>> Er wird doch nicht... verdammt, Peter! Er kann doch nicht einfach auf den Bus zulaufen. Styles wird in die Luft gehen, er hat strikten Befehl gegeben, dass sich niemand außer seiner Psychologin dem Bus nähert. Forrester ist wahnsinnig. Styles ist ebenfalls wahnsinnig, ich frage mich, wie der Commissioner ihm die Leitung eines S.W.A.T.-Teams anvertrauen konnte. Großartig. Zwischen den beiden wird das in einem Blutbad enden. Styles Rambotruppe hat schon Stellung bezogen...<<
Paul Blaisdell wandte den Blick von der sich langsam entfernenden Gestalt seines Pflegesohnes ab – doch der Shaolinpriester, mit dem er eben noch gesprochen hatte, stand nicht mehr neben ihm. Im gleichen Moment hörte er Styles über Funk den Befehl geben, Peter ins Bein zu schießen, um ihn zu stoppen, bevor er den Bus erreichte. Peter!!
Ein paar Sekunden später - noch bevor Paul reagieren konnte - ging tatsächlich ein Schuss los, dann ertönte ein heiserer Schrei und einer von Captain Styles Männern fiel vom Dach des glücklicherweise nur einstöckigen Gebäudes am Rand des verlassenen Fabrikgeländes, auf dem der Schulbus mit den gekidnappten Kindern stand. „Was zum Teufel...?“ Noch bevor er den Satz ganz zu Ende gebracht hatte, sprang Caine ebenfalls vom Dach und landete sicher neben dem benommenen S.W.A.T.-Mann. Er hob das Maschinengewehr des Polizisten auf und schlug damit einem anderen, heranstürmenden Mitglied von Styles Truppe die Waffe aus der Hand. Einen zweiten fällte ein Tritt gegen die Brust. Paul machte sich bereit, einzugreifen – doch in diesem Augenblick war es auch schon vorbei. Der vom Dach gestürzte Polizist hatte sich wieder aufgerappelt und seinen Revolver gezogen. Aus den Augenwinkeln sah Paul einen vor Wut kochenden Styles heranstürmen und schob sich rasch dazwischen. Er konnte zwar verstehen, was Caine dazu bewogen hatte, die S.W.A.T-Mitglieder anzugreifen, aber er würde ihn auch nicht Styles überlassen. Er befahl den beiden Polizisten, die inzwischen ebenfalls wieder auf die Beine gekommen waren, Caine los zu lassen und auf ihre Posten zurückzukehren.
Dann zog er den Shaolin beiseite. „Was sollte das eben?“ Er bemühte sich, den Ärger aus seiner Stimme herauszuhalten.
Caine sah ihn mit diesem aufreizend idiotisch-unschuldigen Gesichtsausdruck an, der Paul schon auf der Hochzeitsfeier aufgefallen war. Doch in den dunklen Augen des Priesters war keine Spur von Naivität zu entdecken. Sie glühten mit kontrollierter Wut.
„Er wollte auf ihn schießen.“ Caines Stimme klang ruhig, doch ein warnender Unterton schwang in seinen Worten mit. „Auf meinen Sohn.“
In Pauls Ohren klang das wie eine Herausforderung. Er unterdrückte die zornige Antwort, die in ihm hochstieg.
