Autor: Lady Charena
 

Manchmal ist das Leben nicht so wichtig wie ein Traum. (Caine, The Bardo)

'Fünf Monate’, dachte Peter. 'Nein, jetzt sind es schon fast sechs Monate.’ Er warf dem Kalender an der Revierwand einen grimmigen Blick zu.

„Erde an Peter“, unterbrach eine Stimme seine Grübelei.

Peter drehte sich um. „Was ist nun wieder los, Skalany?“, fragte er nicht übermäßig freundlich.

Mary-Margaret hob abwehrend beide Hände. „Ich wollte dir nur sagen, dass der Bericht fertig ist – und das ich jetzt nach Hause gehe. Hast du schon mal auf die Uhr gesehen? Bei deiner miesen Laune würde ich dir übrigens das gleiche raten.“ Sie musterte ihn eingehend und wusste natürlich, was an ihm nagte. „Hey, Peter“, setzte sie sanfter hinzu. „Ich bin überzeugt, dass es deinem Vater gut geht.“

„Was zum Teufel...“ Peter sprang auf. „Lass’ mich verdammt noch mal mit meinem Vater in Ruhe!“ Er riss seine Jacke von der Rückenlehne seines Stuhls und ließ Mary-Margaret stehen.

Seufzend zog die Polizistin ihre eigene Jacke an und nahm ihre Handtasche aus dem Schreibtisch. Wenn Caine nicht bald zurückkam oder von sich hören ließ... sie fragte sich wirklich, wie es mit Peter weitergehen würde.

* * *

Bereits auf dem Parkplatz bereute Peter seinen heftigen Ausbruch. Er lehnte sich gegen seinen Wagen und verschränkte die Arme vor der Brust, die Jacke wie ein Kind eine Kuscheldecke an sich gedrückt. Die Kollegen redeten ohnehin schon über ihn, da brauchte er der Gerüchteküche nicht noch weitere Munition liefern. Aber Skalany stocherte da auch in einem wunden Punkt herum, gerade weil er eben ‚nicht’ wusste, ob es seinem Vater gut ging. War denn wirklich ein lausiger Telefonanruf, ein Brief, schon zu viel verlangt? Es war nicht unbedingt ein Trost, dass sein Vater fünfzehn Jahre lang auf der Straße überlebt hatte... Seine Gedanken glitten ungewollt zu dem Moment zurück, als Caine aus seinem Leben verschwand. Eine letzte Berührung seiner Wange – und dann war sein Vater einfach weg. Ohne ein Wort, ohne eine Erklärung...

Eine Hand auf seiner Schulter schreckte ihn auf und er hob den Kopf, um in die besorgten Augen seines Pflegevaters zu blicken. „Alles in Ordnung mit dir, Peter?“

Peter seufzte und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ich schätze, mein Auftritt eben ist dir nicht entgangen?“

Paul lächelte schief. „Ich fürchte, das ist niemandem entgangen. Willst du darüber reden?“

„Paul...“ Peter schüttelte den Kopf. „Es gibt nichts zu bereden.“ Er lächelte. „Ich schätze, es war in letzter Zeit einfach ein bisschen viel los und dann hatte ich noch mit Kelly Streit, wegen dieser...“ Er unterbrach sich.

„Wegen was?“, hakte Paul sofort nach und beobachtete dabei seinen Pflegesohn scharf. Peter war kein guter Lügner, was ihm manchmal bei seiner Arbeit in den Weg kam.

