Schwungvoll öffnete Mary die Tür. "Guten Abend, Peter! Schön, dich zu sehen! Komm doch bitte herein." "Hallo Mary. Nein danke, ich muss gleich wieder los. Ich wollte mich nur erkundigen, wie's euch geht und die Kräutersalbe für Jamies Sonnenbrand vorbeibringen, die Paps mir mitgegeben hat. Leider habe ich's nicht früher geschafft, im Revier war wieder mal die Hölle los..." *Genauso siehst du auch aus, du hast bestimmt wieder eine 12-Stunden-Schicht hinter dir*, dachte Mary. Laut sagte sie: "Jamie geht's schon wieder besser, war ja nur ein leichter Sonnenbrand. Ich habe ihn gerade ins Bett gebracht und ihm seine Lieblings-Gute-Nacht-Geschichte über den Bären und das Schafi im Gewitter vorgelesen, aber er ist noch wach. Er wird sich freuen, wenn du noch kurz bei ihm reinschaust." Sie zog Peter einfach in die Wohnung und schloss die Tür hinter ihm. "Geh nur durch ins Kinderzimmer, ich nehme dir die Salbe ab." "Peter! Peter!" Ein Wirbelwind im gestreiften Pyjama sauste plötzlich wie der Blitz den Gang entlang und sprang in die geöffneten Arme seines Patenonkels. Der hob ihn hoch und wirbelte ihn herum. "Hallo du Wildfang! Geht's dir wieder gut?" Der kleine Mann nickte eifrig. "Ja, ja! Morgen wieder baden will!" Peter lachte und gab ihm einen Kuss. "Na, bei dieser Hitze ist das kein Wunder, es macht ja auch Spaß, im Wasser zu planschen. Aber jetzt geht's erstmal ins Bettchen. Komm, ich nehme dich Huckepack." Während die beiden einträchtig in Richtung Kinderzimmer abzogen, verschwand Mary in der Küche und richtete schnell einen kleinen Imbiss. Zehn Minuten später kam Peter, ein glückliches Lächeln auf den Lippen, aus Jamies Zimmer geschlichen. "Er schläft jetzt süß und selig, mit seinem Bär im Arm. Am liebsten hätte ich mich dazu gelegt." Er gähnte herzhaft. "Oh, entschuldige bitte, ich wollte nicht unhöflich sein". Mary wehrte ab: "Du musst dich doch nicht entschuldigen, du hast garantiert wieder einen schweren Arbeitstag hinter dir. Ich wette, du hast noch nicht mal zu Abend gegessen." "Nein, ich wollte auf dem Heimweg schnell einen Hotdog einwerfen..." "Ja, sowas in der Art dachte ich mir schon.
Kommt gar nicht in Frage, ich habe dir ein paar Brote und ein bisschen
Rohkost gemacht, das schmeckt besser und ist gesünder", erwiderte
Mary und lotste ihn energisch ins Wohnzimmer. Auf einmal fiel ihm ein Stapel Reiseführer und Karten auf, die auf einem kleinen Hocker neben dem Sofa lagen. "'Kinderfreundliche Hotels in Chicago', 'Die Großen Seen erkunden'", las er laut. "Machst du Urlaubspläne?" "Ja, stell dir vor, ich fahre mit Jamie für eine Woche nach Chicago. Ich bin schon furchtbar aufgeregt." Mary wirkte auf einmal ganz aus dem Häuschen. "Ich glaube, ich habe dir schon mal von meinem Jugendschwarm Dan erzählt? Dan Lennox?" Peter dachte angestrengt nach. "Ja, ich erinnere mich dunkel... Ist das nicht der Sohn eurer Nachbarn, ein paar Jahre älter als du? Der jetzt bei einer großen Versicherung arbeitet und den du letztes Jahr nach langer Zeit wiedergetroffen hast, als du bei deinen Eltern zu Besuch warst?" "Genau der. Er hatte damals gerade eine Kollegin geheiratet, und die beiden hatten auf dem Rückweg von ihrer Hochzeitsreise Dans Vater besucht. Vor kurzem haben sie ihr erstes Kind bekommen, und gestern rief Dan an, um mich zur Taufe in zwei Wochen einzuladen. Ich freue mich sehr!" Mary strahlte glücklich. "Und weißt du, was das tollste ist? Meine Eltern sind auch eingeladen. Mein Vater wird zwar zu Hause bleiben - du weißt, er hat wahnsinnige Flugangst - , aber Mutter wird kommen. Wir beide ziehen zusammen ins Hotel und kümmern uns abwechselnd um Jamie, so hat der immer Gesellschaft und ab und zu kann eine von uns auch mal was alleine unternehmen, ohne Kind. So haben wir alle was von unserem ersten gemeinsamen Urlaub." "Das klingt ja wirklich toll! Ich freue mich für dich. Schön, dass du auch einmal ein bisschen rauskommst aus Sloanville", gratulierte Peter. "Wow, Chicago, das ist schon eine ganz andere Welt als unser beschauliches Städtchen hier." "Höre ich hier eine gewisse Sehnsucht heraus? Dann komm doch mit, du hast sicher genügend Überstunden auf deinem Konto, und Jamie wird schwer begeistert sein." "Ja, schon, und ich wollte auch immer mal nach Chicago", seufzte Peter. "Aber trotzdem kann ich nicht so einfach eine ganze Woche am Stück verschwinden, das Verbrechen in Chinatown nimmt sich ja auch keine Auszeit. Leider." Noch ein schwerer Seufzer. Mary widersprach. "Ach was, du kannst nicht arbeiten bis zum Umfallen, irgendwann muss sich jeder mal erholen. Sloanville wird schon nicht untergehen, wenn du mal eine Woche nicht da bist. Dan und Zoe würden sich auch freuen, Jamies Patenonkel endlich kennenzulernen, von dem ich ihnen schon soviel erzählt habe." Plötzlich lächelte sie schelmisch und warf Peter einen neckischen Blick zu. "Oder liegt es an der Gesellschaft? Hast du womöglich Angst, ich vereinnahme dich?" Nun musste auch Peter grinsen. "Keine Sorge,
