Autor: Lost-Sheep
 


Mit einem Seufzen legte Mary das Telefon auf den Küchentisch und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Gerade hatte die Kanzlei angerufen und sie gebeten heute Nachmittag noch einmal für zwei Stunden zu erscheinen, um wichtige Papiere für eine morgige Verhandlung fertig zu machen. Aber wer sollte dann Jamie aus der KiTa abholen?

Im nächsten Moment griff sie erneut zum Telefon, ließ es aber nur Augenblicke später wieder sinken ohne auf "Anrufen" gedrückt zu haben. Auf dem leuchtenden Display stand "Peter Handy". Vor wenigen Monaten hätte sie ihn einfach angerufen und gefragt, ob er sich um sein Patenkind kümmern könnte.

Aber jetzt? Jetzt hatte er eine eigene kleine Familie und Mary hatte bemerkt, dass sie seitdem immer häufiger zögerte, ihren besten Freund um Hilfe zu bitten, auch wenn Peter und Kendra ihr versichert hatten, dass sie immer und überall für sie und Jamie da sein würden.

Ein Klingeln riss sie aus ihren Gedanken. Eigentlich erwartete sie heute keinen Besuch. Vorsichtig öffnete sie die Tür.

"Das glaube ich jetzt nicht. Bist du es wirklich?" Mit diesen Worten fiel sie dem älteren Mann strahlend um den Hals. "Caine. Ich freu mich so, dich endlich wieder zu sehen."

"Ich freue mich auch", antwortete er mit einem leichten Grinsen.

"Aber jetzt komm erst einmal rein. Seit wann bist du wieder da?"

"Ich bin vor zwei Tagen zurückgekommen."

"Du hast uns wirklich gefehlt in den letzten sechs Monaten."

Der Priester lächelte die junge Frau an. "Ihr habt mir auch gefehlt."

Wenige Augenblicke später hatten sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht.

"Und Peter?" Mary blickte den Shambalah-Meister an. "Wie hat er deine Rückkehr verkraftet?"

"Wir haben uns gestern sehr lange unterhalten. Er hat mir gesagt wie schwer es für ihn war… Und wie sehr du ihm geholfen hast." Dann nahm er ihre Hand in die seine und drückte sie sanft. "Und dafür möchte ich dir aus tiefstem Herzen danken. Mein Sohn kann wirklich froh sein, eine Freundin wie dich zu haben"

Mary spürte wie ihre Wangen warm wurden. "Das ist doch selbstverständlich."

"Für viele wäre es das nicht."

"Ich bin immer für meine Freunde da, auch in schwierigen Zeiten."

Caine lächelte sie an. "Und wie geht es Jamie?"

"Unserem kleinen Energiebündel geht es prächtig. Er ist gerade in der KiTa und hält die Erzieherinnen auf Trab." Die junge Mutter lachte leise.

"Soll ich ihn abholen? Das wäre sicherlich eine große Überraschung."

"Sag mal, kannst du Gedanken lesen? Das wäre wirklich meine Rettung. Ich muss nämlich noch einmal ins Büro."

"Aber das mache ich doch gerne."

"Er wird sich überschlagen vor Freude. Er hat so oft nach dir gefragt und wann du ihm endlich Kung Fu beibringst. Ich werde seine Erzieherin anrufen und Bescheid sagen, dass du kommst."

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Zwei Stunden später betrat Kwai Chang Caine die Kindertagesstätte. Im Flur mischten sich helle Kinderstimmen mit ausgelassenem Lachen und ein paar bestimmten Worten der Erzieherinnen, um die Rasselbande im Zaum zu halten. An den Wänden hingen bunte Bilder, die die Kinder in den vergangenen Jahren erstellt hatten. Dann blieb der Priester vor einem großen Baum aus Pappkarton stehen, der an der Backsteinwand hing. Dem braunen Stamm schloss sich eine leuchtend grüne Krone an, auf die rote Äpfel geklebt waren. In jedem von ihnen befand sich ein Kinderfoto. Sofort fiel sein Blick auf das lachende Gesicht von Jamie.

Dann trat er ein paar Schritte zur Seite und blickte durch das Glasfenster, das sich in der roten Tür befand. In dem Raum tummelten sich ungefähr zwanzig kleine Jungen und Mädchen, die damit beschäftigt waren das Chaos, das sie im Laufe des Tages verursacht hatten, wieder zu beseitigen. Da wurden Malstifte eingepackt, Papierschnipsel in den Mülleimer befördert, Spielekartons sorgsam aufgestapelt und Kuscheltiere wieder an ihren Platz gesetzt.

Eine Weile beobachtete Caine das bunte Treiben wohlwollend. Dann entdeckte er einen blonden Schopf, der hinter einem der zahlreichen niedrigen Regale auftauchte, die als Raumtrenner aufgestellt worden waren. Er wusste sofort zu wem dieser Strubbelkopf gehörte und ein leichtes Lächeln zog sich über sein Gesicht. Ja, er hatte den kleinen Knirps vermisst, der ihn immer mit so wachen Augen ansah und soviel Glück und Freude in das Leben seines Sohnes und das seine gebracht hatte.

Auf einmal verharrte der kleine Mann mitten in der Bewegung, als würde er spüren, dass er beobachtet wurde, stellte sich auf die Zehenspitzen und linste mit seinen blauen Augen über das Holzregal hinweg. Im nächsten Moment traf sein Blick den des Priesters und dann gab es kein Halten mehr.

