Autor: Lady Charena
 

Peter gähnte, als er in sein Appartement trat, warf ein Bündel Post und seine Autoschlüssel auf den Couchtisch und seine Jacke über die Sofalehne. Nach einem Abstecher in die Küche, wo ihn ein so gut wie leerer Kühlschrank begrüßte, setzte er sich auf die Couch, um ein paar leicht angetrocknete Sandwiches aus ihrer Plastikverpackung zu schälen und zu essen, während er die Post durchblätterte.

Zwei Rechnungen, Reklame, Reklame, Reklame, eine Postwurfsendung... beim letzten Brief zögerte er. Er bekam selten private Post und woher dieser kam, wusste er, auch ohne auf den Absender oder den Luftpoststempel zu sehen.

Peter zögerte, legte den Brief in die Mitte des Tisches. Wenn es schlechte Nachrichten gab, hätte sein Vater doch sicher angerufen, oder nicht?

Er stand auf, warf die Werbung weg und schob die beiden Rechnungen in seine Jackentasche, er würde morgen in der Mittagspause zur Bank gehen, um sie zu bezahlen. Nach einem erneuten Abstecher in die Küche, um die Sandwiches mit einer Flasche Bier hinunter zu spülen, setzte er sich wieder auf die Couch und nahm den Brief in die Hand. Schließlich schob er den Finger unter die offene Ecke des Umschlages und riss ihn auf. Ein Blatt Papier, eng bedeckt mit der eckigen Handschrift seines Vaters, fiel auf den Tisch. Er nahm es hoch, faltete es auseinander.

>> Mein lieber Peter,

Deinem Großvater geht es sehr viel besser. Natalie besucht uns häufig und hat mich gebeten, dir ihre Grüße auszurichten. Du hast offensichtlich großen Eindruck bei ihr hinterlassen. <<

Peter grinste. Oh ja, Frauen waren ganz verrückt nach Typen, die es fertig brachten, vom Dach zu fallen - und das ohne eine Schramme abzubekommen, denn glücklicherweise hatte eine Plane am Baugerüst seinen Sturz aufgefangen. Er war erleichtert zu hören, dass es seinem Großvater besser ging. Shaolin hin, Heiler her, Matthew Caine war fast neunzig Jahre alt und Peter hätte es sehr leid getan, einen Großvater zu verlieren, den er noch kaum Gelegenheit hatte kennen zu lernen. Die wenigen Tage, die sie in Frankreich verbrachten, hatten Peter klargemacht, wie wenig er nach wie vor über seine Familie wusste. Und sehr zur Verlegenheit seines Sohnes hatte Matthew seinem Enkel einige kleine Begebenheiten aus Kwai Changs Kindheit erzählt, die Peter seinen Vater in ganz neuem Licht sehen ließen. Nach ihrer Rückkehr war dann eines Tages ein Anruf von Gary Bennett gekommen, Natalies Vater, der gerade zu dieser Zeit Urlaub bei seiner Tochter machte. Vater Vashon hatte ihn über den schlechten Gesundheitszustand Matthews informiert und - da der Shaolin sich nachdrücklich weigerte, in einem Krankenhaus behandelt zu werden - gebeten, Kwai Chang zu benachrichtigen. Worauf Peter trotz des anfänglichen Zögerns seines Vaters umgehend ein Ticket besorgt und ihn zum Flughafen gebracht hatte. Wie sich herausstellte, litt Matthew an einer verschleppten Lungenentzündung und wurde trotz seines Protestes ins Krankenhaus gebracht.

>> Père Vashon kommt täglich vorbei um mit Vater Schach zu spielen, obwohl es um seine eigene Gesundheit nicht zum besten bestellt ist. Ich kann spüren, dass seine Kraft fast verbraucht ist. Deshalb lebt seit einiger Zeit ein junger Priester bei ihm, der Père Vashons Tod dessen Aufgaben übernehmen wird. Für die Sicherheit des Kelches wird auch in Zukunft gesorgt sein. Und da die Renovierung der Kirche abgeschlossen ist, hat Père Vashon seinen Frieden gefunden. Dein Großvater würde sich freuen, wenn du ihn besuchst, doch er weiß natürlich, dass dein Beruf dich sehr in Anspruch nimmt. Unser Verhältnis ist noch immer angespannt. Vierzig Jahre sind eine sehr lange Zeit, und erst jetzt verstehe ich sehr viel besser, wie du dich gefühlt hast, als wir uns wiederfanden. <<

Peter lächelte schief. Aber da gab es eine Alternative, an die offenbar weder sein Vater, noch sein Großvater gedacht hatte - Matthew Caine könnte mit seinem Sohn in die USA zurückkehren. Sie könnten eine Familie sein. Vielleicht sollte er diesen Vorschlag machen. Vor allem, weil er zwischen den Zeilen las, dass sein Vater Matthew ungern alleine in Frankreich zurücklassen wollte. Aber er konnte auch nicht unbegrenzt in St. Adele bleiben, sein Leben war jetzt hier. Oder?

