Autor: Lady Charena
 

Langsam versickerte der Tag in der Abenddämmerung, die Luft war empfindlich kühl geworden. Theresa zog fröstelnd das Umschlagtuch enger um ihre Schultern, als sie auf die Veranda ihres Hauses trat und in das trüber werdende Zwielicht starrte. Da war nichts - niemand - nur die welken Blätter, die der Herbstwind zwischen den zusehends kahler werdenden Bäumen zusammen- oder auseinander trieb, gerade so, wie es ihm gefiel. Der Rasen vor dem Haus verfärbte sich stellenweise gelb. Die Blüten der letzten, späten Rosen färbten sich braun oder fielen ab. Die Luft trug Rauch in sich, Nässe und Moos. Oben am See hielt sich der Frühnebel bereits bis weit in den Vormittag hinein. Bald würden Tage kommen, in denen die Welt wie in Watte gepackt aussah. Drastischer als hier konnte es einem die Natur nicht klar machen, dass der Herbst vorbei war.

Theresa lehnte sich gegen das Geländer der Veranda. Sie vermisste die Sonne, die Farbenpracht des Herbstes, das satte, weiche Licht, auch wenn ihr die morgendliche Kälte die Finger steif hatte werden lassen, so dass es ihr schwer fiel, den Pinsel zu halten. Heute morgen war sie zum letzten Mal mit ihrer Staffelei am See gewesen, doch sie hatte nicht einen Pinselstrich auf die Leinwand gebracht. Statt dessen hatte sie sich selbst dabei ertappt, wie sie sich suchend

umsah und lauschte - in der Hoffnung, das Spiel einer Flöte zu hören, in der Erwartung, Caine aus dem Morgennebel auftauchen zu sehen, wie damals, als sie sich hier zum ersten Mal begegnet waren.

Die Begegnung mit dem Shaolinpriester hatte ihr Leben verändert. Es war mehr als das Gefühl von Sicherheit, das ihr seine Anwesenheit gab, auch wenn sie zuvor mit dem Gedanken gespielt hatte, in die Stadt und ganz aus der Gegend wegzuziehen, das einsam gelegene Haus zu verlassen. Es war mehr als die langen Gespräche, die sie führten und in denen er sie immer wieder mit seinem Verständnis und seiner Weisheit überraschte.

Es waren seine Berührungen, sanft und zugleich kraftvoll, doch niemals forderte er etwas für sich. Mehr als alles andere waren es jedoch seine Augen, die sie fesselten. Manchmal konnte sie nichts in seinen Augen lesen, außer Ruhe und Gelassenheit. Aber dann gab es da Tage, in denen sein Blick von einer so tiefen, umfassenden Traurigkeit erfüllt war, dass sie sich davon überwältigt fühlte und mit den Tränen kämpfte. Sie hatte ihn nie weinen sehen. Sie fragte sich, ob sein Schmerz zu groß war... Caine hatte nur wenig über das gesprochen, was ihn dazu trieb, ohne erkennbares Ziel umherzuwandern. Sie wusste, dass er in China geboren und aufgewachsen war, bis er als Teenager zusammen mit seinem Vater in die USA floh, in das Heimatland seines Vaters. Sie wusste, dass er verheiratet gewesen und dass er seine Frau sehr geliebt hatte, bis sie viel zu früh starb. Eines Nachts hatte er ihr sogar von seinem Sohn erzählt.

* * // * *

Seit ihrer ersten Begegnung, seit Caine das Angebot, bei Theresa zu wohnen, angenommen hatte, waren fast sieben Tage vergangen. Sie waren noch spät wachgewesen, beide unwillig den Abend zu beenden. Die Kerzen auf dem Esstisch waren längst heruntergebrannt, nur noch zwei Lampen spendeten ihr milchiges Licht. Theresa hatte es sich mit ihrer Lieblingsdecke auf dem Sofa bequem gemacht, den Kopf in die Handfläche gestützt, beobachtete sie Caine. Der Shaolin saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden, direkt vor dem offenen Kamin, in dem - ein Zugeständnis an den Herbst - ein Feuer flackerte. Sie konnte nur die eine Seite seines Gesichtes sehen, die andere lag im Schatten und fragte sich, was er in den Flammen sah, was seinen Blick so bannte. Gleichzeitig fühlte sie, dass sie nicht das Recht hatte, ihn danach zu fragen. Zuerst fiel ihr die Veränderung seiner Gesichtszüge nicht so auf, wohl getäuscht durch die flackernden Schatten. Dann nahm sie alles gleichzeitig wahr, das Entsetzen in seinem Gesicht, seine schreckensgeweiteten Augen, sein Oberkörper der nach vorne taumelte, seine Hand, die nach etwas in den Flammen griff, dass nur er sehen konnte. Theresa sprang auf, verhedderte sich in die Decke, stieß an den Tisch. Sie bemerkte kaum, wie die Teekanne ihrer Großmutter umfiel, über die Tischkante stürzte und auf den Fußboden landete.