>>‚So ist Peter einfach.’ Als würde *ich* meinen Sohn nicht kennen. Ich brauche keinen Caine, der mir erklärt, dass Peter wieder einmal den Helden spielen muss. Aber er ist auch der einzige, der sich mit Max Forresters verrückten Gedankengängen auskennt... Ja, *mein* Sohn. Peter ist mindestens ebenso mein Sohn wie Caines. Zwölf Jahre haben wir uns um ihn gekümmert – genauso lange wie Caine ihn hatte; wir haben schlechte Noten, Erfolge im Sport und den ersten Liebeskummer mit ihm geteilt. Annie hat seine verschrammten Knie verbunden, ihm sein Lieblingsessen gekocht und seine Hand gehalten, wenn er krank war. Ich habe unzählige Nächte in einem unbequemen Stuhl in seinem Zimmer verbracht, halb schlafend, halb immer auf Peter lauschend, um ihm bei den ersten Anzeichen eines Alptraumes aufzuwecken. Glücklicherweise wurden sie weniger, als Peter sich bei uns eingelebt hatte, sonst wäre ich heute schief und krumm. Kelly und Carolyn haben sich mit ihm gestritten und wieder versöhnt, ihn geärgert und gepiesackt. Das alles hat ihn zu einem Mitglied unserer Familie gemacht, zu meinem Sohn. Es lief alles gut. Peter hat als einer der jüngsten Absolventen die Akademie besucht und er ist seither ein verdammt guter Polizist geworden. Ein bisschen hitzköpfig manchmal, aber so ist Peter nun einmal. Es sah auch so aus, als hätte er sich mit Tyler endlich auf eine feste Beziehung eingelassen. Natürlich war er ein wenig merkwürdig, nachdem diese ganze Tan-Geschichte begann... aber ich hätte mir doch nie träumen lassen, dass sein *Vater* auftaucht. Verdammt, der Mann war fünfzehn Jahre tot und jetzt ist er plötzlich wieder da und will Peter zurück. Und dieser ganze mystische Kram. Kein Wunder, dass der Junge völlig durcheinander und hin- und hergerissen ist. Aber Caine ist einfach nicht zu greifen. Er taucht nur einmal in den Polizeiakten auf, als er in Utah wegen versuchten Mordes angeklagt wurde. Ansonsten scheint er nicht zu existieren. Nicht einmal Kermit mit seinen schier unglaublichen Verbindungen und seinem Talent, auch dem widerspenstigsten Computer Informationen abzutrotzen, kann etwas herausfinden. Die einzig offiziellen Dokumente, auf denen sein Name auftaucht, sind eine Heiratsurkunde - und Peters Geburtsurkunde, die sich bei den Adoptionspapieren befand. Es gibt nicht einen wirklichen Beweis, dass Caine der ist, der er vorgibt zu sein. Nur Peters unerschütterliche Überzeugung...<<
* * *
Paul starrte dem Priester verwundert nach. Caine hatte auf den Plan gezeigt und erklärt, dass sie dort Peter finden würden. Ohne ein weiteres Wort ging der Shaolin einfach weg. Mit einem Fluch warf Paul den Stadtplan in den Kofferraum und knallte den Deckel zu, dann folgte er ihm.
>>Für was zum Teufel hält sich dieser Mann eigentlich? Das ganze ist eine verdammte Zeitverschwendung. Auf diese Weise werden wir Peter und Maxwell nie finden. Dieses ganze Gerede über Peters „geheimen Ort“ ist doch nichts als Augenwischerei und Schöngeschwätz. Wir wissen doch beide, dass Caine keine Ahnung hat, was in Peters Kopf vorgeht. Er kennt nur den kleinen Jungen, der seinen Vater vergötterte. Aber Peter ist jetzt ein erwachsener Mann. Ein Polizist. Einer der Besten. Und jetzt versucht er, Peter auf seine Seite zurückzuziehen. Oh nein, natürlich nicht offen. Aber er lässt den Jungen seine Missbilligung spüren – und plötzlich fängt Peter an, zu zweifeln. Wenn ich nur nicht auf diesem nutzlosen Kongress in Cleveland gewesen wäre, als die Sache im Supermarkt passiert ist. Peter hätte fast seinen Job hingeworfen, und sicherlich hatte Caine da seine Finger drin. Hatte er Peter erst einmal aus dem Polizeidienst gelockt, wie lange hätte es dann wohl noch gedauert, bis er sämtliche Verbindungen des Jungen zu meiner Familie zertrennt hätte? Es ist nicht zu übersehen, dass Peter alles nur mögliche tun würde, um seinem Vater zu gefallen. Auch seinen Beruf aufgeben? Nicht, wenn ich es irgendwie vermeiden kann... Ich hoffe, Styles hat den Bus noch nicht gefunden. Er bringt es fertig und gibt den Befehl, auf Forrester zu schießen. Und dann ist auch das Leben der Geiseln in Gefahr...“
* * *
Die Luft schien noch immer zu vibrieren. Styles Schuss hatte die Stille in der außer Betrieb genommenen Kläranlage zerrissen. Noch immer hielten alle die Luft an und warteten auf eine Explosion, die nicht kam. Doch außer dem dumpfen Aufschlagen von Forresters Körper auf dem Betonboden des leeren Beckens war nichts zu hören.
