Autor: Lady Charena
 

Es ist Kinderlachen, das mich aus meinen Gedanken holt und in die Gegenwart zurückbringt. Aus dem Haus, an dem ich gerade vorbeigehe, kommt eine lärmende und fröhliche Kinderschar in den Garten geströmt.

Ich bleibe stehen und beobachte sie.

In dem Garten ist offensichtlich alles für eine Feier vorbereitet. Unterschiedliche Tische stehen dicht nebeneinander und viele Stühle bereit. Die Tische sind mit farbenfrohem Geschirr geschmückt und an einem Baum in der Nähe hängt ein Schild mit der Aufschrift „Justin wird heute 10!“. Eine Traube bunter Luftballons umrahmt es. Ein Kindergeburtstag.

Niemand beachtet mich, die wenigen Erwachsenen sind damit beschäftigt, eine große Torte mit brennenden Kerzen und andere Leckereien zu den Tischen zu bringen.

Endlich haben alle Platz genommen. Auf einem mit einer bunten Girlande geschmückten Stuhl am Kopfende des ersten Tisches sitzt das Geburtstagskind. Es ist ein pausbackiger Junge mit einem Cowboyhut auf dem Kopf. Er springt auf und klatscht jubelnd in die Hände, als die Torte vor ihm abgestellt wird. Seine Freunde singen ein Geburtstagslied für ihn, während er die Kerzen auspustet. Dann beginnt eine Frau, vermutlich seine Mutter, die Torte an die Kinder zu verteilen.

Die Erinnerung an Peter, bitter-süß jetzt da er wieder ein Teil meines Lebens ist, kommt zu mir zurück. Peters 10. Geburtstag begann wie viele andere Tage in dieser stürmischen Zeit mit einer Meinungsverschiedenheit zwischen mir und meinem Sohn...

* - * - * - * - flashback - * - * - * - *

Peter kam mit hoffnungsvollem Gesicht auf mich zu. „Vater, darf ich heute mit Dennis in die Stadt gehen?“

Ich bedeutete ihm, sich neben mich zu setzen, doch Peter blieb vor mir stehen, ungeduldig auf den Fußballen auf- und abwippend. „Nein, Peter. Es ist besser, wenn du das nicht tust. Auch Dennis hat keine Erlaubnis.“ Die Enttäuschung auf dem Gesicht meines Sohnes schmerzte mich mehr, als er wissen konnte. Doch ebenso wusste Peter, dass es allen Kindern verboten war, in die Stadt zu gehen, wenn kein Erwachsener dabei war.

„Bitte, Vater. Einer der Jungs aus der Stadt hat uns zu sich eingeladen. Kevin. Er hat eine Spielzeug-Rennbahn und gesagt, wir dürfen auch einmal damit spielen. Er ist nett zu uns, nicht so wie die anderen. Und außerdem... außerdem ist es doch heute mein Geburtstag!“

„Das habe ich nicht vergessen. Aber es ändert nichts an meiner Entscheidung. Du und Dennis seid zu jung, um alleine nach Braniff zu gehen. Bitte erinnere dich daran, was Ping Hai passiert ist.“ Ich stand auf und trat zu meinem Sohn, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen. „Ich verspreche dir, dass ich mir heute Nachmittag Zeit für dich nehmen werde. Für dich ganz alleine. Warum nutzt du nicht die unterrichtsfreien Stunden bis dahin, um mit deinen Freunden zu spielen?“

Peter machte sich von mir los. „Kevin ist auch mein Freund. Er ist genauso alt wie ich und er ist die ganze Zeit alleine in Braniff unterwegs!“

Ich unterdrückte ein resigniertes Seufzen. Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich die Zeit vermisste, als noch nicht jeder meiner Entscheidungen und Anordnungen mit Widerspenstigkeit und Nachfragen entgegnet wurde. Aber ich erinnerte mich auch zu gut daran, in seinem Alter nicht viel anders gewesen zu sein... Peters Drang nach Unabhängigkeit ist stark, doch meine Sorge um ihn war größer. „Es tut mir leid, Peter. Du bist noch ein Kind und ich werde dich nicht ohne Begleitung eines Erwachsenen in die Stadt gehen lassen. Du weißt, wie manche der Kinder in der Stadt – und auch die Erwachsenen – reagieren, wenn sie uns begegnen. Ich möchte keine weiteren Auseinandersetzungen riskieren.“

„Aber Vater...“

„Ich sagte nein.“ Frustration ließ mich mit mehr Vehemenz sprechen, als ich beabsichtigt hatte. „Peter...“ Ich griff nach ihm, doch mein Sohn drehte sich um und lief davon. Ich blieb im Garten zurück, einmal mehr ratlos.