„Ich hatte wieder einmal schlechte Träume.“ Peter sah zu Boden. „Du kennst das doch.“

„Ich dachte, das wäre vorbei gewesen, als du aus der Pubertät kamst.“

Peter zuckte mit den Schultern. „Ich bin sicher, du träumst auch manchmal schlecht. Jeder tut das. Kelly übertreibt nur. Sie ist für ein paar Tage in ihre eigene Wohnung zurück.“

„Dann hast du morgen Abend ja Zeit, mal wieder mit deinen alten Pflegeeltern zu essen. Oder willst du das ganze Wochenende in deiner Wohnung sitzen?“ Paul schlug einen scherzenden Ton an. Wenn er seinen Sohn erst einmal Zuhause am Tisch sitzen hatte, würde Annies Anwesenheit ein weiteres tun, um aus Peter herauszuholen, was an ihm nagte. Auch wenn Peter kein verstockter Teenager mehr war, manche Dinge funktionierten immer. „Außerdem müssen wir über deinen Geburtstag nächsten Monat reden.“

“Ist das ein Befehl, Captain?”, fragte Peter mit einem Grinsen.

Paul versuchte eine strenge Miene beizubehalten – erfolglos. „Wenn es nötig ist.“

Doch sein Pflegesohn schüttelte den Kopf und drückte seine Schulter. Dann stieg er in seinen Wagen. „Ich bin morgen Abend pünktlich. Sag’ Mom, ich erwarte mein Lieblingsessen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, schloss er die Tür, startete den Stealth und fuhr vom Parkplatz.

Paul sah ihm nach, als sich hinter ihm jemand räusperte. Er drehte sich um und sah Mary-Margaret an.

„Ist Peter okay?“, fragte sie.

„Ich bin sicher, er wird es bald sein“, entgegnete Paul nach einem Moment. Er nickte Skalany zu und kehrte in sein Büro zurück.

Mary-Margaret ging zu ihrem Auto. „Verdammt, Caine“, murmelte sie, als sie die Tür aufschloss. „Wo steckst du nur?“

* * *

Peter betrat das leere und stille Apartment. Keine Spur von Kelly. Er warf die Autoschlüssel auf den Couchtisch und hörte den Anrufbeantworter ab. Auch keine Nachrichten. Die unappetitlichen Fast-Food-Reste in seinem Kühlschrank taten nichts dazu, seinen Appetit anzuregen. Eine Zeitlang saß er mit einer Flasche Bier vor dem Fernseher und zappte sich durch die Programme, doch nichts vermochte seine Aufmerksamkeit länger zu fesseln. Schließlich schaltete er das Gerät ab und beschloss, früh ins Bett zu gehen. Er duschte und legte sich schlafen.

Die Träume ließen nicht lange auf sich warten.

Alpträume hatten Peter von klein auf heimgesucht. Er kannte den Grund dafür nicht. Und sein Vater hatte sich stets geweigert, mit ihm darüber zu reden, auch wenn er immer bereit war, an das Bett seines Sohnes zu eilen und ihn zu beruhigen. Später dann, als Teenager und auch als Erwachsener, war es seine Vergangenheit, die Zerstörung des Tempel, die wieder und wieder in seinen Träumen auftauchte und alles eins ums andere Mal aufwühlten.

Es begann harmlos genug. Keine Spinnennetze, in denen die Menschen, die ihm am meisten bedeuteten, gefesselt waren – und er stand nur hilflos dabei, nicht in der Lage ihnen zu helfen. Dieses Mal fand er sich in seinem Traum auf einer verlassenen Landstraße wieder. Es war ziemlich kalt, der Wind zerrte an seinen Haaren. In einiger Entfernung vor ihm schritt eine vertraute Gestalt. Sein Vater, so wie er einen letzten Blick auf ihn hatte werfen können, bevor die Menschenmassen auf dem Bürgersteig in Chinatown ihn verschluckten.

Als der Traum-Peter zu laufen begann, um seinen Vater einzuholen, begann Peter sich in seinem Bett zu drehen und unruhig hin- und her zu wälzen.

Aber so sehr er sich auch anstrengte, er schien nicht von der Stelle zu kommen. Sein Vater wurde immer kleiner, als die Entfernung wuchs. „Vater, nein, bitte geh’ nicht weg!“

Der Traum-Peter schrie die Worte und auch Peters Mund bewegte sich, ohne das allerdings ein Laut daraus drang.

