Autor: Ratzenlady
 

Kermit hatte kaum die Klingel betätigt, da schwang die Haustüre auch schon auf und er wurde herzlich begrüßt.

"Hallo Kermit! Schön, dass Du hier bist. Paul ist im Wohnzimmer" sagte Annie mit einem Lächeln, während sie den Ex-Söldner umarmte.

"Guten Abend Annie. Ich freu mich auch. Ich hoffe, ich störe nicht", ließ er leiser als gewöhnlich verlauten.

"Überhaupt nicht. Ich gehe nach oben und lass euch beide mal alleine", sagte sie freundlich, mittlerweile im Durchgang zur Wohnstube angekommen. Sogleich drehte sie sich herum und war kurze Zeit später auf der Treppe zu hören.

Paul stand von seinem Sitzplatz auf und gab Kermit die Hand. Mit einem Fingerzeig bot er seinem alten Freund einen Platz auf der großen Couch an und ließ sich dann wieder in seinen Sessel gleiten.

"Annie hat Kaffee gemacht", bot er seinem Freund mit einem Wink zu dem Tablett auf dem Wohnzimmertisch an. Er lehnte sich nach vorne und goss zwei große Becher ein. "Wie immer schwarz?"

"Natürlich", antwortete Kermit. Er fühlte sich unwohl. Aber nach tagelangem Grübeln in seinen eigenen vier Wänden und im Büro, wenn die Zeit es zuließ, war er zu dem Schluss gekommen, dass er seine Fragen nicht allein beantworten konnte. Er hoffte, dass Pauls erfahrene und weise Sicht der Dinge ihm half.

"Du hast am Telefon besorgt geklungen. Ist was passiert?", kam der ältere von ihnen sofort auf das Thema zu sprechen.

"Naja… von Ryans… Aktion auf dem Revier vor acht Tagen hast du ja sicher gehört…", sagte Kermit mit einem nachdenklichen Blick in die Kaffeetasse.

"Ja. Peter hat es mir erzählt. Er und Cat sind fassungslos. Und ich weiß bis heute nicht, was ich dazu sagen soll", ließ Paul seinen Freund in seine Gedanken blicken. Er wusste genau, dass es nicht direkt Ryans Handeln war, was den alten Freund hadern ließ, sondern dass noch etwas anderes dahinter steckte. Und er glaubte zu wissen, was es war.

"Ich auch nicht. Ich habe viel darüber nachgedacht. Was niemand weiß, was ich nicht mal Peter erzählt habe, ist, dass ich danach noch mit Ryan gesprochen habe. Er hatte sich in eine Bar im Südviertel zurückgezogen. Ich habe ihn dort gefunden…" Kermit nippte an seinem Kaffee und überlegte, wie viel von dieser Nacht er erzählen wollte. Auch wenn Paul sicherlich für alles, was dort geschehen war, Verständnis hatte.

"Und?", fragte Peters Pflegevater nur. Auch er trank einen Schluck und widmete seine Aufmerksamkeit dann wieder seinem Freund. Er wusste, dass dieser schon mit der Sprache rausrücken würde.

"Er war grade dabei, sich von einem Zuhälter niederschießen zu lassen, als ich hereinkam. Das konnte ich verhindern. Aber das ist nicht der Punkt."

"Das habe ich mir fast gedacht", flüsterte Paul und hob fragend die Augenbrauen.

"Wir haben uns danach noch einen Moment unterhalten. Standen ja auch nicht unter Zeitdruck. Schließlich ruft in der Gegend niemand die Cops, wenn ein Schuss fällt. Die verkriechen sich allenfalls und warten, bis sich der Rauch gelegt hat. Also waren Ryan und ich und die Leiche allein." Kermit trank einen weiteren Schluck Kaffee und stellte die Tasse dann auf den Tisch. "Schmeckt heute nicht", murmelte er mit Resignation in der Stimme.

"Vielleicht was anderes?", fragte Paul auf und erhob sich sogleich, um an die Minibar zu gehen. Er kam mit zwei Gläsern und der Whiskeyflasche wieder. "Besser?"

"Ja, danke", meinte Kermit und beobachtete, wie sein Mentor die zwei Gläser großzügig füllte. "Einiges was Ryan sagte, hat mich zum Nachdenken gebracht", sagte er schließlich und kehrte damit wieder zum Grund seines Besuches zurück.