Paul lehnte sich gegen die Brüstung der Balustrade, die das Becken in einigen Metern Höhe umlief. Seine Knie waren weich und er wusste nicht genau, ob es daran lag, dass er wie ein Verrückter hinter Caine hergehetzt war, der immer genau zu wissen schien, wohin sie gehen mussten – oder an seiner Erleichterung, dass sie alle noch am Leben waren. Sogar dieser Idiot Styles. Nur ein Wahnsinniger schießt auf einen Mann, der ein Glas mit Nitroglyzerin in der Hand hält. Oder es zumindest behauptet hat. Denn Forrester hatte das Glas fallen lassen, als er zusammensackte und aus dem Krankorb in das Becken stürzte. Es war also doch nur ein Bluff gewesen.
Dann sah er nach unten. An den Rand des Beckens gedrängt standen die Lehrerin und das Mädchen, die Forrester als Geiseln genommen hatte. Ein paar Schritte von ihnen entfernt, eine blutbefleckte Hand gegen seinen linken Oberarm gepresst, stand Peter. Verdammt, was war da unten in der Kanalisation passiert? Hatte er sich verletzt? Hatte Forrester auf ihn geschossen? Paul verfluchte die Sturheit seines Sohnes. Peter schien wie in Trance. Sein Gesicht war... Paul runzelte die Stirn. Sein Gesicht zeigte einen geradezu ehrfürchtigen Ausdruck. Worauf starrte er nur? Im gleichen Moment trat Caine aus dem Schatten. In der linken Hand hielt er einen kleinen Glaszylinder. Erst da wurde Paul klar, dass der Priester nicht mehr neben ihm stand. Wie hatte er es geschafft nach unten zu kommen? Sie hatten das Gebäude erst Sekunden vor dem Schuss betreten, Caine war ihm nur zwei Schritte voraus gewesen. Er musste in einem Moment, in dem niemand auf ihn geachtet hatte, über die Balustrade und nach unten ins Klärbecken gesprungen sein. Aber sogar dann schien es noch unmöglich, dass er das Becken so rasch durchquert und das Glas mit Nitroglyzerin aufgefangen haben konnte. Und trotzdem war es geschehen.
Als ob der Priester seinen Blick spürte, wandte er den Kopf und sah zu dem Polizisten hoch. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den Paul nur als triumphierend beschreiben konnte. Dann veränderten sich seine Züge wieder zu der gleichen nichtssagenden Maske, die er schon so oft auf dem Gesicht des Priesters gesehen hatte.
Styles und seine Männer erschienen unten im Becken. Während zwei neben der Leiche des Kidnappers Aufstellung bezogen, nahm Styles Caine sofort das Glas ab. Aber selbst er schien von dem Shaolin beeindruckt. Verdammt, was war nur an dem Priester, dass alle Welt so unglaublich beeindruckt von ihm war? Irgendwas war an dem Mann faul und irgendwann würde er dahinter kommen.
