Autor: Lady Charena
 

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Denn wer da hingibt, der empfängt.

Wer sich selbst vergisst, der findet.

Wer verzeiht, dem wird verziehen...

Friedensgebet, Souvenir Normand 1912

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The Tao teaches that what is to happen cannot be changed.


Peter bestand darauf, mich nach Hause zu fahren. Er wirkt niedergeschlagen, spricht kaum ein Wort – äußerst untypisch für meinen Sohn. Ich berühre seinen Arm und er sieht mich an. Der Riss über dem Auge ist wieder aufgebrochen und ein feiner Blutfaden an seiner Wange angetrocknet. Ich reibe ihn von Peters Haut und er grinst schief. Manchmal fällt es mir schwer, in seinem Gesicht zu lesen, doch heute blicken mich seine Augen warm und liebevoll an. Vielleicht habe ich ihm unrecht getan, als ich annahm, er würde mir nicht vertrauen. Er hat mich nie gefragt, ob ich Tim getötet habe. Ich würde ihm das gerne sagen, doch wie zuvor auf dem Revier, als Peter mir stolz berichtete, dass er Rico mit Kung Fu kampfunfähig gemacht habe, anstatt auf ihn zu schießen, fehlen mir die richtigen Worte. Und so beschränke ich mich auf ein Nicken und drücke seine Schulter. Vielleicht kann er in meinen Augen lesen, was ich ihm nicht sagen kann.

Als ich ihn loslasse, konzentriert er sich wieder auf den Straßenverkehr. Was Peter betrifft, fühle ich mich so unsicher wie an dem Tag, als er geboren wurde. Die letzten fünfzehn Jahre lebte in meinem Herzen das Bild eines Kindes, eines Jungen voll Neugier auf und Liebe für das Leben. Doch neben mir sitzt ein erwachsener Mann, der von so starken Gefühlen geleitet wird und zu großer Gewalttätigkeit in der Lage ist. Ich kämpfe darum, ihn zu verstehen, doch nicht immer gelingt es mir.

Er parkt den Wagen vor dem Kwoon und wendet sich mir erneut zu. Für einen Moment erscheint Unbehagen auf seinem Gesicht, doch es verschwindet sofort wieder – es hätte ein Trick des Lichts sein können. „Nun, du bist sicher ziemlich geschafft, Paps. Ich... ich besuch’ dich dann morgen, ja?“

Trotz seiner Worte scheint er unwillig, sich von mir zu trennen und ich bleibe sitzen. Doch welchen Grund soll ich anführen, um ihm zum Bleiben zu bewegen? Ich weise auf die Prellungen in seinem Gesicht, die Schwellung an seinem Auge. „Komm’ mit in die Apotheke. Lass’ mich deine Wunden behandeln.“

Peter lacht, eine leichte Röte überzieht sein Gesicht und lässt die Prellungen noch stärker hervortreten. „Aber das... das ist doch überhaupt nichts, Pa... Dad. Wirklich. Ich pack’ zuhause ein bisschen Eis drauf und im Nu bin ich besser als neu.“

Er zuckt zusammen, als ich die Platzwunde an seinem Mundwinkel streife. „Bitte, Peter. Erlaube mir, mich um dich zu kümmern.“ Wenn er noch der kleine, von Alpträumen verfolgte Junge wäre, hätte ich ihn einfach in den Arm genommen. Doch den Mann, zu dem er herangewachsen ist, würde ich damit verlegen machen. Es fällt Peter sehr schwer, ihm entgegengebrachte Zuneigung oder Trost zu akzeptieren. Er versucht es vor mir zu verbergen, doch oft zuckt er vor meinen Berührungen zurück, wenn er mich umarmt, dann hastig und ungeschickt. Anders als früher reagiert er nun verlegen, wenn ich vor den Augen anderer meine Gefühle für ihn zeige.

Nach einem Moment des Zögerns nickt Peter. Wie von einer unsichtbaren Feder angetrieben, springt er aus dem Auto, als ich meine Hand zurückziehe. Ich folge ihm etwas langsamer in den ersten Stock des Gebäudes.

* * *

Nachdem ich ein paar Kerzen entzündet habe, fülle ich warmes Wasser in eine Schüssel. Dabei bin ich mir die ganze Zeit über Peters Blick bewusst, der jeder meiner Handlungen folgt. Als ich mich nach ihm umwende, beißt er sich auf die Unterlippe und setzt eine ertappte Miene auf. Er setzt sich auf den Rand des Arbeitstisches und lässt seine langen Beine über den Boden schleifen.

„Wo ist Lo Si jetzt?“, fragt er plötzlich.

