als Paul nach PineRidge kam, da war es mir völlig egal, dass er Polizist war. Als er mir vorschlug, bei seiner Familie zu leben... ich war fünfzehn, es klang besser, als im Waisenhaus zu bleiben, bis ich volljährig war. Paul schien in Ordnung zu sein und Annie... sie hat mich von Anfang an wie ihr eigenes Kind behandelt. Auf jeden Fall war es nicht so, dass Paul irgendwie versuchte, mich zu beeinflussen. Er erzählte nie besonders viel von seiner Arbeit, aber das hat mich nur neugieriger gemacht. Ich dachte, Polizist zu sein wäre ein Weg, den Menschen zu helfen, so wie du den Menschen geholfen hattest. Ich wollte... ich wollte so sein wie du, zumindest soweit ich das konnte. Um irgendeinen Sinn darin zu finden, warum ich das Feuer überlebt hatte, und du nicht.“

Endlich drehe ich den Kopf, sehe ihn an, versuche in seinen Zügen zu lesen. Es ist nicht allein das matte Licht der wenigen, weit verstreuten Kerzen, das es mir schwer macht. Peter hat sich von mir zurückgezogen. Ich strecke die Hand nach ihm aus, streife mit den Fingerspitzen den Verband, dessen Umrisse unter dem dünnen Stoff seines Hemdes deutlich zu erkennen sind.

„So etwas passiert, Paps. Ich hatte Glück.“

„Ja“, erwidere ich leise. Aber wie oft wird dieses Glück anhalten?

„Ich hatte Glück, weil ich damit zu meinem Vater kommen konnte.“

Peter lächelt, zuckt mit den Schultern. Er weiß nicht, wie falsch seine Worte sind – und wie rein seine Absicht dahinter. Also erwidere ich sein Lächeln. Vielleicht nur aus Angst, ihn zu enttäuschen. Peter hat davon gesprochen, dass er glaubt, meine Erwartungen nicht erfüllen zu können. Doch wie kann ich ihn verstehen machen, dass er sich irrt, dass er mir so viel mehr gegeben hat, als ich jemals hätte erwarten können? Oder wie soll ich zu ihm von der Angst sprechen, die ich seit dem Moment hege, als ihn mir seine Mutter zum ersten Mal in die Arme legte? Der Angst, als Vater zu versagen, ihn zu enttäuschen, nicht für ihn da zu sein wenn er mich brauche, wie ich mich von meinem Vater im Stich gelassen gefühlt hatte?

„Warum bist du weggegangen?“ Seine Stimme ist so leise, dass ich ihn fast nicht verstehe. „Es war doch alles... in Ordnung. Ich dachte... du hättest akzeptiert, dass ich anders bin als du, dass ich mein Leben nach anderen Regeln lebe – oder dich zumindest daran gewöhnt. Nach der Sache mit Jake... nachdem ich endlich über die Eifersucht weg war, dachte ich, du würdest dich darüber freuen, dass ich wieder dein Schüler bin, zumindest was Kung Fu angeht. Es gab doch Momente, in denen wir uns so nahe waren, wie früher – vielleicht sogar näher. Das habe ich mir doch nicht alles nur eingebildet, weil ich es mir so sehr wünschte.“

„Nein. Wir sind uns näher gekommen.“ Ich versuche seinem Blick stand zu halten, aber es fällt mir unerwartet schwer. Was er von mir wissen will... wie soll ich ihm etwas erklären, dass ich selbst kaum begreife?

„Warum bist du dann weggegangen? Warum diese sechs Monate irgendwo, anstatt bei mir? Und du wärst vermutlicht jetzt noch nicht einmal hier, wenn nicht die Chi’Ru in der Stadt aufgetaucht wären.“

Ich...

„Was habe ich falsch gemacht?“

Ich weiß nicht, wie...

„Verdammt, Paps – sprich mit mir!“ Seine Hände umschließen meine Oberarme, drehen mich ihm zu, so dass wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen.

„Du hast nichts falsch gemacht, Peter.“ Selbst in meinen Ohren klingt meine Stimme fremd und rau. „Der Fehler liegt bei mir.“

Langsam lässt er mich los. „Welcher Fehler?“, fragt Peter verwirrt. „Du machst nie Fehler.“

Ich schüttele den Kopf. „Als ich dich wiedergefunden hatte... ich ignorierte die Tatsache, dass du ein eigenes Leben hattest, eine neue Familie, Freunde, Kollegen – Menschen, die dich lieben, sich um dich sorgen, dich schätzen – die einen Platz in deinem Herzen haben. Es war einfacher so... einfacher, als zu denken, du... du würdest mich nicht mehr brauchen. Ich war für dich nicht mehr als eine Erinnerung, die Erinnerung eines Kindes. Du wolltest, dass ich wieder der Vater aus deiner Kindheit war. Aber das konnte ich nicht mehr sein. Ich bin nicht mehr der selbe Mann wie damals, Peter. Dieser Mann ist im Feuer des Tempels gestorben.“

Für einen Augenblick kehre ich an diesen Ort, in diesen Moment zurück – spüre die Flammen, die nach mir lecken, die Hitze, werde fast vom Raum erstickt, während ich panisch in den Trümmern nach meinem Kind suche... Dann dränge ich die Erinnerung zurück. Nur mein Herz rast weiter und wie damals füllt die Bitterkeit des Versagens meinen Mund.

