Langsam rollte der blaue Stealth in die vertraute Einfahrt. Der Kies knirschte unter den breiten Reifen und wenige Augenblicke später kam der Wagen zum Stehen. Das Motorengeräusch verstummte und kurz darauf öffnete sich die Tür mit einem leisen Klacken. Der junge Mann blieb noch einige Momente in seinem Auto sitzen und blickte auf das Haus, in dem er viele schöne Stunden im Kreise seiner Familie verlebt hatte. Doch seit dem Tag, an dem Paul verschwunden war, zog es Peter und seine beiden Schwestern Kelly und Carolyn nur noch selten an diesen Ort. Vielleicht wollten sie einfach nicht daran erinnert werden, wie schmerzlich sie ihren Vater auch jetzt, nach fast drei Jahre, noch vermissten. Dieses Haus steckte so voller Erinnerungen, dass man sich den Gedanken an Paul hier unmöglich entziehen konnte. Es war für alle immer "Pauls Hütte" gewesen und sie würde es auch bleiben, ganz egal, wie lange sie noch auf seine Rückkehr warten mussten. Mit einem leisen Seufzen stieg der junge Sozialarbeiter aus dem Auto. Mit geschlossenen Augen atmete er die frische Waldluft ein, die jetzt im Herbst schon empfindlich kühl war und ihn kurz frösteln ließ. Wenige Minuten später betrat er das Haus. Alles war wie immer. Wirklich wie immer? Nein, es roch nach Rauch. Kaltem Rauch. So als hätte im Kamin noch bis vor wenigen Stunden ein knisterndes Feuer gebrannt. Um ganz sicher zu gehen, machte der junge Mann eine Runde durch alle Räume, konnte aber keine weiteren Auffälligkeiten bemerken. Wahrscheinlich war es nur eine arme Seele gewesen, die in der kalten Nacht eine schützende Unterkunft gesucht hatte. Wenig später erfüllte der Duft nach frischem Kaffee das Wohnzimmer. Peter goss sich einen Becher ein und machte es sich auf dem Sofa bequem. Unweigerlich wanderte sein Blick zu den Fotos auf dem Kaminsims, Fotos von seinen Schwestern, seiner Mutter und natürlich auch von Paul. Schlagartig wurde dem jungen Mann ein weiteres Mal bewusst, wie sehr ihm sein Pflegevater fehlte. So sehr, dass es manchmal heute noch schmerzte. In nur wenigen Wochen würde er selbst Vater werden. Vater. Er, Peter Caine. Ein sanftes Lächeln zog sich über sein Gesicht. Vielleicht war das der Grund, warum er hier her gekommen war. Vielleicht wollte er Paul nahe sein? Vielleicht vermisste er ihn gerade jetzt mehr als jemals zuvor. Jetzt, wo er eine eigene Familie gründen würde. Obwohl sein Nachwuchs noch gar nicht auf der Welt war, konnte er sich nicht vorstellen ihn jemals alleine zu lassen. So wie Paul es getan hatte oder sein leiblicher Vater Kwai Chang Caine. Gab es wirklich Dinge zwischen Himmel und Erde, die einen Vater bewegen konnten, seine Kinder im Stich zu lassen? Bis zum heutigen Tag hatte Peter Schwierigkeiten eine solche Entscheidung nachzuvollziehen, auch wenn er mit den Jahren gelernt hatte besser damit umzugehen. Wirklich verstanden hatte er es nie. Er würde es niemals übers Herz bringen können, sein ungeborenes Kind oder Kendra einfach zurückzulassen, denn er wusste wie weh es tat. Der Gedanke an seine zukünftige Frau entlockte ihm ein leises Lachen. Obwohl sie im achten Monat schwanger war, hatte sie ihm voller Überzeugung versichert, dass es in Ordnung war, wenn er übers Wochenende verschwinden würde. Bevor er überhaupt die Chance gehabt hatte ein schlechtes Gewissen zu bekommen, weil er seine hochschwangere Frau für zwei Tage alleine zu Hause ließ, hatte sie zum Telefon gegriffen, Mary angerufen und sie und Jamie kurzerhand in ihre neue Wohnung in Chinatown eingeladen. Kendra war eine sehr eigenständige und selbstbewusste Frau. Eine Lektion, die Peter in den letzten Monaten immer wieder hatte lernen müssen. Sie war diejenige, die ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholte und die ihm, wenn es nötig war, auch die Meinung sagte, egal ob er es hören wollte oder nicht. Und dafür liebte er sie aus tiefstem Herzen. Er konnte es kaum erwarten ihr endlich das Jawort zu geben. Allerdings hatte Kendra darauf bestanden, dass die Hochzeit erst nach der Geburt ihres Babys statt fand, schließlich wolle sie ja nicht noch Jahre später beim