„Xiaoli kümmert sich um ihn.“ Ich hole ein weiches, sauberes Tuch. „Er wird zurückkehren, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“

„Aber... wir müssen uns doch keine Sorgen mehr um ihn machen, oder? Er hat nicht mehr vor, sich umzubringen. Das ist ja gar nicht notwendig.“

Ich wähle eine Phiole aus und gebe zerdrückte Kräuter in das Wasser, während ich über eine Antwort nachdenke. Nachdem ich die Schüssel neben Peter auf den Tisch gestellt habe, wende ich mich ihm zu. „Nein, wir müssen uns keine Sorgen um ihn machen.“ Ich tauche das Tuch ins Wasser, drücke es aus und lege die freie Hand unter Peters Kinn, um ihn still zu halten. Er schließt die Augen, als ich vorsichtig die Platzwunden säubere. Nur einmal kommt ein leises Zischen über seine Lippen, der Riss in seiner Augenbraue scheint sehr schmerzhaft zu sein. Seine Schultern sacken ein wenig nach unten und verraten seine Erschöpfung.

„Du kümmerst dich wirklich gut um mich, Paps.“

Ich blicke ihn erstaunt an, doch seine Augen bleiben geschlossen. „Du bist mein Sohn“, erinnere ich ihn leise. „Es ist die Aufgabe eines Vaters...“

„...sich zu kümmern“, ergänzt er mit einem Grinsen und schlägt die Augen auf. Er beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn, wie er es im Krankenhaus tat. „Du hast nichts verlernt, Paps.“

„Du sollst mich nicht ‚Paps’ nennen.“ Ich gebe vor, verärgert zu sein, doch er lässt sich nicht täuschen. Seine Augen funkeln mich an, als ich eine heilende Salbe auf seine Wunden auftrage. Ich säubere meine Hände und umschließe sein Gesicht. Als er mich fragend ansieht, beuge ich mich vor und drücke meine Stirn gegen seine. „Und bitte erinnere dich das nächste Mal daran, dass das Wichtigste bei Kung Fu ist, sich rechtzeitig zu ducken.“

Sein Lachen ist wie Musik in meinen Ohren. „Ich versuche daran zu denken.“ Dann weicht er zurück, richtet sich auf. „Danke, Paps. Fühlt sich an wie neu.“

Ich gebe ihn frei und er steht auf, streckt sich.

„Ich muss noch einmal aufs Revier, Dad. Paul... irgendwie muss ich ihm erklären, warum ich einen Kollegen geschlagen habe. Ich hoffe nur, er verzichtet auf eine Erklärung, wie du aus dieser Zelle kommen konntest. Ich würd’s ja nicht glauben, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.“

„Ich hatte gehofft, du würdest bleiben. Wir könnten... reden.“ Ich verschränke die Hände ineinander und stelle sicher, dass mein Gesicht nichts von meiner Enttäuschung zeigt.

Peter zögert. „Das geht jetzt nicht. Aber ich komme später vorbei und helfe dir, aufzuräumen, okay?“ Er wartet meine Antwort nicht ab, sondern wirft mir noch einen Blick zu, dann geht er.

* * *

Die Versiegelung klebt noch immer auf dem Türrahmen. Peter kratzt mit dem Autoschlüssel daran herum, doch rubbelt nur kleine Fetzen aus dem Band. Vielleicht wusste sein Vater... Instinktiv springt er zurück, als die Tür geöffnet wird.

Ein klein wenig atemlos lacht Peter. „Paps... du hast mich erschreckt. Woher wusstest du, dass ich gerade hereinkommen wollte?“

Einen Moment lang zögert der Priester und Peter befällt ein unangenehmes Gefühl, fast so als hätte er nach einem Tabuthema gefragt. Unsicher mustert er seinen Vater. Die dunkelbraunen Augen zeigen noch immer den erschöpften Ausdruck, den er nach Caines Entlassung aus der Einzelzelle im Untersuchungstrakt des 101sten gesehen hatte. Jetzt gesellt sich offensichtliche Besorgnis hinzu.

Statt einer Antwort umschließt Caine die linke Hand seines Sohnes, die den Autoschlüssel hält und hebt sie hoch. Ein orangefarbener Fetzen des Klebebands flattert daran. Peter grinst schief. „Du hast wirklich Ohren wie ein Luchs.“ Er zieht seine Hand zurück und steckt sie in die Jackentaschen. „Darf ich hereinkommen?“, fragt er dann, als der Priester keine Anstalten macht, zurück zu weichen.

Caine hebt den Kopf und blickt Peter an, als sehe er ihn erst jetzt richtig. Dann nickt er wortlos und tritt zur Seite.

Peter schließt die Tür hinter sich und wundert sich wieder einmal mehr, wie es in dem dürftig möblierten Raum so warm sein kann, vor allem da die komplette Straßenseite aus mit Papier verkleideten Fenstern besteht und nirgendwo eine Heizung zu entdecken ist. Hinter dem Reispapier, von der Straßenbeleuchtung zum Schattenspiel reduziert, eilen draußen Menschen vorbei. Er dreht sich zu seinem Vater um, als er eine vorsichtige Berührung an seinem Kinn spürt. Die erfahrenen Finger des Heilers gleiten über die Prellungen und Risse, die Ricos Fäuste in seinem Gesicht hinterlassen haben, eine Berührung so sanft, dass es fast scheint, als berühre er die geschwollene und verfärbte Haut nicht wirklich.