>> Bitte danke dem Ehrwürdigen für die Kräuter, die er geschickt hat. wo ai ni. wo xing niàn. Dein Vater <<

Peter faltete den Brief zusammen und legte ihn auf den Tisch. "Wo ai ni, Paps", sagte er leise.

Doch was sollte er jetzt mit dem Rest des Abends anfangen? Der Rest der Gang traf sich im Chandler's, doch ihm fehlte die Lust dazu. Er war müde, hatte einen anstrengenden Tag. Außerdem hatte ihn der Brief seines Vaters in melancholische Stimmung versetzt.

Schließlich griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein, um sich die Nachrichten auf Channel 4 anzusehen. Gerade erschien Sandra Mason mit einer Reportage, als es an seiner Wohnungstür klingelte.

Überrascht warf er einen Blick auf die Uhr, ging zur Tür und blickte durch den Spion. Beim Anblick seiner Pflegemutter öffnete er rasch die Tür. "Mom?", fragte er erstaunt. Er nahm ihre Hand und führte sie in die Wohnung. "Was machst du so spät hier? Ist irgendwas passiert? Irgendwas mit Kelly oder Carolyn nicht in Ordnung?" Er führte Annie zur Couch, und setzte sich neben sie. Da war noch eine andere Möglichkeit, doch er zögerte, sie anzusprechen... Gab es endlich Nachricht von Paul?

Annie lächelte und drückte seine Hand. "Beruhige dich, Peter. Sei' für einen Moment kein Polizist. Es ist alles in Ordnung. Aber ich frage mich, ob es dir ebenfalls gut geht." Sie fühlte, wie seine Hand überrascht in ihrer zuckte.

"Ja, es geht mir gut, Mom. Kann ich dir etwas anbieten? Kaffee oder vielleicht Tee?"

Annie seufzte. "Ich möchte nichts, Peter. Danke. Nichts als wissen, was dich bedrückt. Irgendetwas hat dich gestern doch beschäftigt. Es ist sogar deinen Schwestern aufgefallen, dass deine Gedanken nicht bei uns waren."

Peter erwiderte nichts.

"Wenn du etwas anderes geplant hattest..."

"Nein, natürlich nicht", unterbrach sie Peter. "Ich hätte den Muttertag nirgendwo anderes verbringen mögen, als bei dir und Kelly und Carolyn."

"Weißt du", Annie lächelte und drückte seine Hand. "Du wirst immer mein kleiner Junge bleiben, der nichts vor mir verbergen kann."

"Mom, ich bin 30 Jahre alt." Doch unweigerlich dachte er an die Zeit, als sie ihn in ihre Familie aufgenommen hatte. Einen störrischen Fünfzehnjährigen, dessen Narben sie sehen konnte, auch wenn ihre Augen blind waren. Sie hatte gespürt, das er Liebe brauchte. Und geliebt hatte sie ihn. Sie tat es immer noch. Mehr, als er sich jemals hatte träumen lassen. Und sie war immer für ihn da gewesen, bedingungslos. "Ich weiß wirklich nicht, was du meinst", entgegnete er unbehaglich.

"Du bist nicht aufrichtig zu dir selbst, Peter. Kann es sein... kann es sein, dass der Muttertag dich daran erinnert hat, wie sehr du deine leibliche Mutter vermisst? Besonders an diesem Tag?"

Peter schwieg, er holte lediglich tief Luft, als halte er eine Antwort nur mit Mühe zurück.

"Ich kann mir denken, dass es in diesem Jahr besonders schlimm für dich ist, weil dein Vater in Frankreich ist."

Peter sah weg. "Ich weiß wirklich nicht, wie du das machst."

"Zu wissen, was du denkst?", fragte Annie lächelnd.

Peter nickte.

"Du weißt, dass ich nicht hören kann, wenn du nickst."

Er lachte leise und küsste sie auf die Wange.

"Ich habe im Revier angerufen", fuhr Annie fort. "Und Kermit gebeten, mich zu dir zu bringen. Ich hatte das Gefühl, man muss ihn operativ von seinem Computer trennen." Sie hob die Hand und berührte seine Wange. "Peter, du weißt, wie sehr ich dich liebe. Ich spüre, wenn du Kummer hast oder verwirrt bist." Ihre Hand glitt tief und tippte auf Peters Brust. "Und ich kann das Gefühl der Leere da drin spüren. Du kannst das vielleicht vor den anderen verbergen, aber nicht vor mir."

"Ich... ich wollte niemand damit belasten", sagte Peter leise.