da könnte ich mich schon wehren..." "...hallo Peter, träumst du? Erde an Peter, bitte kommen!" unterbrach Marys Stimme seine Überlegungen. Er fuhr auf. "Oh, entschuldige bitte, ich war gerade in Gedanken, was hast du gesagt?" "Ja, das habe ich gemerkt, du warst meilenweit weg", kommentierte Mary trocken. "Ich meinte gerade, du würdest dich sicher gut mit Dan verstehen." *** Als Peter gegangen war, dachte Mary noch einmal über ihre Unterhaltung mit Peter nach und kam ins Grübeln. Wie Dan hatte sie einmal an einem Punkt gestanden, wo sie nicht mehr weiter wusste und verzweifelt war. Aber sie hatte Peter kennengelernt, und dank seiner Hilfe ging es ihr jetzt wieder gut. Dafür würde sie ihm ewig dankbar sein. Aber wie leicht hätte es auch anders ausgehen können! Sie schauderte bei dieser Vorstellung. *Dan hatte genau wie ich Pech in der Wahl seiner Beziehungen. Bei mir war es der falsche Partner, bei Dan die falschen Freude. Er geriet in eine Clique von Kindern gut betuchter Eltern, die keinen Gedanken daran verschwendeten, dass andere Leute sich nicht unbedingt alles leisten können. Wer nicht genug Geld hatte und nicht mithalten konnte, gehörte eben nicht dazu. Weil Dan nicht genug Geld hatte, fing er mit kleinen Schwindeleien an, um sein Einkommen zu erhöhen, und so kam es wie es kommen musste.* Mary war damals aus allen Wolken gefallen, als sie von Dans Verhaftung wegen Betrugs erfahren hatte. Sie erinnerte sich noch genau an den Brief, in dem ihre Mutter ihr davon berichtet hatte (Mary war kurz zuvor mit der Schule fertig geworden und von zu Hause ausgezogen). So gut es aus der Ferne ging, hatte sie den Prozess mitverfolgt, immer in der Hoffnung, alles würde sich als Justizirrtum herausstellen. Aber Dan hatte sämtliche Verbrechen gestanden und war zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Es hatte sie sehr geschmerzt, dass der gutaussehende junge Mann, für den sie schon als kleines Mädchen heimlich geschwärmt hatte, nun als gemeiner Krimineller im Gefängnis saß. Umso erfreuter war sie gewesen, als sie letztes Jahr über Dans Vater von seinem neuem Leben als ehrlicher Mensch gehört hatte. Und nun war er verheiratet und hatte ein selbst ein Kind – zusätzlich zu den drei "Großen", den Nichten und dem Neffen seiner Frau Zoe. Mary freute sich sehr auf die Taufe des kleinen George Daniel. Nur schade, dass Peter nicht mitkommen konnte. Sie wünschte wirklich, Peter und Dan würden sich kennenlernen. Nicht nur, weil sie gute Freunde werden könnten, sondern auch weil ihr letztes Jahr Dans frappante Ähnlichkeit mit Peter aufgefallen war. Sie schmunzelte. *Er könnte glatt für Peters älteren Bruder durchgehen. Ich würde zu gern erleben, was für ein Gesicht die beiden machen, wenn sie sich zum ersten Mal begegnen.* *** Zwei Wochen später brachte Peter die beiden
zum Flughafen, Mary hatte ihn darum gebeten. (*Als ob ich mir das hätte
nehmen lassen!*) Ganz Kavalier trug er ihnen natürlich das Gepäck
zum Check-In-Schalter und blieb noch bei ihnen in der Schlange. Er scherzte
mit Jamie und verkürzte dem Kleinen die lästige Warterei. So
merkte er überhaupt nicht, dass sich Mary immer wieder heimlich umsah,
so als warte sie auf etwas. Als nur noch zwei Leute vor ihnen waren, atmete
sie plötzlich erleichert auf und fing an zu winken. "Da ist
er ja endlich. Kermit, huhu, Kermit, hier sind wir!" Und schon war Kermit wieder verschwunden. Mary und Jamie lachten über Peters verdutztes Gesicht, dem buchstäblich die Kinnlade heruntergefallen war. "Tja, mein Lieber, sonst reißt du dir immer die Beine aus, um Jamie und mir zu helfen, heute haben wir eine kleine Überraschung für dich. Wie ich sehe, ist sie gelungen. Hier ist dein Ticket." Und Peter würde Dan doch kennenlernen... Ende
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