"Was hat er denn gesagt?", hakte Paul nach einigen Sekunden nach, in denen Kermit nichts weiter sagte.

"Naja. Er fing an Phrasen zu dreschen und ich wollte, dass er es mir erklärt. Dass er mir erklärt, warum er nicht zu stoppen gewesen war. Obwohl ich dieses Gefühl ja kenne, aber irgendwie… egal. Er redete von Schatten, davon dass er kein Freund sei, dass er keine Seite habe und eben… nichts weiter als ein Killer ist, der nicht mehr weiß, wer er selbst einmal war und wie viel davon übrig geblieben ist."

Paul nickte nachdenklich. Er hatte eine vage Vorstellung von dem, was die Worte, die hinter dieser sehr kurzen Kurzzusammenfassung steckten, in seinem Freund ausgelöst hatten. Aber in diesem Moment war es besser zu schweigen und abzuwarten, bis Kermit sich von selbst mitteilte, dafür kannte er ihn lange genug.

Kermit nippte an seinem Glas. Der Whiskey schmeckte bedeutend besser als der Kaffee und schien ihn umgehend ein wenig zu beruhigen. "Er war so voller Wut gegen das FBI, aber auch gegen sich selbst. Ich habe versucht, ihm diese Gedanken auszureden, ihm zu vermitteln, dass das alles eingetrichtert ist. Gleichzeitig aber musste ich mich fragen, ob er nicht Recht hatte. Nicht im Bezug auf ihn, sondern im Bezug auf mich. Alles, was er in diesem Moment über sich gesagt hatte… es war, als würde mir jemand den Spiegel vorhalten."

"Und du fragst dich, ob wir nicht auch einfache Killer waren?"

"Mhm. Genau das. Wer sind wir Paul? Wer bin ich? Was berechtigt mich, eine Marke zu tragen? Für Recht und Gesetz einzustehen? Wir haben früher wahllos Leute umbegracht…"

"Nicht wahllos, Kermit!", donnerte Paul sofort dazwischen.

"Ach wirklich? Das habe ich bisher ja auch immer angenommen… aber war es das wirklich? Waren wir im Stande zu beurteilen, wer gut und wer böse ist? Hatten wir überhaupt DAS RECHT, dies zu beurteilen?"

Paul atmete tief durch und wurde wieder ruhiger. "Meinst du nicht, ich hätte mir all diese Fragen nicht auch schon mal gestellt?"

"Ach komm, Paul! Wir wurden von Leuten beauftragt von der einen Seite, die behauptete, sie sei die gute Seite… und die anderen die Bösen. Also sind wir losmarschiert und haben Menschen ungebracht!", betonte Kermit, was in seinen Gedanken vorging.

"Hältst du mich wirklich für so naiv?", fragte Paul mit verblüfftem Blick. "Ich habe mich immer, IMMER hörst du, vorher über die tatsächliche Situation erkundigt, bevor ich einen Auftrag angenommen habe."

"Hast du? Wie kommt es, dass ich es nie mitbekommen habe?", hakte Kermit nach, obwohl er nicht glaubte, dass sein alter Freund ihn anlog.

"Weil ich euch erst Bescheid gegeben habe, nachdem ich den Einsatz für moralisch vertretbar hielt. Vorher habt ihr gar nichts von einem möglichen Auftrag mitbekommen. Ich hätte nicht dafür einstehen können, wenn ich befürchten musste, dass ihr Grund für lebenslange Schuldgefühle habt."

Die beiden Männer sahen sich einen Moment schweigend an und tranken aus ihren Gläsern. Paul konnte seinem Freund ansehen, dass er seine Bedenken noch nicht hatte zerstreuen können. Aber schließlich hatte er auch viele Jahre gebraucht, um mit sich selbst und seiner Vergangenheit Frieden zu schließen.

"Und was war in Nicaragua, Paul?"

"Du meinst Huárez?"

"Ja, genau das meine ich. Wie haben ein Dutzend Wachleute erschossen, um an ihn ran zu kommen! Ein Dutzend Männer, die nur ihren Job gemacht haben!"

Paul atmete tief durch. "Wir haben Männer ausgeschaltet, die auf uns geschossen haben, Kermit!"