Er hielt inne und starrte verzweifelt und hilflos der kleiner werdenden Gestalt nach. Plötzlich tauchte da in der Ferne ein Auto auf, es raste direkt auf dem wandernden Priester zu, erfasste ihn in voller Fahrt und schleuderte Caine durch die Luft. Mit einem dumpfen Aufprall schlug der Körper auf.

„Nein!“ Peter kam zu sich, mit wildklopfendem Herzen und schweißnass aufrecht im Bett sitzend. „Nein. Das... das war nur ein Traum“, murmelte er. „Nur ein Traum.“ Er ließ sich in die Kissen zurückfallen und bedeckte sein Gesicht mit Händen. „So etwas kann nicht passieren.“ Und doch wusste er, dass es nicht unmöglich war. Seine Träume zeigten ihm nur, was ihn seine Ängste nicht sehen lassen wollten, wenn er wach war. Es gab die Möglichkeit, dass seinem Vater etwas passiert war. Es war die Erklärung dafür, dass weder ein Brief noch ein Telefonanruf von ihm kam. Alles mögliche konnte passieren und vielleicht würde Peter nie etwas davon erfahren.

Er setzte sich erneut auf und schwang die Beine über die Bettkante. Die Ellbogen auf die Knie und das Gesicht in beide Hände gestützt, blieb er so sitzen. „Wieso machst du so etwas mit mir, Vater?“ Er war sich nicht wirklich bewusst, die Worte laut ausgesprochen zu haben.

Sein Vater hatte ihm gesagt, das Meditation ihm helfen würde, mit den Träumen umzugehen. An Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken. Also versuchte er sich daran zu erinnern, was ihm gelernt worden war und seinen Geist zu beruhigen, alle bewussten Gedanken abzuschalten.

Vielleicht funktionierte es. Vielleicht war er aber auch nur erschöpfter als er dachte, und im Sitzen eingeschlafen.

Das erste, das er spürte, war ein fernes Empfinden von Wärme, als hätte jemand eine Decke um seine bloßen Schultern gelegt. Er glaubte, eine Berührung an seinem Haar wahrzunehmen, als streiche jemand darüber. „Paps?“, murmelte er.

„Peter.“

Aber wie... vermutlich nur ein neuer Traum. Peter bewegte sich nicht.

„Peter. Sieh’ mich an.“

Widerstrebend öffnete er die Augen und sah auf. Aus der Dunkelheit löste sich die vertraute Gestalt seines Vaters und kniete vor ihm nieder. „Paps... geht es dir gut? Ich hatte diesen Alptraum...“

„Sccchh.“ Ein Finger verschloss Peters Mund. „Ich weiß. Es geht mir gut.“ Eine Hand strich über seine Wange. „Es war nur ein Traum. Ich bin bald wieder bei dir, mein Sohn.“

„Wie bald?“ Peter versuchte nach ihm zu greifen, doch unter seinen Händen war nichts, das er festhalten konnte.

„Du wirst es wissen. Ich habe dir versprochen, immer in deiner Nähe zu sein.“ Eine letzte, fast nicht mehr spürbare Berührung an seiner Stirn und dann verschwand die Gestalt wie sich auflösender Nebel.

* * * *

Es war das erste Morgenlicht, das Peter weckte. Er setzte sich langsam auf und sah sich um. Was für eine verrückte Nacht. Zuerst dieser Alptraum und dann... Er hatte für einen Moment wirklich geglaubt, sein Vater wäre hier, in diesem Raum. Verrückt, oder?

Aber seltsamerweise fühlte er sich ruhiger als am Abend zuvor. Fast wieder gut. Fast so, als wäre... als wüsste er nun, dass ein Versprechen eingehalten werden würde. Peter stand auf und sah aus dem Fenster. Vielleicht würde sein Vater doch bald zurückkommen. Trotzdem wäre eine Postkarte auch nicht zu verachten gewesen...

Ende

 

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