Anschauen der Fotos daran erinnert werden, wie dick ihr Bauch wirklich gewesen war. Peter grinste. Er konnte gar nicht verstehen, was sie daran störte, er liebte jeden Zentimeter an ihr und wenn er ehrlich war, ihren Kugelbauch ganz besonders. Schließlich wuchs darin ein kleiner Erdenbürger heran, der das Ergebnis ihrer gemeinsam Liebe war. Und was konnte es Schöneres geben? Allerdings hatte er den Versuch sie davon zu überzeugen, dass sie auch schwanger wunderschön war, schnell aufgegeben. Ihre blauen Augen hatten seine haselnussbraunen getroffen und er hatte gewusst, dass er auf verlorenem Posten stand. Auch ohne Worte. Der junge Mann seufzte leise und ging zum Fenster. Er beschloss einen Spaziergang durch den angrenzenden Wald zu machen, bevor die Dämmerung einsetzen würde. ------------------------------------------------------------------------------- Es war bereits dunkel, als sich der stattliche Mann dem Haus näherte. Trotz der spärlichen Beleuchtung erkannte, er, dass dort ein Wagen in der Einfahrt stand und nur wenige Schritte später, wusste er auch, um wessen Auto es sich handelte. Es war Peters Stealth. Aber was machte er hier mitten in der Nacht? Fast lautlos näherte er sich einem der Fenster. Im Inneren war es dunkel, nur eine einzelne Kerze brannte noch auf dem Wohnzimmertisch. In ihrem schwachen Schein konnte er erkennen, dass dort jemand bewegungslos auf dem Sofa lag. Der ältere Mann dachte kurz nach. Vor seinem inneren Auge erschien eine Szene. Eine Szene, die er in den letzten drei Jahren niemals vergessen hatte. Eine Szene, die ihm jedes Mal wieder einen schmerzlichen Stich versetzte. *Flashback* "Wer sorgt jetzt in der Stadt für Sicherheit"? "Ich weiß, dass sie in guten Händen ist." Ein Zögern. "Schon gepackt?" "Ja." Ein unsicherer Blick. "Kommt Mom zurecht?" "Ich glaub schon." "Versteht sie, warum du weg gehst?" Ein trockenes Schlucken. "Vielleicht erklärt sie es dann auch mir." "Ich muss eine Zeit auf Tauchstation gehen. Und wenn die Geister aufhören mich zu verfolgen, komme ich wieder." "Ich werde dich vermissen." Eine Umarmung. Tränen. "Du wirst mir auch fehlen." Eine letzte Berührung. *Ende Flashback* Damals hatte er ihn zum letzten Mal gesehen. Ihn zum letzten Mal berührt. Seit diesem Tag war keine Minute vergangen, in der er nicht an ihn gedacht hatte. In der er sich nicht gefragt hatte, ob es ihm gut ging und ob er glücklich war. Jetzt und hier war er ihm so nahe, wie lange nicht und trotzdem zögerte er. Zögerte, weil er nicht wusste, wie Peter reagieren würde. Vorwürfe? Schuldzuschreibungen? Fragen nach dem Warum? Er blickte ein weiteres Mal durch das Fenster. Alles war unverändert. Das Flackern der Kerze malte unwirkliche, tanzende Schattenbilder an die Wand und er wusste, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. Wenige Augenblicke später öffnete er behutsam die Tür. Sofort fiel sein Blick auf die schlafende Gestalt und dieser Anblick zauberte ihm unweigerlich ein Lächeln ins Gesicht. Peters gleichmäßiger Atem erfüllte die Stille des Raumes und im Schein der Kerze konnte er dessen entspannte Gesichtszüge erkennen. Seine Haare waren länger und eine vorwitzige, dunkle Strähne war ihm in die Stirn gefallen. Eine Weile betrachtete er seinen Pflegesohn, den er so schmerzlich vermisst hatte. Trotzdem brachte er es nicht übers Herz ihn zu wecken, um ihn endlich wieder in die Arme schließen zu könne. Dafür würde noch genug Zeit bleiben. Dessen war er sich sicher. Sein Blick schweifte durch den Raum. Auf dem Kaminsims stand ein neuer Bilderrahmen. Ein Bilderrahmen, der heute Morgen noch nicht da gewesen war. Im Halbdunkel erkannte er die Umrisse einer Frau und eines Mannes. Auf leisen Sohlen näherte er sich dem Foto. Jetzt sah er, dass der Mann Peter war. Die blonde Frau, die ihm entgegenlächelte kannte er nicht. Peters Hand lag schützend auf ihren gewölbten Bauch. Sollte das etwa heißen? Sollte es etwa heißen, dass er Großvater werden würde… oder es womöglich schon war? Sein Gesicht strahlte mit der Kerze um die Wette, aber nur wenig später wurde er wieder ernst. Ihm wurde