Nachdenklich saß der junge Mann in seinem Auto und betrachtete das Haus, in dem er so viele glückliche Jahre verbracht hatte. Hier hatte er nach dem schmerzlichen Verlust seines Vaters und drei qualvollen Jahren im Waisenhaus neuen Lebensmut bekommen. Und hier hatte er die Entscheidung getroffen, die Polizeiakademie zu besuchen und ein Cop wie sein Pflegevater zu werden. Doch seit gestern war er dies nicht mehr. Seit gestern war er ein Shaolinpriester und hatte seine Polizeimarke, die er so lange bei sich getragen hatte, abgegeben. Jetzt war es an der Zeit, seiner Pflegemutter zu erzählen, was in den vergangenen sechsunddreißig Stunde passiert war. Er ahnte bereits, dass sie schon länger gespürt hatte, dass ihn irgendetwas beschäftigte und dass er unzufrieden gewesen war. Was sie sagen würde, wenn er sie nun vor vollendete Tatsachen stellen würde, wusste er nicht. Er wusste nur, dass sie all ihre Kinder zu selbstständigen Menschen erzogen hatte, die ihre eigenen Entscheidungen trafen und sich immer auf die Unterstützung ihrer Eltern verlassen konnten. Peter atmete noch einmal tief durch und stieg dann aus seinem Stealth. Noch bevor er die Tür erreicht hatte, öffnete sich diese. "Hallo, mein Schatz." "Hallo Mom." Dann gab er ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. "Komm rein. Der Kaffee ist gleich fertig." Einige Minuten später saßen sie auf dem Sofa im Wohnzimmer. Wie Peter bereits vermutet hatte, spürte Annie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ihr Sohn war merklich stiller als sonst. Ein untrügliches Zeichen bei dem ansonsten so redseligen, jungen Mann. "Ist alles in Ordnung? War etwas auf dem Revier oder mit Jamie und Mary?" Anstatt seiner Mutter zu antworten, schob der Shaolinpriester die Ärmel seines Hemds hoch, nahm dann Annies Hand und platzierte sie oberhalb der Brandmale. Sanft fuhr die zierliche Frau mit den Fingerspitzen über seine Haut und fühlte deutlich die Unebenheiten, die sich auf seinen Unterarmen abzeichneten. "Der Tiger und der Drache. So wie bei deinem Vater." Annie wusste sofort was dies bedeutete. Sie hatte die Entwicklung ihres Sohnes, besonders in den letzten zwei Jahren, beobachtet und gespürt, dass er sich sehr zu den Praktiken der Shaolin hingezogen fühlte. Darüber hinaus hatte er bereits erstaunliche Fähigkeiten entwickelt, sowohl körperlich als auch mental. Schon einmal hatte er kurz davor gestanden ein Shaolinpriester zu werden. Damals hatte jedoch das Cop-Herz stärker in seiner Brust geschlagen. Und so war er ein Jahr der Shaolin-Cop in Chinatown gewesen. Aber nun war er endgültig den Weg seines Vaters gegangen. Den Weg den die Familie Caine immer gegangen war. Annie horchte für einige Momente in sich hinein und sie musste sich selber eingestehen, dass sie nicht wirklich überrascht war. Natürlich, Peter war immer ein guter Cop gewesen, ein sehr guter sogar. Aber es hatte auch immer Zeiten gegeben, in denen er frustriert gewesen war. Auch schon damals, als er noch unter seinem Pflegevater gearbeitet hatte. Peter hatte es einfach noch nie ertragen können Ungerechtigkeit zu sehen und hilflos daneben zu stehen Und, dass die Justiz in dieser Stadt, so wie überall, nicht immer die richtigen Entscheidungen traf, war kein großes Geheimnis. "Du hast es geahnt? Habe ich Recht?" Annie lächelte ihn an. "Es kam nicht völlig unerwartet… Ich bin wirklich stolz darauf, dass du eine solch starke Entscheidung getroffen hast. Alles was für mich zählt ist, dass du glücklich bist, egal was du tust." "Du bist also nicht enttäuscht?" "Schatz, das könnte ich niemals sein." "Danke Mom", flüsterte er, zog sie dann in eine liebevolle Umarmung und hielt sie für einige Augenblicke ganz fest. "Paps ist weg", sagte er mit leiser Stimme, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten. Annie sah ihn erstaunt an. "Lo Si hat ein Foto von meiner Mutter. Sie soll noch leben und sich in Paris aufhalten." "Ich dachte immer, sie sei tot." "Ja, das haben wir alle geglaubt. Ich habe sie ja sogar damals in der Bardowelt gesehen." "Aber du kannst verstehen, dass er sie suchen muss?" "Zuerst war ich sehr verletzt, dass er mich ein weiteres Mal verlassen hat und mich hier mit der Apotheke und allem alleine lässt… Aber nachdem ich mich lange mit Mary unterhalten und eine Nacht drüber geschlafen habe, kann ich nachvollziehen, dass er nicht anders konnte… Aber er wird wieder kommen. Das hat er mir versprochen." "Dann wird er es auch tun. Paul wird auch eines Tages wieder da sein… Du darfst niemals die Hoffnung verlieren." Peter musste leicht grinsen. "Ich frag mich gerade, wer hier der Shaolin-Priester ist?" "Tja, dein Vater und du scheinen wohl auf mich abzufärben." Dann wurde der junge Mann wieder ernst. "Was Paul wohl dazu sagen würde…" Vorsichtig tastete Annie nach seiner Hand und nahm sie in die ihre. "Er wäre genauso stolz wie ich. Du weißt, dass er deinen Vater immer sehr respektiert und bewundert hat, für das, was er getan hat. Auch wenn er es nicht immer verstanden hat. Damals als du im Krankenhaus warst, nach dem Sturz, hat er dir das Leben gerettet. Das hat Paul ihm nie vergessen. Und auch kurz bevor er uns verlassen hat, als dein Vater in die Vergangenheit gereist ist, um das Tagebuch zu retten… Glaube mir, er würde dich in deiner Entscheidung voll und ganz unterstützen." "Danke Mom… Ich wünschte nur, ich könnte es von ihm selber hören." "Das wirst du ganz sicher… Aber jetzt lass uns erst einmal einen Kaffee trinken. Oder darf es jetzt nur noch Tee sein?" Bei dieser Bemerkung musste Peter lachen. "Nein, keine Sorge. Auf meinen geliebten Kaffee werde ich auch als Priester nicht verzichten. Den Tee überlass ich gerne meinen Patienten." Annie erhob sich vom Sofa, um in die Küche zu gehen. "Soll ich?" "Nein, bleib du ruhig sitzen, ich mache das schon." Mit einem zufriedenen Lächeln lehnte sich der junge Shaolin zurück und war unendlich dankbar dafür Menschen wie Annie, Mary und Jamie in seinem Leben zu haben. Menschen, die ihn einfach liebten, egal was er darstellte oder was er besaß. Die ihn einfach liebten, weil er Peter war. Ende
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