„Es tut nicht mehr weh“, entgegnet er auf die unausgesprochene Frage, die er in den Augen seines Vaters liest. „Was immer du verwendet hast, das ist fantastisches Zeug – wenn du nur etwas am Geruch und der Farbe drehen könntest, wäre es der Renner in jedem Drugstore.“

Caine lächelt – ein flüchtiges, leicht zu übersehendes Zucken seiner Mundwinkel. Er zieht die Hand zurück, verschränkt sie mit der anderen und legt den Kopf schief, während er das farbenprächtige Kunstwerk betrachtet, in das sich das Gesicht seines Sohnes verwandelt hat. Es war ein... unangenehmer... Gedanke, dass Rico das, was er in seinem Unterricht gelernt hatte, bei Peter anwendete. Er schiebt dieses Empfinden zur Seite, zusammen mit dem Bedauern darüber, dass der junge Mann in einem Moment blinder Rache alles zunichte gemacht hatte, was er eben erst begann sich aufzubauen: eine Zukunft ohne Kriminalität, ein Leben an der Seite einer Frau, die ihn liebte. Alles, was Rico in diesem Augenblick gesehen hatte, war eine Bedrohung, ein Feind, der – nach dem Gerangel mit seinem Onkel – blutend, das Messer in der Seite, auf dem Boden lag. Und obwohl Lo Si den Raum nur für wenige Minuten verlassen hatte, um Hilfe für Tim zu holen, war es Zeit genug für Rico gewesen, den Bewusstlosen jungen Gangführer zu erwürgen. Er konnte ein Erschauern nicht ganz unterdrücken über diese sinnlose, grausame Tat.

Als Caine aufsieht, begegnet er dem intensiven, fragenden Blick seines Sohnes. Und er fragt sich, wie viel von seinen Gefühlen sich wohl in seiner Miene wiedergespiegelt hat. Manchmal konnte der Sohn ebensoviel in den Zügen seines Vaters lesen, wie Caine normalerweise in Peters Gesicht. Er legt Peter die Hand auf die Schulter und lächelt, diesmal offener. Sofort erscheint ein antwortendes Lächeln auf Peters Lippen, doch die braunen Augen bleiben beunruhigt. „Es ist schön, dass du trotzdem gekommen bist, mein Sohn.“

Da war er wieder, für einen Moment, der altbekannte bittere Geschmack des Unerwüscht-seins in seinem Mund. Peter senkt rasch den Blick, um sich nicht zu verraten – eine Geste, die nicht verräterischer hätte sein können. Welchen Grund gab es für seinen Vater, zu denken, dass er sich nicht an sein Versprechen erinnern würde? Wirkte er so unzuverlässig? „Du hast doch nicht ohne mich begonnen, sauber zu machen?“ Er blickt auf die Eimer und Putzutensilien in einer Ecke des Raumes. „Sieht so aus, als hättest du die meisten Spuren schon beseitigt.“

„Es gibt Spuren, die bleiben werden. Auch wenn du sie nicht sehen kannst.“ Caine zuckt mit den Schultern. „Es erschien mir allerdings nicht weise, den Blutfleck noch länger auf dem Boden zu belassen.“

„Äh... klar.“ Peter schlendert hinüber zum Altar, befingert den Dolch, der auf einem kleinen Nebentisch liegt. Der Jadegriff zeigt kein Stäubchen Fingerabdruckpulver mehr, die Schneide blank und wie unbenutzt. „Woher hatte Lo Si das Ding letzte Nacht überhaupt? Ich weiß genau, dass Bert es mitgenommen und im Labor abgeliefert hat.“

Der Priester tritt neben seinen Sohn, nimmt ihm vorsichtig den Zeremoniendolch aus der Hand und betrachtet ihn fast abwesend. „Das ist nicht der Dolch, den deine Kollegen mitgenommen haben.“

„Klar ist er das.“ Peter streicht das Drachenrelief nach, das in den Griff geschnitzt ist. „Es war das einzige, was mir geblieben war nach der Zerstörung des Tempels. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwierig es war, ihn zu behalten. Im Waisenhaus haben sie ihn mir weggenommen, erst Paul konnte sie überzeugen, ihn mir wieder zu geben.“

„Das hier ist ein identischer Dolch. Es gab zwei davon.“

Peter blickt seinen Vater überrascht an. „Zwei? Warum hast du mir das nie erzählt?“

„Ich wusste nichts darüber. Er befand sich im Besitz des Ehrwürdigen.“ Mit einer entschlossenen Bewegung schiebt Caine den Dolch in die Lederscheide.

„Lo Si? Aber woher... wieso…?” Peter folgt seinem Vater zur Treppe. „Warte doch mal. Woher hat Lo Si den? Er war doch nie im Tempel, oder?“

Sein Vater hält kurz am Fuß der Treppe inne, eine Hand auf die Reispapierwand gelegt. „Ich weiß es nicht.“

Peter folgt ihm. „Was heißt das? Du weißt nicht, woher er in hat? Oder du weißt nicht, ob Lo Si im Tempel war? Paps, warte doch mal. Ich hasse es, wenn du kryptisch bist...“

Ende

 

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