"Und dennoch nur ihren Job gemacht! Denen war wahrscheinlich egal, wofür sie kämpfen."

"Dann müssen sie damit rechnen, dass sie sich die falsche Seite ausgesucht haben. Ich verstehe ja, dass du dir im Moment Gedanken darüber machst, Kermit. Aber du redest dir da was ein, was nicht da ist."

Kermit nahm die Brille von der Nase und rieb sich einen Moment die Augen. Dann blickte er auf und schaute direkt in die dunklen Pupillen seines Mentors. Jegliche Maske, die er aufsetzte, war vor Paul schon vor vielen Jahren gefallen; Sonnenbrille hin oder her. "Da bin ich mir nicht mehr so sicher. Es nagt an mir, Paul. Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll", gestand er ein.

Der Blick des alten Mannes war verständnisvoll. Er kannte all diese Gefühle und Gedanken nur zu gut. "Hör zu, Kermit. Wir haben damals unseren Job gemacht. Wir haben darauf vertraut, dass es richtig ist, was wir tun. Und das war es auch. Vielleicht nicht in 100 Prozent der Fälle, aber in 95 Prozent. Und auch das ist ein verdammt guter Schnitt."

"Ich rede hier von Menschenleben, die ich zerstört habe, und du versucht mir etwas von einer Quote zu erzählen?", blaffte der jüngere von ihnen sofort. "Und wenn es nur ein halbes Prozent wäre… wir… ich…" Er rieb sich erneut die Lider. Er hatte so unendlich viele Gedanken im Kopf und doch so wenig Worte für eine treffende Beschreibung.

"Kermit! Du weißt doch genau, was ich versuche, dir zu sagen! Du willst es nur nicht hören!", wurde jetzt auch Paul direkter und etwas aufbrausend. "Du hast dich da in Überlegungen verloren, die dich fesseln und dir –tut mir leid wenn ich das so sagen muss- den Verstand vernebeln. Du siehst aktuell nicht die Realität."

Kermit war baff. Was sein Freund ihm da an den Kopf warf war mehr, als er erwartet hätte. Und bei jedem anderen wäre er schon aufgesprungen und hätte ihn am Kragen gepackt. Aber sein Gegenüber war Paul, der Mann, dem er die Hälfte seines Lebens gefolgt war, der sein uneingeschränktes Vertrauen genoss. "Dann kläre mich doch über die Realität auf, wenn du meinst, dass ich sie nicht sehen kann", murmelte er nur matt.

Peters Pflegevater hatte sich sofort wieder abgeregt und war jetzt wieder ruhig und ausgeglichen. "Lass es mich dir an einem Beispiel erklären, vielleicht verstehst du dann, was ich meine."

"Nur zu."

"Dein Gespräch mit Ryan hat das alles wieder hoch geholt. Das Gespräch mit einem Mann, der wenige Stunden vorher jemanden kaltblütig tot geprügelt hat. So war es doch, oder?" Er wusste, wie dünn das Eis unter seiner Argumentation war, aber er musste Kermit einfach die Augen öffnen.

"Jemanden, der sein Baby getötet und seine Frau verletzt hat, JA!", betonte der Cop grimmig.

"Und dennoch ist es nicht rechtens. Dennoch ist es Selbstjustiz, dennoch ist es mal mindestens Totschlag, wenn nicht sogar Mord. Hast du ihn dafür verhaftet?"

Kermit knurrte leise. Seiner Meinung nach verglich Paul hier Äpfel mit Birnen, aber er wollte das Ende der Ausführungen hören, um danach entsprechend kontern zu können. "Nein."

"Da hast du deine fünf Prozent. Und du hast noch etwas, wenn du genau hinschaust."

Noch ein Knurren. "Und was sollte das sein?" Kermit leerte das noch halbvolle Whiskeyglas in einem Zug.

"Den Grund dafür, dass du ihn nicht verhaftet hast. Den Grund, warum du ihm nicht mal wirklich übel nimmst, dass er das getan hat. Das, was er gesagt hat." Paul hoffte, dass sein Freund jetzt langsam erahnen konnte, worauf er hinaus wollte. Denn wenn das nicht half, dann wusste er auch nicht mehr weiter.

"Paul, komm auf den Punkt! Ich habe keine Lust Jeopardy mit dir zu spielen! Mir geht es verdammt dreckig im Moment!"