Das Mittagessen ging vorüber. Das Abendessen, das als Überraschungsfeier für das Geburtstagskind geplant worden war, ging vorüber – und Peter ließ sich nicht sehen. Schließlich machte ich mir doch Sorgen und begab mich auf die Suche nach ihm. Trotz allem war ich sicher, dass er nicht ohne Erlaubnis nach Braniff gegangen war. Und tatsächlich entdeckte ich Peter schmollend am Koi-Becken. Wann immer ihn etwas bekümmerte oder beschäftigte, fand er sich früher oder später am Wasser ein.

„Bin ich willkommen?“, fragte ich leise, um ihn nicht zu erschrecken.

Peter zuckte mit den Schultern, ohne sich nach mir umzudrehen.

Ich setzte mich neben ihn auf den gemauerten Rand des Beckens. „Peter... es tut mir leid, wenn du dich durch meine Worte gekränkt fühlst. Ich weiß, dass du denkst, du wärst in der Lage, auf dich selbst aufzupassen. Natürlich bist du das in gewisser Weise auch.“

„Ich bin kein Baby mehr, Vater. Du kannst mich nicht immer einsperren.“

„Ist es das, was du empfindest? Eingesperrt zu sein?“ Der Gedanke... schmerzte mehr als ich es für möglich gehalten hatte. Ich war mir sicher gewesen, nach Lauras Tod wäre es das Beste für Peter, in einer stabilen Gemeinschaft aufzuwachsen. Ich hatte geglaubt, der Tempel wäre sein Zuhause geworden – nicht sein Gefängnis.

Endlich sah er mich an und Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen. „Nein, ich m-meinte... nein, hier ist doch mein Zuhause. Es ist nur... du behandelst mich immer noch wie einen kleinen Jungen. Irgendwann musst du mich auch mal loslassen, mich auch mal was alleine tun lassen.“

Ich wandte mich ihm zu, berührte seine Wange. „Peter, du bist mein Sohn. In meinen Augen wirst du immer mein kleiner Junge bleiben. Selbst wenn du einmal erwachsen bist und eigene Kinder haben wirst, dann werde ich dich immer noch so sehen. Als einen Jungen, der seinen Vater braucht. Aber ich weiß, dass du in deinen und in den Augen anderer nicht immer ein Kind bleiben wirst. Du wirst ein Mann werden. Aber bis es soweit ist, möchte ich jeden einzelnen Tag mit dir teilen, an dem du noch wirklich ein Kind bist und du mich noch immer brauchst.“

Peter legte seine kleine Hand über meine. „Aber ich werde dich immer brauchen, Vater. Und ich werde dich immer lieb haben. Nichts ändert das. Auch nicht wenn wir streiten oder ich älter werde. Aber kannst du mich nicht ab und zu etwas alleine machen lassen?“

Ich nickte. „Ich verstehe. Und ich werde versuchen, das zu berücksichtigen. Aber nicht heute. Lass mich deine Kindheit noch ein klein wenig länger genießen.“

Kritische Augen musterten mich, dann lächelte Peter. „Okay. Aber bald bin ich erwachsen, Paps. Bald.“

Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Offensichtlich war das eine Lektion, die er niemals lernen würde, egal wie alt er war. „Ich habe dir gesagt, du sollst mich nicht Paps nennen!“

Peter duckte sich lachend, in dem sicheren Wissen, dass ich ihm niemals wirklich böse sein konnte. Dann schlang er die Arme um meinen Hals. „Ich hab dich lieb, Vater.“

* - * - * - * - flashback end - * - * - * - *

„Entschuldigung? Kann ich etwas für Sie tun?“

Als ich die Augen öffne, steht auf der anderen Seite des Zauns ein Mann, vielleicht der Vater des Jungen, der noch immer ausgelassen mit seinen Freunden feiert. Er mustert mich misstrauisch und ich lese in seinem Gesicht, was er sieht: einen müden Wanderer in abgetragenen Kleidern, der an diesem angenehm warmen Frühlingstag nicht in die gepflegte kleine Vorstadt passen will. Ein Mann ohne Heim, ohne Geld, ohne Familie.

Ich schüttle den Kopf und gehe weiter. Ich spüre seinen Blick, der mir folgt, bis ich das Ende der Straße erreiche. Geld brauche ich nicht. Und mein Heim ist dort, wo mein Herz ist - bei dem Menschen, den ich am meisten auf dieser Welt liebe.

Peters Geburtstag ist erst in einigen Wochen. Vielleicht ist es an der Zeit, meine Wanderung zu beenden und nach Hause zurück zu kehren.