bewusst, was er alles in den vergangenen drei Jahren verpasst hatte. Drei Jahre, in denen er nicht für seine Familie da gewesen war. Ein leises Stöhnen vom Sofa riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte hinüber und sah in zwei haselnussbraune Augen, die ihn ungläubig anstarrten. "Paul?" erklang es zögerlich und kaum hörbar. Der ältere Mann nickte nur und merkte ganz deutlich, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Der Moment war gekommen. Der Moment nach dem er sich so gesehnt und vor dem er soviel Angst gehabt hatte. Im nächsten Augenblick hatte Peter die Decke auf den Boden geworfen und war vom Sofa aufgesprungen. "Aber… Was.. Warum?" stammelte er, bevor er sich in den starken Armen wieder fand, die er zum letzten Mal vor fast drei Jahren gespürt hatte und in denen er sich so unendlich sicher fühlte. Unaufhörlich liefen ihm die Tränen übers Gesicht und ein Schluchzen war alles, was er noch hervorbrachte. War es wirklich wahr? War er wieder da? Wie oft hatte er davon geträumt, nur um dann aufzuwachen und festzustellen, dass es nicht real gewesen war. Wie oft hatte er seine Mutter getröstet und ihr versprochen, dass Paul wieder kommen würde? Auch dann, wenn er selbst schon nicht mehr daran geglaubt hatte. Sanft umschloss Paul das Gesicht seines Sohnes mit beiden Händen. Mit dem Daumen wischte er die Tränen weg. "Ich habe dir gesagt, dass ich wiederkomme." "Ich weiß", antwortete Peter mit tränenerstickter Stimme. "Ich habe dich vermisst." "Ich dich auch, mein Sohn, ich dich auch." Dann zog er ihn wieder an seinen starken Körper und hielt ihn ganz fest. Wenig später löste Peter sich aus seiner Umarmung und blickte ihm direkt in die Augen. "Es ist viel passiert, seit du weggegangen bist." Paul lächelte. "Du meinst das Foto." "Ja." "Sie ist sehr hübsch." "Ja, das ist sie… Sie heißt Kendra und ich liebe sie mehr als alles andere auf der Welt." Paul wusste, dass sein Sohn diese Worte genau so meinte, wie er sagte. Er wusste es einfach. "Und wann ist es soweit... Daddy?" fragte er mit einem Grinsen. Peter lachte leise. "In ungefähr vier Wochen… Grandpa." Jetzt musste auch der ältere Mann lachen. "Na, dann hätte ich dich wohl besser nicht wecken sollen. Ich glaube, du kannst jetzt jede Stunde Schlaf gebrauchen, die du bekommen kannst. Wenn euer Nachwuchs erst einmal da ist, wirst du kein Auge mehr zu bekommen", sagte er mit einem Zwinkern. Peter grinste und winkte ab. "Und es gibt noch etwas." Bevor Paul fragen konnte, schob Peter die Ärmel seines Langarmshirts hoch. Der Tiger und der Drache. Er hatte es also getan, er hatte die Brandmale der Shaolin angenommen. Er war dem Weg seines Vaters gefolgt. Dem Weg, den die Caines immer gegangen waren. Paul legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. "Du weißt, dass ich immer hinter dir stehe. Ganz egal, welche Entscheidung du triffst. So lange du nur glücklich bist." Er blickte in seine haselnussbraunen Augen. "Bist du glücklich?" "Ja", erklang die prompte Antwort ohne Zögern und ohne ein Anzeichen von Unsicherheit oder Zweifeln. Paul spürte, dass sein Sohn sich verändert hatte. Er war reifer geworden. Vorsichtig fuhr er mit den Fingerspitzen über die vernarbte Haut auf Peters Unterarmen. "Wie lange ist es her?" "Fast ein Jahr… Ich arbeite jetzt als Sozialarbeiter in Chinatown… Du hast mich damals aus dem Waisenhaus geholt. Jetzt versuche ich ein bisschen von dem zurückzugeben, was ich damals von euch bekommen habe." Erneut stiegen Paul die Tränen in die Augen. Wenn er an den Teenager von damals dachte und jetzt sah, was aus ihm geworden war, konnte er es kaum fassen, auch wenn er keine Sekunde an Peter gezweifelt hatte. Der junge Mann sah genau, wie die Augen seines Pflegevaters zu glänzen begannen. Er wusste, dass es eine Menge zu besprechen gab und er wusste auch, dass er mit der Zeit Antworten auf all seine Fragen nach dem Wie und Warum bekommen würde. Aber das Wichtigste war, dass er wieder da war. Hier bei seiner Familie. Hier in Sloanville. Paul Blaisdell war zurück. Ende
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