„Hey, bro’ – gehen wir noch ins ‚Silver Dollar’? Oder willst du den ganzen Tag hier herumsitzen und deine ausgefallenen Haare nachzählen? Man, du bist eitler als ne ganze Schar Puppen.“ Tommy Wong flegelte sich in einen der abgewetzten Sessel in der Junggesellenbude seines Bruders. Seit Jack verheiratet war, versuchte Tommy, ihn dazu zu überreden, sie ihm zu überlassen, doch der Ältere blieb stur. Ein Mann brauchte schließlich seinen Freiraum – vor allem ein verheirateter Mann.
„Halt` die Klappe, Tommy. Wenn du mir noch lange auf die Nerven gehst, erzähle ich TK von deinen Lieblingsklamotten – dem Pyjama mit den Pinguinen drauf und das du ihn am liebsten trägst, wenn du mit deinen Lego-Steinen spielst.“
Tommy sprang wütend auf. „Das habe ich gemacht, als ich sieben war! Wage es nur nicht, auch nur ein Wort zu diesem kleinen Idioten TK zu sagen!!“
Jack stand ebenfalls auf und die beiden Brüder starrten einander wütend an. Der Ältere war sich durchaus bewusst, dass Tommy versuchte, ihn zu provozieren. Jacks Geschäfte waren in letzter Zeit nicht so gut gelaufen, und der Tong war alles andere als geduldig. Tommy war der Ansicht, dass es an der Zeit war, dass er auf Jacks Platz nachrückte.
Eine Bewegung beim Fenster lenkte Jack jedoch ab, bevor der Geschwisterstreit zu einer Prügelei ausarten konnte. Er zog seine Waffe. Einer der Fensterflügel war offen und auf dem Fensterbrett saßen zwei Federviecher.
Tommy drehte sich neugierig um. „Was ist los? Hey, sind das aber fette Tauben. So große habe ich noch nie gesehen!“
„Das sind Hühner!“ Jack wich langsam vom Fenster weg. „Pass’ auf, die sind gefährlich.“
„Gefährlich?“ Tommy starrte seinen Bruder an und fragte sich, ob der den Verstand verloren hatte.
Aber Tommy hatte ja auch keine Ahnung, dass Jack mit vier Jahren (und daher lange vor der Geburt seines Bruders) mal von einem älteren Jungen in einen Drahtverschlag im Keller eines kleinen Imbisses gesteckt worden war. Er war fast zwei Stunden lang von den verängstigten und aggressiven Tieren mit Schnäbeln und Krallen traktiert worden, bis schließlich jemand den mit Blut und Hühnermist bedeckten, heulenden Jungen fand, der sich am Draht die Finger aufgerissen und in die Hosen gemacht hatte.
Wie zum Teufel kamen diese Viecher mitten in die Stadt? In den dritten Stock!!!
Eines der beiden Hühner richtete sich ein wenig auf und schüttelte seine Federn.
Jack schoss auf es und Federn stoben auf. Ebenso die beiden Hühner, die laut gackernd die Flucht ergriffen. Getroffen hatte Jack allerdings keines der Tiere, sondern ein großes Sitzkissen mit Daunenfüllung, das unterhalb des Fensters gelegen hatte. Er stürzte zum Fenster und schwang sich hinaus auf die Feuerleiter. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bewegte sich etwas Weißes und Jack schoss erneut.
Der Schuss krachte und – prallte an einer Eisenstange des Balkons auf der anderen Seite ab. Der Querschläger kam zurück wie ein Bumerang und traf Jack ins Bein. Er heulte vor Wut und Schmerz auf und sackte auf der Feuerleiter zusammen.
Der Kopfkissenbezug, den er irrtümlich für ein Huhn gehalten hatte, flatterte weiter unschuldig im Wind...
* * *
Eine vorbeigehende Schwester drückte Doktor Sabourin noch einen Stapel Krankenberichte in die Hand, die sie abzeichnen musste. Die Stationsärztin seufzte. Als sie studierte hatte ihr niemand gesagt, dass sie so viel Zeit mit Bürokratie verbringen würde. Sie verlagerte den Stapel auf einen Arm, um auf die Armbanduhr an ihrem anderen Handgelenk zu sehen. In diesem Moment rempelte sie jemand an. Die Ärztin, die nicht darauf gefasst gewesen war, verlor fast das Gleichgewicht. Zwar blieb sie auf den Beinen, doch die Mappen mit den Berichten entglitten ihr und ein wilder Blätterwirbel ging um sie herum auf den Krankenhausflur nieder. Einen ziemlich hässlichen Fluch vor sich hinmurmelnd bückte sie sich nach den Unterlagen. „Au!“ Durch die verspannten Muskeln in Schultern und Nacken schoss scharfer Schmerz. Sie drehte den Kopf und der Schmerz ließ Tränen in ihre Augen schießen. Verdammt, tat das weh!
„Vielleicht sollten Sie mein Angebot annehmen, Doktor Sabourin.“
Sie sah auf und blinzelte die Feuchtigkeit weg. „Caine!“ Die Ärztin versuchte sich an einem Lächeln. „Ich schätze, ich bin nicht in der Lage, Ihnen zu wiedersprechen. Aber Sie sehen ja, was hier los ist. Mir bleibt einfach keine Zeit.“
Der Priester half ihr, sich aufzurichten. „Die Anfängerklasse beginnt jeden Dienstag um 19.00 Uhr.“ Er legte eine Hand unter das Kinn der Ärztin und bewegte sanft ihren Kopf zur Seite. Seine andere Hand manipulierte geschickt die verspannten Muskeln im Nacken.