Annie legte die Hand auf seine Schulter. "Warum denkst du nur, du müsstest das alles alleine mit dir ausmachen? Bist du wirklich überzeugt, wenn du niemanden mehr liebst, tut es weniger weh, sich nicht geliebt zu fühlen?" Ihre Hand glitt in seinen Nacken und er gab dem leichten Druck nach, legte den Kopf gegen ihre Schulter und umarmte sie. "Oh, Baby, so funktioniert das nicht. Niemand erwartet von dir, dass du mit allem alleine fertig wirst. So viele Menschen machen sich Sorgen um dich. Und wir sind alle da für ich."

Peter fragte sich, woher sie immer wusste, was genau sie sagen musste. Oder was sie zu tun hatte. "Es tut mir leid", meinte er. "Es... widerstrebt mir einfach, meine Probleme anderen aufzuhalsen. Ich muss selbst versuchen, damit klar zu kommen."

Annie presste einen Kuss auf sein Haar. "Liebling, du musst verstehen, dass niemand von uns glücklich sein kann, wenn du nicht glücklich bist. Dann fehlt ein sehr großes Stück in unserem Leben."

"Ich werde versuchen, in Zukunft daran zu denken." Peter lehnte sich ein wenig zurück und blickte seine Pflegemutter an.

Sie lächelte und strich ihm das Haar aus der Stirn zurück. "Hast du Nachricht von deinem Vater?", fragte sie dann.

"Er hat mir geschrieben." Peter war sich nicht sicher, ob er über den Themenwechsel froh sein sollte, oder nicht. "Es geht meinem Großvater besser, aber er weiß wohl noch nicht, wann er zurückkommt."

"Warum nimmst du dir nicht frei und fliegst nach Frankreich?"

Peter sah überrascht auf. "Aber...", begann er.

"Ich weiß, dass du denkst, die Stadt käme ohne dich nicht zurecht", unterbrach ihn Annie. "Aber es gibt noch andere Polizisten, Peter. Sie werden für ein paar Wochen ohne dich auskommen. Dein Großvater würde sich doch bestimmt freuen, wenn du ihn besuchst. Und du solltest die Gelegenheit nutzen, mit deinem Vater über deine Mutter sprechen. Ich bin sicher, dass er dich versteht."

"Und es macht dir wirklich nichts aus?", fragte Peter. "Ich meine, du bist meine Mutter gewesen, solange ich mich bewusst zurückerinnern kann. Meine leibliche Mutter kenne ich in Wahrheit nur von Fotos und den Erzählungen meines Vaters. Kränkt es dich nicht, wenn ich...", unsicher hielt er inne.

"Nein, Peter", beruhigte Annie ihn. "Es kränkt mich nicht. Ich bin sehr froh, dass ich für dich da sein darf, dass du auch mein Sohn bist." Sie drückte noch einmal seine Hand, stand dann entschlossen auf. "Und deshalb schicke ich dich jetzt auch ins Bett. Ich glaube, du hast morgen einen anstrengenden Tag vor dir."

Peter folgte ihr. "Ich fahre dich nach Hause."

Annie wandte sich ihm zu und strich über seine Wange. "Das ist nicht notwendig. Kermit wartet auf mich. Gute Nacht, mein Sohn."

"Gute Nacht, Mom." Peter küsste sie auf die Wange und brachte sie zur Tür. Als er sie öffnete, löste sich von der Wand neben dem Aufzug eine Gestalt mit dunkler Sonnenbrille.

Kermit grinste und nickte ihm zu. "Hast du ihm den Kopf gewaschen, Annie?", fragte er, während sich die blinde Frau bei ihm einhakte. Dabei blickte er Peter an.

Peter zuckte mit den Schultern. "Sie hat mir Urlaub verordnet."

Kermit blickte über den Rand seiner Sonnenbrille. "Gut", erwiderte er und zog einen Bogen Papier aus der Tasche, um es Peter hinzuhalten.

"Was ist das?"

"Dein Urlaubsantrag. Captain Simms hat ihn bereits unterschrieben. Ich war so frei, diese kleine Formalität für dich zu erledigen. Auf der Rückseite steht eine Telefonnummer. Ruf morgen da an und lass' dir ein Ticket besorgen." Kermit schob die Brille wieder hoch.

"Bin ich eigentlich so offensichtlich?", fragte Peter konsterniert.

"Ich sagte dir doch, wir lesen in dir wie in einem Buch", warf Annie ein. Sie nickte Kermit zu. "Es ist besser, wenn wir jetzt gehen. Und Peter - du meldest dich, wenn du in Frankreich angekommen bist."

"Versprochen." Peter sah ihnen nach, dann auf den Urlaubsschein in seinen Händen. Er lachte leise. Seine Familie...

Und sein Vater würde Augen machen, wenn er in St. Adele auftauchte.

Ende

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wo ai ni. - Ich liebe dich.
wo xing niàn - Ich vermisse dich.
(Mandarin)

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