Dann kniete sie neben Caine, der verwirrt und entsetzt zugleich auf seine rußgeschwärzten Finger starrte. "Zu spät..."

"Bist du verletzt?", fragte sie aufgeregt und wollte nach seiner Hand greifen, um sie ins Licht zu drehen - doch Caine entzog sich ihr. "Caine?!"

Er stand auf und trat von ihr weg, in die Schatten, die den Raum dort erfüllten, wohin das Licht der Lampen nicht mehr kam. "Es... ist nichts. Ich bin nicht verletzt."

Sie blieb auf den Knien vor dem Kamin, drehte sich zu ihm. Sein Gesicht war nicht zu erkennen. "Du sahst so merkwürdig aus. Wieso... wieso hast du das gemacht?", fragte sie zögernd und noch bevor die Worte ganz über ihre Lippen gekommen waren, bereute sie es schon. Sie erwartete keine Antwort - und sie erhielt auch keine.

Caine wandte sich ab, sein Blick heftete sich auf die Dunkelheit draußen, die vor den Fenstern lauerte.

Langsam kam Theresa auf die Beine und sammelte die Teekanne auf. Ihr stiegen Tränen in die Augen, als sie sah, dass die Tülle abgebrochen war. Wie stolz war ihre Großmutter darauf gewesen, in einer Zeit, in der sich die meisten nur eine Blechkanne leisten konnten, eine Teekanne aus echtem Porzellan zu besitzen. Und jetzt war sie kaputt. Behutsam stellte sie die beschädigte Kanne auf den Tisch und setzte sich wieder auf die Couch. Ihr war plötzlich sehr kalt und sie schlang die Arme um die hochgezogenen Knie, lehnte den Kopf dagegen. Als Caine sprach, war seine Stimme so leise und so weit weg, dass sie zuerst dachte, sie hätte es sich nur eingebildet.

"Ich glaubte Peter in den Flammen zu sehen."

"Wer ist Peter?", fragte Theresa leise, als er nicht weitersprach.

Caine senkte den Kopf. "Mein Sohn."

Überrascht richtete die Malerin sich auf. "Ich wusste nicht, dass du Kinder hast."

"Nur dieses eine, nur diesen einen Sohn." Seine Stimme klang belegt.

"Wo ist er jetzt? Bei seiner Mutter?"

Der Shaolin schüttelte den Kopf. "Seine Mutter ist tot. Und Peter ist... ist auch..." Er stockte. "Peter wurde mir genommen."

Der Schmerz in seiner Stimme trieb sie vom Sofa. Theresa trat neben Caine, doch er wandte den Blick ab. "Das ist schrecklich", sagte sie hilflos. "Was ist passiert?" Sie legte die Hand auf seine Schulter, zog sie aber zurück, als sie spürte, wie er sich unter ihrer Berührung versteifte.

"Er... er kam vor fast fünf Jahren bei einem Brand ums Leben. Und ich... ich konnte ihn nicht retten."

Stumm, fassungslos, stand Theresa neben ihm und lauschte seinen zögernden Worten, als er von dem Überfall auf den Tempel berichtete, in dem er mit seinem Sohn lebte, von den Menschen, die getötet worden waren und schließlich von den Sprengsätzen und dem Feuer, das ihm sein Kind genommen hatte. Sie bemerkte kaum, dass sie begonnen hatte,

zu weinen - entsetzte, mitleidige Tränen, die lautlos über ihre Wangen rannen.

Sie blickte erst auf, als Caine nichts mehr sagte. Als sie ihn anblickte, wandte er sich ihr zu, hob die Hand und berührte mit den Fingerspitzen die feuchten Spuren auf ihrer Wange. Sie sah die Frage in seinem Blick und versuchte sich an einem Lächeln, das kläglich genug ausfiel. "Es tut mir so leid", flüsterte sie. Der Priester schüttelte nur den Kopf und zog sie an sich. Das Gesicht in sein ausgeblichenes Hemd vergraben, begann sie zu weinen.

Ein Teil von ihr fragte sich verwirrt, warum sie das tat. Es war nicht ihr Schmerz. Und doch spürte sie den Verlust so deutlich, als hätte sie selbst ein Kind verloren.

Caine sagte nichts, er hielt sie nur fest und strich ihr von Zeit zu Zeit übers Haar.

Als sie sich müde und leer geweint hatte, sah sie auf. Caines Augen blickten an ihr vorbei, hinaus in die Dunkelheit, stumm und trocken, undurchlässig wie Spiegel. Ihre Hände glitten von seinen Schultern, seine Arme entlang, lösten seinen Griff. Und er ließ sie los, wandte sich ihr zu. Sein Blick veränderte sich, es schien, als reflektierten seine Augen das wenige Licht im Raum, wurden lebendig. Zögernd, fast unsicher, wirkte Caine, als er die Hände hob und ihr Gesicht sanft umschloss. Theresa hielt den Atem an, erzitterte innerlich. Vom ersten Moment an hatte sie gehofft... doch Caines höfliche Zurückhaltung hatte diese Hoffnung erstickt. Bis zu diesem Augenblick...

