Teil 2

Autor: Lost-Sheep
 

Zum zweiten Mal an diesem Tag betrat sie die Wohnung. Jene Wohnung mit der sie so viele schöne Erinnerungen verband und deren Gesicht sich in den vergangenen vierundzwanzig Stunden unwiederbringlich verändert hatte.

Was sie ein weiteres Mal hierhin geführt hatte, wusste sie nicht. Es war einfach ein Gefühl gewesen. Ein Gefühl, dass sie wie eine unsichtbare Kraft getrieben hatte. Vielleicht wollte sie einfach in dieser schweren Zeit für Peter da sein, so wie er immer für sie und Jamie da gewesen war.

Draußen hatte bereits die Dämmerung eingesetzt. Der Himmel leuchtete in fast schon unwirklichen Orange- und Rottönen, die die Räume in ein wohlig warmes Licht tauchten und nichts mehr von der Kälte ahnen ließen, die sie bei ihrem letzten Besuch hier gespürt hatte.

"Wo ist Peter?", erklang auf einmal eine vertraute Kinderstimme neben ihr.

"Ich weiß es nicht, mein Schatz."

Mary spürte, wie wieder dieses ungute Gefühl in ihr aufstieg. Warum hatte Peter sie auch diese Mal nicht gehört? Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen noch einmal hierher zu kommen.

Dann fühlte sie eine kleine, warme Hand in der ihren und Augenblicke später betraten sie gemeinsam die Apotheke. Aber dort war niemand.

Mary ließ ihren Blick auf die Dachterrasse schweifen, wo Peter noch vor wenigen Stunden gestanden hatte. Aber auch dort konnte sie ihn dieses Mal nicht entdecken.

Vielleicht brauchte er einfach mal frische Luft, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen? Vielleicht war er auch bei Lo Si oder irgendwo in Chinatown unterwegs, um seiner Bestimmung nachzugehen und den Menschen zu helfen? Aber vielleicht… Nein, diesen Gedanken wollte sie gar nicht zu Ende führen. So etwas würde Peter niemals tun… Oder doch? Sie hatte den Schmerz und die Trauer in seinen Augen gesehen. Aber da war doch auch dieses Vertrauen in seinen Vater gewesen.

"Mama, Peter", drang eine Stimme an ihr Ohr und riss sie aus ihrer Gedankenwelt.

Dann nahm Jamie seine Mutter ein weiteres Mal an die Hand und führte sie in das Hinterzimmer der Apotheke. Was sie dort sah, zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen und sie spürte wie ein unbeschreiblich schönes Gefühl der Erleichterung ihren Körper durchströmte.

Der junge Shaolinpriester lag auf dem Futon und schlummerte seelenruhig. Seine tiefen Atemzüge erfüllten den Raum und im letzten Schein des Tageslichts konnte Mary die Umrisse der Brandmale auf seinen Unterarmen erkennen.

"Peter müde", stellte ihr kleiner Sohn mit einem Grinsen fest.

Dann schlich er so leise er konnte zum schlafenden Peter und legte ihm seinen geliebten Teddy auf das Kopfkissen. Jenen Teddy, den Peter ihm damals im Krankenhaus geschenkt hatte und ohne den er seit diesem Tag niemals die Wohnung verließ. Es schien, als würde er so immer ein Stück seines Patenonkels bei sich tragen.

"Was ist das?" Jamie zeigte auf die Brandmale und sah seine Mutter mit seinen großen, blauen Augen fragend an.

"Weißt du, das ist so wie bei Caine. Er hat doch auch einen Drachen und einen Tiger auf seinen Unterarmen. Das gibt ihnen Kraft und Stärke. Das ist so ähnlich wie mit deinem Teddy."

"Ach so… Wo ist Caine?"

Mary hatte gewusst, dass der kleine Knirps diese Frage irgendwann stellen würde.

"Er ist auf eine Reise gegangen. Und jetzt wohnt Peter hier in seiner Wohnung und passt auf sie auf."

"Caine kommt wieder?"

Sofort dachte Mary an Peter und mit welcher Überzeugung er gesagt hatte, dass sein Vater zurückkommen wird.

"Ja, natürlich kommt er wieder. Er hat dir doch versprochen, dass er die Kung Fu beibringt, wenn du größer bist. Und was Caine verspricht, das hält er auch."

"Jajaja." Jamie strahlte über das ganze Gesicht und Momente später schlang er seine kleinen Ärmchen um die Beine seiner Mutter.

Mary strich ihm sanft über seine blonden Haare und sie war unendlich dankbar den kleinen Mann in ihrem Leben zu haben. Er hatte nun wirklich keinen einfachen Start ins Leben gehabt. Die ersten Monate mit John waren schrecklich gewesen. Sie hatte furchtbare Angst gehabt, er würde Jamie etwas antun. Wenn sie jetzt sah, was für ein wunderbares Wesen aus dem hilflosen Baby von damals geworden war, konnte sie es manchmal kaum glauben. Es erfüllte sie mit unbändigem Stolz. Nicht selten war sie über den kleinen Menschen, der ihr eigen Fleisch und Blut war, mehr als erstaunt. Für seine knapp drei Jahre hatte er schon ein unglaubliches Gespür für die Bedürfnisse seiner Mitmenschen. Sie wusste, dass ihr Sohn etwas ganz besonderes war.

"Lassen wir Peter schlafen. Er hatte einen anstrengenden Tag."

"Ok. Morgen wieder kommen."

"Und was ist mit deinem Teddy?"

"Passt auf Peter auf."

"Das ist sehr lieb von dir."

Dann verließen sie die Wohnung so unbemerkt, wie sie gekommen waren.

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Die ersten sanften Strahlen der Wintersonne schienen durch das Fenster und kitzelten den jungen Mann unerbittlich an der Nase,

Mit einem leisen Seufzen öffnete er langsam die Augen und blickte direkt auf ein braunes Fellknäuel, das auf seinem Kopfkissen lag und ihn mit schwarzen Knopfaugen ansah.

Peter blinzelte ein paar Mal und rieb sich die Augen, denn er war sich nicht sicher, ob er noch träumte. Aber der kleine, braune Bär blieb unverrückbar an seinem Platz liegen und grinste ihn an.

Der Gedanke an den Besitzer des Teddys zauberte dem Shaolinpriester ein Lächeln auf die Lippen.

"Danke Jamie", flüsterte er in die Stille des Raumes.

Und mit dem Wissen nicht alleine zu sein, auch wenn sein Vater fort war, fiel er Augenblicke später wieder in einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Ende


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