"Das weiß ich doch, mein Freund. Und ich will nicht mit dir spielen. Aber ich will dir auch nicht einfach etwas vorwerfen, sondern ich will, dass du verstehst, was ich sagen will."

Der Cop nickte knapp. "Ich nehme es ihm nicht übel, weil er nicht der Verantwortliche für sein Tun ist. Nicht vollständig. Er weiß ja selbst nicht mehr, wer er ist."

"Und deshalb gibst du dem FBI und seiner speziellen Ausbildung die Schuld."

"Die haben ihn total zerstört!"

"Ja, mag sein." Paul atmete kurz durch und trank einen Schluck. "ABER: Du hast vorhin gesagt, dass du das Gefühl hattest, dieses Gespräch hätte dir den Spiegel vorgehalten. Dann solltest du es vielleicht auch spiegelbildlich sehen. Denn das tust du grade nicht. Stattdessen hast du dich in Selbstvorwürfen und deinem schlechten Gewissen verwickelt und kommst jetzt nicht mehr raus."

"Was meinst du? Ich komme nicht mehr mit", gab Kermit zu und trank einen weiteren Schluck aus dem von Paul wieder aufgefüllten Glas.

"Ryan ist nicht Schuld, sondern das FBI. Er tut nur, was er gelernt hat. … Warum solltest du dann Schuld sein? Wenn du ein Spiegelbild von Ryan bist, dann bin ich der, der dir das alles beigebracht und dich darein gezogen hat. Dann hasse mich, aber nicht dich selbst!" Er wartete angespannt, wie seine Worte bei seinem Freund ankommen würden.

Kermit schwieg eine Weile. Ihm lag eine sofortige Verneinung auf der Zunge, eine Abwehr der Vorwürfe, die Paul nun gegen sich selbst erhob, um die Schuld von den Schultern seines Freundes zu nehmen.

"Kermit", setzte Paul wieder ein, sein Ton war vertraut und tief freundschaftlich, "ich habe es vorhin schon gesagt und ich wiederhole es wegen mir auch noch so oft, bis diese Flasche hier leer und wir beide voll sind: Vielleicht waren wie keine Heiligen, aber wir waren auch nie schlechte Menschen. Wäre ich davon nicht überzeugt, wäre ich nie Police-Captain geworden. Und wäre ich nicht auch von dir überzeugt, dann hätte ich dich nicht zum Detective gemacht. Ich habe die Entscheidungen immer nach bestem Wissen und Gewissen getroffen, denn ich war der, der sie treffen wollte und musste. Und wenn du heute jemanden für diese Entscheidungen verantwortlich machen willst, dann bitte mich und nicht dich selbst!"

Das saß. Kermit sackte in dem Sofa zusammen und blickte auf seine Hand im Schoß, die unablässig die grünen Gläser zwischen den Fingen drehte. "Nein Paul. Du hast keine Fehler gemacht. Es gibt nichts, was ich dir vorwerfen könnte", murmelte der Ex-Söldner leise und blickte dann seinem Freund tief in die Augen.

Paul beugte sich vor. "Dann gibt es auch nichts, was du dir selbst vorzuwerfen hast, Kermit", erwiderte er und hielt den Augenkontakt noch einige Sekunden aufrecht, um seinem alten Kameraden Gewissheit über die Ehrlichkeit dieser Worte zu geben. Dann griff er nach seinem Glas und hob es an, um mit Kermit anzustoßen. "Hör auf, dich selbst auseinander zu nehmen. Die Albträume werden verschwinden, wenn du dich ihnen entgegen stellst. Aber sie werden bleiben, wenn du dich ihnen ergibst."

Kermit blickte ihn einen Moment an, dann blitzte das altbekannte Wolfsgrinsen in seinen Mundwinkeln auf. "Du klingst wie Peter", griente er leicht und stieß mit seinem Freund und Mentor an. "Danke, Paul", sagte er nach einem tiefen Zug aufrichtig.

In zurückhaltender, aber nicht gedrückter Stimmung leerten sie die Flasche an diesem Abend. Und Kermit verbrachte die Nacht ruhig und traumlos; zum ersten Mal seit seinem letzten Gespräch mit Ryan Walker.

ENDE

 


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