Er beugte sich vor, doch seine Lippen streiften ihre nur, dann wich er erneut zurück. Enttäuschung quoll in ihr auf. Sie wandte den Kopf ab, löste sich dadurch aus seinem Griff und trat um ihn herum. Theresa kehrte zum Sofa zurück und setzte sich, den Blick auf ihre ineinander verkrampften Hände gerichtet. Was trieb sie da eigentlich? Es war doch klar, dass Caine nicht der Typ Mann war, der ein flüchtiges Abenteuer suchte...

Sie sah auf, als er sich neben sie setzte. Sie wandte sich ihm zu und sein Blick nahm sie erneut gefangen. Caines Augen ließen sie nicht mehr los, als sie sich liebten.

* * // * *

Theresa seufzte. Als ihre Gedanken ins Hier und Jetzt zurückkehrten, wurde ihr erst bewusst, wie kalt es inzwischen geworden war. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der erste Schnee fiel. Sie warf noch einen letzten Blick in die Dunkelheit, dann kehrte sie ins Haus zurück.

Mit einer Tasse Kaffee und ihrem Skizzenblock setzte sie sich an den Küchentisch. Doch das Papier blieb unberührt, lediglich ihre Finger verfärbten sich leicht, als sie mit einem Stück Zeichenkohle spielte.

Nach einer Weile stand sie auf und trat ans Fenster, um erneut in die Dunkelheit hinaus zu blicken, sie hatte geglaubt, draußen etwas gehört zu haben - doch es war nur Regen, dessen schwere Tropfen gegen die Holzverkleidung hämmerten. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und fragte sich, wo Caine steckte. Es war nicht das erste Mal, dass er sie für ein paar Tage alleine gelassen hatte. Theresa fragte nicht, wohin er ging, warum er ging und was er tat, wenn er nicht bei ihr war - nicht, weil es sie nicht interessierte, sondern weil sie spürte, dass er ihr nicht antworten würde. Vielleicht auch, weil sie heimlich Angst hatte, er könne eines Tages überhaupt nicht mehr zurückkommen...

Sie setzte sich wieder an den Tisch, nahm einen Schluck von ihrem inzwischen kalt gewordenen Kaffee und starrte ins Nichts.

"Theresa?"

Zuerst dachte sie, sie bilde sich seine Stimme nur ein. Doch als sie den Blick hob, stand Caine vor ihr, die Hand noch auf dem Türgriff der offenen Hintertür. Er war klatschnass. Wasser tropfte aus seinem Haar, lief über sein Gesicht und fiel von seiner verwitterten Jacke zu Boden. Sie sprang auf. "Caine!" Lachend umarmte sie ihn und spürte erleichtert, dass er sie an sich drückte. Ihr Kleid wurde feucht, doch das machte ihr nichts aus. Caine war wieder da.

* * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * *

Ich zähl die Tage und die Stunden

bis du kommst und wieder gehst

Vielleicht heilen meine Wunden

wenn du dich zu mir legst

(Xavier Naidoo feat. Bintia)

* * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * *

Dankbar sah er auf, als sie ihm einen Becher mit Tee reichte. Während das Wasser heiß wurde, hatte sie sich rasch umgezogen und als sie ins Wohnzimmer trat, hatte auch Caine trockene Kleidung angezogen. Nur sein Haar, das jetzt länger als bei ihrer ersten Begegnung war, klebte noch feucht an seinem Kopf. Caine kniete auf dem Boden vor dem

Kamin, legte gerade Holz nach. Er wischte die Hände an seiner Hose ab und nahm den Becher. Er trank einen Schluck und stellte ihn dann beiseite.

Theresa setzte sich neben ihn. Sie hätte ihn jetzt gerne berührt, doch etwas... vielleicht in seinem Gesicht, vielleicht in der Steifheit seiner Schultern... hielt sie zurück, sagte ihr, dass jetzt dafür nicht die richtige Zeit war.

"Theresa, ich muss mit dir sprechen."

Sie sah ihn an und etwas in ihr schrie auf, dass sie nicht hören wollte, was er zu sagen hatte. Doch sie schwieg.

"Theresa... es ist Zeit für mich, zu gehen."

Sie schloss die Augen, als könne sie so seine Worte ungeschehen machen.

* * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * * *

...gib mir mein Herz zurück

bevor es auseinander bricht.

Je eher, je eher du gehst,

desto leichter

für mich... (Oli P.)

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Theresa stand auf der Veranda und sah ihm nach, wie er ging. An diesem letzten, sonnigen Herbstag. Sie spürte noch den sanften Druck seiner Lippen gegen ihre. Nichts sonst. Nicht einmal den Schmerz, ihn zu verlieren.

Ende

 

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