Ende


Teil 2

"Papa!"

Obwohl ich weiß, dass die helle Kinderstimme nicht mir gilt, drehe ich mich unwillkürlich um. Ein Mädchen, vielleicht drei oder vier
Jahre alt, löst sich von der Hand seiner Mutter und läuft über die Straße. Ihr buntes Kleid leuchtet auf, als sie auf die andere Straßenseite will, so schnell sie ihre kurzen Beine tragen - zu einem Mann, der gerade aus einem Wagen steigt.

"Anne! Pass' auf!"

Genau wie ich hat die Mutter das Auto gesehen, das eben in die Straße einbiegt. Doch zum Glück hat auch der Fahrer des Wagens das kleine Mädchen gesehen und bremst rechtzeitig. Ich beobachte, wie die Frau über die Straße läuft und mit ihrer Tochter schimpft, die inzwischen auf dem Arm ihres Vaters sitzt. Kurz darauf verschwindet die kleine Familie in einem der Häuser.

Ein Bild, das mir nicht gänzlich unvertraut ist, auch wenn damals...


* - * - * - * flashback * - * - * - *

"Papa!"

So schnell ihn seine kleinen Beine trugen, kam Peter hinter mir her, seine nackten Füße klatschten auf dem steinernen Boden des Korridors. Ich wandte mich ihm zu, wartete bis er mich eingeholt hatte. Peter klammerte sich an meiner Robe fest und ich hob ihn hoch, rieb seine kalten Füße. "Ist etwas passiert, Peter? Ich dachte, du würdest mit deinen Freunden im Garten spielen. Und wo sind deine Schuhe?"

"Es tut mir leid, Meister Caine", hinter Peter erschien einer der älteren Schüler, der an diesem Morgen mit der...undankbaren... Aufgabe betraut war, auf die jüngeren Kinder aufzupassen. "Ich habe nur einen Moment nicht hingesehen und er war einfach weg."

Ich winkte ab. "Es ist gut, Michael, es war nicht deine Schuld." Ich drehte Peters kleines, schmutziges Gesicht zu mir her. "Peter, ich habe dir doch erklärt, dass ich jetzt in die Stadt muss."

"Nein", jammerte Peter und schmiegte sich an mich. "Nein." Seine kleinen Hände klammerten sich in die weichen Falten der Robe.

Ich drückte ihn an mich und unterdrückte ein Seufzen. "Ich bin in ein paar Stunden zurück, Peter", versprach ich und streichelte sein
weiches, lockiges Haar. Ich hatte es noch nicht über mich gebracht, es abschneiden zu lassen, wie es eigentlich der Tempeltradition entsprach. "Wir werden zusammen zu Abend essen und ich werde dir eine Geschichte erzählen, bevor du ins Bett gehst." Ich hob seinen Kopf an, um ihm ins Gesicht zu sehen. Tränen zogen helle Schneisen über seine schmutzigen Wangen. "Aber nur, wenn du jetzt brav bist und mit Michael zu den anderen Kindern zurückkehrst."

Ein zögerliches Lächeln erhellte die Züge meines Sohnes, wie ich gehofft hatte, besänftigte die Aussicht auf den Abend den Trennungsschmerz. Es war weder für Peter, noch für mich einfach, sich an das Leben in der Gemeinschaft, im Tempel zu gewöhnen. Peter wollte sich nicht immer den Regeln fügen und oft rief er nachts im Schlaf nach seiner Mutter. Es war kaum ein Jahr seit Lauras Tod vergangen und ihr Verlust noch immer wie eine offene Wunde in uns beiden. Ich drückte ihn noch einmal an mich, küsste seine kleine, staubige Wange und stellte ihn dann auf die Füße.

Willig ließ er sich von Michael an die Hand nehmen und winkte mir zu, bevor der Student ihn wegführte.

Ich sah ihm nach und verspürte einen Anflug eines schlechten Gewissens. Doch ich hatte meine Pflichten zu erfüllen und je eher Peter sich daran gewöhnen würde, desto besser war es für ihn. Als Michael mit ihm durch ein Tor trat, das den Korridor mit dem Garten verband, wandte ich mich ab und öffnete das große Tor, um nach Braniff zu gehen.

* - * - * - * flashback end * - * - * - *

Es wird Abend, die Luft kühlt ab. Und mit dem Wind kommt eine Ahnung zu mir, die mich mit einer seltsamen Unruhe erfüllt. Ich beschleunige meine Schritte. Bei wem liegen meine Pflichten nun? Der Gemeinde in Chinatown? Oder bei meinem Sohn? Vielleicht werde ich es wissen, wenn ich bei ihm bin...


Ende

 

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