„Also gab ich mich mit dem Platz zufrieden, den du mir in deinem Leben zugewiesen hast. Ich versuchte, wieder dein Vater zu sein. Aber wenn ich dir helfen wollte, wenn ich dich schützen wollte, empfandest du es als Gängelei – du fühltest dich eingeengt und wurdest wütend. Aber das ist der einzige Weg, den ich sah, für dich da zu sein – dir nahe zu sein. Doch offenbar brauchtest du diese Art von Vater nicht. Ich versuchte mich zu ändern. Wenn ich schon nicht dein Vater sein konnte, so wollte ich zumindest wieder dein Lehrer sein. Aber du wolltest meinen Rat nicht, meine Lehren. Wieder fühltest du dich überwacht und eingeschränkt und alles, was ich tat oder sagte, empfandest du als Kritik an deinem Lebensstil.“

Ich hole tief Luft. „Offensichtlich war in deinem Leben kein Platz mehr für mich. Du brauchtest mich nicht mehr. Aber ich konnte auch nicht einfach gehen. Nicht, nachdem ich erfahren hatte, dass Sing Ling hier lebt, das es eine Möglichkeit geben würde, den Namen unserer Familie reinzuwaschen. Es war das einzige, was ich dir geben konnte. Dein Erbe. Deine Herkunft. Eine Familie. Wurzeln. Das war es, was du als Kind am meisten wolltest und das, was ich dir damals nicht geben konnte. Es war... wie ich dachte... die einzige Verpflichtung, die ich dir gegenüber noch hatte. Und nachdem ich sie erfüllt hätte, wäre ich frei zu gehen, und dich deiner Familie und deinem Leben zu überlassen.“

Als ich die Hand an seine Wange lege, zuckt er nicht zurück – wie damals, als ich ging. Er wird niemals wissen, wie diese instinktive Geste mich verletzte... Ich zwinge mich dazu, weiter zu sprechen. „Dann geschah alles so schnell. Ich wurde als Sing Lings Beschützer akzeptiert, genau wie du. Wir konnten die Attentäter aufhalten, David Chows Verrat aufklären und Cheryl auf der Thronfeier davon abhalten, Sing Ling zu töten. Ich... nein, wir hatten erreicht, dass die Schande von unserem Familiennamen genommen wurde. Ich war frei. Es war eine so... qualvolle Freiheit, ich wollte sie nicht. Aber ich sah noch immer keine andere Möglichkeit, als zu gehen. Zumindest konnte ich dieses Mal die Gewissheit mitnehmen, dass du... nicht länger ein unmöglicher Traum warst.“

„Das... das wusste ich nicht.“

Peters Verwirrung ist fast mit Händen greifbar. Aber ich kann auch spüren, dass seine Wut sich gelegt hat und die Erleichterung, die ich empfinde, lässt mich fast schwindlig werden. Aber was wird nun?

Peter löst sich von mir, geht ein paar Schritte weg. In der Mitte des Raumes bleibt er stehen, dreht sich zu mir um. „Du hast gesagt, es war ein Fehler. Dann weißt du jetzt also, dass du dich geirrt hast? Dass ich dich brauche? Dass ich dich brauche, vielleicht noch viel mehr, als ich das als Kind getan habe?“

„Ja, Peter.“ Ich zögere, unsicher ob ich ihm folgen soll. Dann fällt mein Blick auf seine Jacke und ich habe einen Vorwand, um zu ihm zu gehen. Ich gehe zu ihm, lege ihm die Jacke über die Schultern, verweile, streiche den Kragen glatt. „Ich wusste es schon, bevor ich zurückgekommen bin.“

Ungläubigkeit scheint in seinen Augen. „Und trotzdem wärst du nicht gekommen, wenn nicht die Chi’Ru aufgetaucht wären?“

„Peter... es ist ein großer Unterschied zwischen Wissen und Handeln. Und abgesehen von der Beziehung zwischen uns beiden... ich weiß noch immer nicht, wo mein Platz ist.“ Ich habe vielleicht vergessen, was es bedeutet, an einem Ort Zuhause zu sein. Vielleicht war ich zu lange unterwegs. „Mein Herz und meine Sinne haben ihre Mitte verloren.“

„Ich will, dass dein Platz hier ist. Bei mir. Du hast von meiner Familie gesprochen, von meinen Freunden. Aber niemand konnte dich jemals ersetzen. Du bist mein Vater. Ich brauche dich, um ganz zu sein.“

Ich lasse meine Hände auf seine Schultern gleiten. „Peter...“

„Du hast mir versprochen, dass ich nie mehr allein sein werde. War das eine Lüge? Etwas, um mich ruhig zu stellen?“

„Nein, Peter.“ Ich halte ihn fest, als er sich von mir abwenden will. „Hör’ mir zu. Ich habe dich nicht belogen. Du bist nicht allein. Für mich bist du das Licht. Du hast meinem Leben Sinn und Ziel geschenkt. Du bist ein Teil von mir. Auf ewig.“

Er schüttelt meine Hände ab. „Ich hoffe, du erinnerst dich daran, wenn du das nächste Mal daran denkst, zu gehen.“ Peters Wut ist zurück. „Ich muss gehen.“ Er lässt mich stehen und öffnet die Fenstertüren zum Balkon. „Ich... ich komm’ wieder vorbei.“ Damit verschwindet er in die Nacht.

Ich bin allein. Ruhe kehrt zurück in meine Räume, nicht jedoch in mein Herz. Vielleicht gibt es noch eine Chance für uns.

Ende

 

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