Teil 1

Autor: Lost-Sheep
 

Mit vorsichtigen Schritten betrat sie die vertraute Wohnung. Sie spürte sofort, dass irgendetwas anders war als sonst. Was es war? Sie wusste es nicht. Noch nicht.

In ihrer Hand hielt sie einen blauen Umschlag. In silbernen Buchstaben prangte der Name "Caine" auf dem zarten Papier.

Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. Ein Gefühl, dass sie nicht begreifen konnte und gegen das sie machtlos war. Es war, als herrsche eine Kälte in den Räumen, die sonst immer mit Wärme und Geborgenheit erfüllt gewesen waren.

Dann blickte sie aus dem Fenster auf die Dachterrasse, auf der sie in den vergangenen zwei Jahren so viele glückliche und unbeschwerte Stunden verbracht hatte. Stunden mit Jamie, Peter und Caine. Sie waren keine Familie im üblichen Sinne, aber sie konnte sich keine bessere für ihren kleinen Sohn wünschen. Dieser Gedanke zauberte ihr ein sanftes Lächeln ins Gesicht.

Nur Momente später wurden ihre Züge wieder ernst, denn sie erblickte eine ihr sehr vertraute Gestalt, die scheinbar bewegungslos auf der Terrasse stand und ins Nichts zu blicken schien. In regelmäßigen Abständen bildeten sich weiße Atemwolken in der klaren, kalten Winterluft. Ansonsten konnte sie keinerlei Regung erkennen.

Hier stimmte wirklich etwas nicht.

Zögerlich trat sie ins Freie.

"Peter?" fragte sie zaghaft.

Im ersten Augenblick hatte sie den Eindruck der junge Mann habe sie gar nicht gehört, denn er blieb weiterhin regungslos stehen, den Blick von ihr abgewandt.

Als sie ihn gerade ein weiteres Mal ansprechen wollte, drehte er sich um und blickte ihr direkt ins Gesicht. Er war blass und seine Augen waren gerötet. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er noch vor wenigen Minuten geweint haben musste.

Was war hier los? Sie spürte wie langsam aber sicher Angst in ihr aufstieg. So hatte sie ihn noch nie erlebt… Und wo war sein Vater?

"Peter, was ist passiert?"

"Er ist weg", erklang die kaum hörbare Antwort.

Vor Schreck rutschte Mary der blaue Umschlag aus der Hand und fiel auf den kalten Steinboden.

"Er sucht meine Mutter."

Noch konnte die junge Frau nicht ahnen, was dies alles zu bedeuten hatte. Sie war immer davon ausgegangen Peters Mutter sei tot. Und jetzt sollte sie wieder lebendig sein?

Wortlos schob er die Ärmel seiner schwarzen Lederjacke hoch und sie erblickte die frischen Brandmale auf seinen Unterarmen. Den Drachen und den Tiger. Die Zeichen waren ihr vertraut, sie hatte genau diese Male auf Caines Unterarmen gesehen. Daher wusste sie auch, welche Bedeutung sie hatten. Peter war jetzt auch ein Shaolinpriester, wie sein Vater.

Aber wann war dies alles passiert? Vor knapp zwei Wochen hatte sie ihn doch noch auf dem Revier besucht.

Als würde er ahnen, was ihr gerade durch den Kopf ging, fuhr er fort.

"Ich habe beim Commissioner gekündigt. Ich habe meine Polizeimarke abgegeben."

Sie hatte immer gedacht sein Job würde ihm Spaß machen und er sei glücklich auf dem 101. Was hatte ihn nun bewogen, das Revier zu verlassen und dem Polizeidienst den Rücken zu kehren?

Mary wusste, dass es noch zu früh war für so viele Fragen. Sie spürte, dass Peter erst einmal zur Ruhe kommen musste.

"Er hat gesagt, ich sei jetzt der Meister… Sein Platz sei zu meinen Füßen"

Wieder wanderte sein Blick zum Horizont.

"Das hier sei meine Bestimmung."

Unsicher ging sie ein paar Schritte auf ihn zu.

"Und glaubst du das auch?"

Sie wusste nicht, wie er auf die Frage reagieren würde. Und vielleicht wünschte sie sich auch, sie hätte sie niemals ausgesprochen.

Der junge Mann atmete tief ein.

"Ich habe mich schon seit einer ganzen Weile gefragt, was meine Bestimmung ist. Schon damals, als ich mit Paps in den Shaolintempel gegangen bin, um meine Ausbildung zu beenden. Damals habe ich mich dagegen entschieden den letzten Schritt zu gehen… Jetzt war es wohl an der Zeit… Das einzige, was ich sicher weiß ist, dass ich den Menschen helfen will, ob als Shaolinpriester oder als Cop."

Sie sah in seine haselnussbraunen Augen. Vor wenigen Momenten hatten sie noch den Glanz ungeweinter Tränen gehabt. Aber jetzt strahlten sie wieder diese Wärme aus, die sie schon bei der ersten Begegnung mit ihm so fasziniert hatte.

Dann beugte er sich herunter, hob den Umschlag auf und sah sie fragend an.

"Das ist die Einladung zu meiner Geburtstagsfeier nächste Woche."

"Ich glaube nicht, dass Paps bis dahin zurück sein wird… Aber er wird zurückkommen."

Sie war erstaunt darüber, mit welcher Überzeugung er dies sagte. Hatte dieser letzte Schritt auf dem Weg zum Shaolinpriester auch sein Vertrauen in seinen Vater weiter bestärkt?

"Und jetzt mache ich uns erstmal einen Tee, bevor wir hier zu Eiszapfen erstarrt sind." Im nächsten Moment grinste er sie schief an. "Jetzt klinge ich schon wie Paps."

Bei dieser Bemerkung musste auch sie lächeln. Sie wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis Peter sich an seine neuen Lebensumstände gewöhnen würde. Und auch sie hatte noch so viele Fragen nach den Geschehnissen der letzten vierundzwanzig Stunden. Aber sie nahm sich feste vor, dem jungen Mann die Zeit zu geben, bis er bereit war darüber zu sprechen.

Sie hatte den Schmerz in seinem Gesicht gesehen, als er ihr sagte, dass sein Vater gegangen sei. Auch sie vermisste Kwai Chang Caine jetzt schon. Dennoch wusste sie, dass sie dies gemeinsam meistern würde. Und sie war sich sicher, dass ihr kleiner Sohn es im Handumdrehen schaffen würde Peter wieder zum Lachen zu bringen.

Ende


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