"Caaaaiiiiiinnnnneeee" rief er durch den ganzen Raum. So schnell ihn seine Füße tragen konnten, rannte er zur Tür und riss sie auf. Dann schlang er seine Arme um den Shambhala-Meister. "Endlich bis du wieder da. Hab dich sooooo vermisst." Sanft strich dieser ihm über seine weichen Haare. "Ich hab dich auch vermisst, mein Kleiner."

"Jetzt lass ich dich nie mehr nicht los."

Caine spürte wie eine unbändige Freude seinen Körper durchströmte. Dann blickte er runter. "Aber wie soll ich dir dann Kung Fu beibringen?"

Jamie löste die Umarmung und sah ihn an. "Ok. Aber nicht wieder weg gehen."

Dann kam eine der Erzieherinnen auf die Beiden zu. "Sie müssen Mr. Caine sein. Mrs. Waters hat mir gesagt, dass sie kommen würden." Sie reichte ihm die Hand. "Ich bin Miss Johnson."

Der Priester nickte ihr freundlich zu und schüttelte ihre Hand. "Guten Tag."

"Jamie hat uns schon erzählt, dass sie ihm Kung Fu beibringen wollen und dass er schon viel bei ihrem Sohn gelernt hat." Dann blickte sie ihn erwartungsvoll an. "Vielleicht hätten sie auch mal Lust den anderen Kindern hier etwas davon zu erzählen?"

Caine lächelte sanft. "Das würde ich gerne tun."

Nur zehn Minuten später saß Caine auf dem Fußboden des Raumes umringt von einer Schar Kinder, die ihn fasziniert anblickte, während er ihnen eine Geschichte aus dem alten China erzählte.

Es war, als würde sich die Ruhe, die Caine ausstrahlte, auf die Kinder übertragen. So still hatten ihre Erzieherinnen sie wirklich selten gesehen.

"Was ist das?" fragte ein kleines Mädchen, als die Geschichte zu Ende war und zeigte auf Caines Brandmale. Den Drachen und den Tiger.

"Die beschützen Caine und geben ihm Kraft und Stärke." Jamie dachte kurz nach. "So wie deine Puppe oder mein Bär." Dann blickten blaue Augen fragend in Schokobraune.

Caine nickte. "Das hast du gut erklärt. Aus dir wird mal ein weiser Lehrmeister."

Jamie grinste triumphierend. "Hat Mama mir gesagt. Hab ich bei Peter gesehen."

"Deine Mama ist eine sehr kluge Frau."

"Ich weiß", antwortete der kleine Mann stolz.

Sanft stieß Caine mit der Faust gegen Jamies Wange, so wie er es schon unzählige Mal bei seinem Sohn getan hatte.

Die Lehrstunde hatte alle so in ihren Bann gezogen, dass niemand die Eltern bemerkt hatte, die wartend in der Tür standen und alle ein leichtes Lächeln auf den Lippen hatten.

Miss Johnson stand vom Boden auf. Auch sie hatte die Geschehnisse um sich herum in den letzten Minuten völlig vergessen. "Los Kinder, eure Eltern warten schon. Ich bin mir sicher Caine wird uns bald wieder besuchen."

Die Kinder sprangen auf, nur Jamie und Caine blieben noch sitzen. Nachdem sich alle verabschiedet hatten und der Priester mehr als ein dutzend Mal versprechen musste bald wieder zu kommen, kehrte Ruhe in der KiTa ein.

Dann erhoben sich auch der Meister und sein junger Schüler. "Was meinst du, sollen wir noch ein wenig in meine Apotheke gehen? Peter ist bestimmt auch da."

Der kleine Junge strahlte. "Au ja."

"Ich möchte mich bei ihnen bedanken. Das war wirklich toll, Mr. Caine." Miss Johnson reichte ihm die Hand zum Abschied.

"Es hat mir auch große Freude bereitet… Und nennen sie mich doch bitte Caine."

Eine leichte Röte zog sich über die Wangen der jungen Frau. "Aber gerne doch. Also Caine… Aber nun möchte ich sie nicht länger aufhalten. Bis morgen, Jamie." Dann wandte sie sich Caine zu. "Und wir sehen uns auch bald wieder? Vielleicht nächste Woche, wenn es ihnen Recht ist?"

"Ich werde da sein", antwortete der Priester.

"Kommt Peter auch?" fragte Jamie.

"Da musst du ihn fragen." Caine dachte kurz nach. "Aber da er dir eh keinen Wunsch abschlagen kann, kommt er bestimmt gerne mit."

Der kleine Knirps lachte nur zufrieden. Dann verließen Caine und Jamie den Raum.

"Bye bye Miss Johnson."

"Auf Wiedersehen." Caine nickte ihr noch kurz zu.

Die junge Frau blickte den Beiden hinterher. Dieser Priester hatte wirklich etwas Magisches an sich und sie war schon mehr als gespannt auf den Sohn dieses Mannes. Vielleicht sollte sich mal etwas Neues zum Anziehen gönnen. Und ein Besuch beim Friseur war auch schon längst mal wieder fällig. Mit einem Lächeln schnappte sie sich ihre Tasche und machte sich auf den Weg in die Stadt.

Ende


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