Gedankenverloren betrat er wieder die Wohnung. Jene Wohnung, in der Kwai Chang Caine drei Jahre lang gelebt und gearbeitet hatte. Und nun sollte dies sein Zuhause werden? Nun sollte er den Menschen in den Straßen von Chinatown helfen? Komm nach Chinatown. Frag nach Caine. Dies waren immer die Worte seines Vaters gewesen. Und jetzt? Jetzt sollten es seine werden? Langsam ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Sah all die Kräuter, Pflanzen und die Regale voller geheimnisvoller Fläschchen und Tinkturen, die sein Vater gemischt hatte. Er hatte in den letzten Jahren viel über Heilkunde gelernt. Aber würde er sich jemals alleine hier zurechtfinden können? Würde er wissen, was er brauchte, um einem kranken oder verletzten Menschen zu helfen, der ihn um seinen Rat bat? Würde er überhaupt gefragt werden? Oder würde er für immer im Schatten des großen Kwai Chang Caine stehen? Im Schatten des Mannes, der in dieser Gemeinde so bekannt war, wie kein anderer. Für viele war er doch nur sein Sohn, der Cop. Der Shaolin-Cop. Vorsichtig schob er die Ärmel seiner schwarzen Lederjacke hoch und betrachtete den Drachen und den Tiger, die nun für immer auf seine Unterarme gebrannt waren. Der Drache für die Weisheit und der Tiger für die Stärke. Sanft fuhr er mit den Fingerspitzen über die Wunden. Fast als wolle er sich so davon überzeugen, dass sie wirklich da waren. Diese Brandmale ließen nun jeden erkennen, dass er ein Shaolin-Priester war. Aber war er das wirklich? Vor wenigen Stunden war er noch ein Cop gewesen. Und jetzt sollte er ein Priester sein? Natürlich hatte er die Ausbildung absolviert und nun auch die Brände angenommen. Noch ein Jahr zuvor hatte er sich im Tempel dagegen entschieden den letzten Schritt zu gehen und war der Cop geblieben, der er bis dahin gewesen war. Schon damals hatte er Angst gehabt seinen Vater zu enttäuschen. Die Familie der Caines war immer den Shaolinweg gegangen. Aber war dies auch sein Weg? Jetzt ein Jahr später hatte er den Drachen und den Tiger zu sichtbaren Merkmalen seines Körpers gemacht. Merkmalen, die ihn den Rest seines Lebens begleiten würden. Aber hatte er dies nur getan, um seinem Vater zu helfen? Nur um ihm die Kraft zu geben, seinen größten Feind zu besiegen? Oder war es seine eigene Entscheidung gewesen? Eine Entscheidung gegen das Leben als Cop in Sloanville und für das Leben als Shaolin-Priester in Chinatown. Ja, in der letzten Zeit war er oft frustriert gewesen über Recht und Unrecht in dieser Stadt. Aber vielleicht hatte er jetzt doch zu schnell gehandelt? Er dachte an die vielen traurigen Gesichter auf dem Revier, als er sich von seinen Kollegen verabschiedet hatte. Auch er hatte seine Tränen nicht mehr zurückhalten können, als er ihnen versprochen hatte, immer für sie da zu sein, auch wenn er jetzt kein Cop mehr war. Er erinnerte sich an seine eigenen Worte. *Solltet ihr mal jemanden brauchen, sucht mein Spiegelbild.* So wie er in Gefahr immer das Spiegelbild seiner Mutter suchte. Trotzdem hatte es einfach unendlich wehgetan, sie alle so zu sehen. Aber hatte er überhaupt eine andere Wahl gehabt? Hätte er es nicht getan, wäre das Leben seines Vaters für immer verloren gewesen. Also hatte er ihm geholfen. Geholfen, weil er ihn zutiefst liebte. Geholfen, um nun ein weiteres Mal von ihm verlassen zu werden? Langsam und ganz still rollte eine glitzernde Träne über seine Wange. Sein Vater hatte gesagt, er sei nun der Meister und deshalb bräuchte er keinen Lehrer mehr. Aber vielleicht brauchte er einfach einen Vater? Einen Vater, zu dem er gehen konnte, wenn er verzweifelt war oder Hilfe brauchte. Einen Vater, der einfach nur für ihn da war. Noch einmal trat er auf die Dachterrasse und blickte in die Richtung, in der Kwai Chang Caine verschwunden war. Fast als wollte er beschwören, dass die vertraute Silhouette wieder am Horizont auftauchen würde. Aber nichts passierte. Mit einem Seufzen schloss er die Augen und atmete tief durch. *Sich um Menschen kümmern. Das können sie am Besten*, gingen ihm die Worte von Captain Simms durch den Kopf. Vielleicht war er doch der Richtige, um die Nachfolge seines Vaters anzutreten. "Komm nach Chinatown… Frag nach Caine… Ich werde dir helfen…", flüsterte er in die kalte, klare Winterluft. Noch kamen die Worte zögerlich über seine Lippen und fühlten sich irgendwie befremdlich an. Aber vielleicht würden sie bald ein Teil von ihm werden. Ein Teil von Peter Caine, dem Shaolin-Priester in Chinatown. Ende
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