Dr. Sabourin stöhnte leise auf, als der Schmerz intensiver wurde – und dann langsam abebbte. Sie bewegte vorsichtig die Schultern. „Caine, Sie haben magische Hände“, sagte sie verblüfft. „Ich dachte schon, ich müsste mir von einem Kollegen ein Schmerzmittel verordnen lassen.“
Caine lächelte und zuckte auf die für ihn typische Art mit den Schultern. „Es ist eine einfache Technik. Es wäre mir eine Ehre, Sie darin zu unterrichten, aber es ist keine dauerhafte Lösung.“ Er begann die verstreuten Unterlagen aufzusammeln.
Dr. Sabourin stoppte Caine, winkte einen Pfleger herbei und trug ihm auf, sich um das Papierchaos zu kümmern. Dann führte sie den Priester ein Stück den Flur entlang. „Vielleicht können wir uns arrangieren. Sie zeigen mir, was Sie gegen meine Verspannungen gemacht haben – und ich versuche jeden Dienstag zu Ihrem Tai’Chi-Kurs zu kommen.“
Caine neigte zustimmend den Kopf. „Ich freue mich über Ihren Entschluss.“ Dann verschwand das leichte Lächeln von seinen Lippen. „Aber das ist nicht der Grund, weshalb Sie mich gebeten haben, vorbei zu kommen.“
Die Ärztin schüttelte den Kopf und seufzte leise. „Das stimmt. Es geht um Melissa Wang. Sie haben sicher bereits gehört, dass ihre Eltern einen Autounfall hatten. Sie wurden sehr schwer verletzt. Melissa ist dagegen nur leicht verletzt, sie befand sich auf dem Rücksitz, aber sie hat einen Schock erlitten. Ihre Tante sagte mir, dass Sie die Familie gut kennen?“
„Melissa und ihre Schwester haben im letzten Sommer eine meiner Kung-Fu-Klassen besucht.“
„Es wäre wundervoll, wenn Sie ein wenig mit dem Mädchen sprechen würden.“ Dr. Sabourin zuckte mit den Schultern. „Sie sehen ja, was hier los ist. Außer der Tante leben keine weiteren Verwandten hier in der Stadt – und sie muss sich um Melissas Schwester kümmern.“
„Ich wäre auf jeden Fall gekommen, um nach ihr zu sehen.“ Caine blickte die Ärztin an.
Dr. Sabourin wirkte erleichtert. „Das ist wunderbar“, entgegnete sie herzlich. „Ich bringe Sie gleich zu ihr. Oh, und Caine – Ihr Tee hat meiner Freundin ausgezeichnet geholfen.“ Sie zwinkerte ihn an. „Ich habe den Eindruck, sie wird in Zukunft auf meine Behandlung verzichten und gleich zu Ihnen gehen. Ich hoffe, Sie mögen italienisches Essen, sie möchte Sie unbedingt einladen.“ Sie traten in einen angrenzenden Flur, in dem es noch hektischer zuging. „Sie hat einen wundervollen, kleinen Kräutergarten und auf ihrem Balkon wächst das beste Basilikum, das man außerhalb Italiens find...“
„Dr. Sabourin!“ Eine Schwester unterbrach sie. „Dr. Hammel braucht Sie in der Notaufnahme.“
Die Ärztin wandte sich mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen Resignation und Enttäuschung schwankte, dem Priester zu. „Es tut mir leid. Ich werde jemand herschicken, der Sie zu Melissa bringt.“
In diesem Moment rollten Sanitäter eine Bahre mit einem Neuankömmling auf sie zu. Dr. Sabourin und Caine drehten sich gleichzeitig um.
„Peter?“ Überrascht erblickte der Priester hinter den Sanitätern seinen Sohn.
Der Polizist sah im gleichen Moment seinen Vater und kam auf sie zu. Er grinste. „Hallo, Paps. Hallo Dr. Sabourin. Keine Sorge, ich bin nicht der Patient.”
„Das sind erfreuliche Neuigkeiten, Peter.“ Die Ärztin nickte und eilte den Sanitätern in die Notaufnahme nach.
Caine strich über die zerknitterte Jacke seines Sohnes. „Bist du unverletzt? Was ist passiert?“, fragte er.
Peters Grinsen wurde noch ein wenig breiter. „Jack Wong hat es fertig gebracht, sich selbst ins Bein zu schießen. Laut seinem Bruder hat er angeblich auf zwei Vögel gezielt. Ich war gerade in der Nähe, als die Meldung reinkam. Stell dir nur mal vor, Jack prahlt doch so gerne mit seiner Zielfertigkeit...“
* * *
Dr. Sabourin betrachtete kritisch den neuen Patienten, dann wies sie eine der Schwestern an, ein paar von den Federn, die sich an der Kleidung des Verletzten befanden, als Beweis zu sichern.
Jack stöhnte und schlug die Augen auf.
„Keine Sorge.“ Dr. Sabourin beugte sich über ihn. „Ihr Bein kommt wieder in Ordnung.“
„Mein Bein?“ Jack versuchte sich aufzurappeln, doch die beiden Sanitäter drückten ihn zurück. Er sah sich hektisch um. „Halten Sie mir diese Biester vom Leib!!“
„Was für Biester?“ Dr. Sabourin runzelte die Stirn. Ein hysterischer Patient, das fehlte ihr heute gerade noch.
„Na diese... diese Hühner!! Ich hasse die Viecher.“
„In meiner Notaufnahme gibt es keine Tiere.“ Die Ärztin wandte sich an einen der Pfleger. „Veranlassen Sie einen Bluttest“, wies sie ihn leise an. „Egal ob er betrunken ist oder auf Drogen – ich will es wissen.“ Kopfschüttelnd machte sie sich daran, die Wunde zu untersuchen. Manche Tage sollte man ganz einfach aus dem Kalender streichen... Ende
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