Pauls Hände schlossen sich um das rostende Eisengeländer, als er die Szene unter sich weiter beobachtete. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen trat Peter auf seinen Vater zu, der ihn in die Arme schloss. Es gab Paul einen Stich, als er sah, wie Peter erschöpft den Kopf an Caines Schulter legte. Der Priester schien irgendetwas zu ihm zu sagen, denn Peter lächelte und nickte. Ohne seinen Sohn los zu lassen, zog Caine etwas aus dieser schäbigen Tasche, die er offenbar immer bei sich trug. Aus der Entfernung von mehreren Meter konnte Paul nicht erkennen, was es war – doch es war wohl irgendetwas essbares, denn Peter öffnete den Mund und nahm ein, was Caine ihm gab. Peter hatte mehrfach erwähnt, dass sein Vater so eine Art Apotheker war und sich mit Kräutern auskannte. Trotzdem gefiel ihm das überhaupt nicht. Wenn Peter verletzt war, dann sollte sich das ein Arzt ansehen.
Endlich löste Paul sich aus seiner Starre und machte sich auf die Suche nach der Treppe nach unten, um sich zu den anderen zu gesellen.
* * *
Styles hatte ihn aufgehalten und sich ausgiebig darüber ausgelassen, dass er eine Beschwerde gegen Peters Verhalten bei der ganzen Sache einreichen würde. Dann war jedoch das Presserudel eingetroffen, es würde ihn nicht wundern, wenn jemand aus Styles Truppe die Information hatte durchsickern lassen. Und Captain Styles war abgedampft, um sich vor der Öffentlichkeit als Retter zu präsentieren. Es war Paul nur recht so. Dann konnte er endlich nach Peter sehen. Zwar hatte der gerufene Notarzt bestätigt, dass es sich nur um einen Streifschuss handelte, doch Paul hatte darauf bestanden, dass Peter sich in der Klinik gründlich untersuchen ließ. Wer wusste, mit welchem Dreck er da unten in der Kanalisation in Berührung gekommen war.
Am Empfang sagte ihm eine Krankenschwester, dass Peter und sein Vater sich in einem der Warteräume aufhielten. Sie wollte ihm eine Wegbeschreibung geben, doch Paul war schon zu oft im Krankenhaus gewesen – er dankte ihr und machte sich auf den Weg.
Der Warteraum war – abgesehen von Peter und Caine - leer bis auf einen alten Mann, der mit geschlossenen Augen in einer Ecke saß und zu schlafen schien. Paul blieb an der Tür stehen, sah ihn sich gewohnheitsmäßig an und es dauerte einen Moment, bis er den alten Apotheker wiedererkannte, bei dem Caine wohnte. Musste sich ja schnell herumgesprochen haben. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Peter und Caine.
Peters Jacke hing über die Stuhllehne, sein Hemd war offen und über die Schulter herabgezogen. Er saß vornüber gebeugt. Caine saß mit untergeschlagenen Beinen vor ihm auf dem Boden und begutachtete offenbar gerade den Verband am Oberarm seines Sohnes. Er rieb die Hände kurz aneinander und legte dann die Handflächen über die Verletzung. Sein Gesicht nahm für einen Moment einen angestrengten Ausdruck an, dann entspannten sich seine Züge. Paul bemerkte fasziniert, dass sich das gleiche in Peters Gesicht widerspiegelte. Als Caine die Hände sinken ließ, lächelte Peter, schlang den unverletzten Arm um die Schultern seines Vaters und zog ihn nach vorne, um ihn auf die Stirn zu küssen. Caine erwiderte das Lächeln und strich Peter das Haar aus der Stirn zurück.
Paul kam sich wie ein Eindringling vor. Die plötzliche Erkenntnis, dass er Peter vielleicht längst verloren hatte, bereitete einen fast körperlichen Schmerz. Er wandte sich ab, ohne sich bemerkbar zu machen – und begegnete dem aufmerksamen Blick des alten Apothekers, der offenbar seine Reaktion bemerkt hatte. Paul nickte ihm zu und verließ etwas zu hastig das Wartezimmer. Er fühlte sich mit einem Mal sehr müde und sehr alt. Ende
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