Autor: Ratzenlady
 

Peter saß im Schneidersitz auf dem Boden im Meditationsraum. Er hielt ein kleines, ledernes Buch in seinen Händen krampfhaft umklammert, während Tränen seine Wangen hinunterliefen und von seinem Kinn auf den Einband tropften, wo sie dunkle Flecken hinterließen.

Schluchzer schüttelten den Körper des jungen Shaolin, als ihn die Erinnerung an das heimsuchte, was sich vor fünf Tagen ereignet hatte. Der Tag, der sein Leben auf so qualvolle Weise verändert hatte.

Bilder tauchten in seinem Kopf auf, dunkle Bilder der Erinnerung. Sie suchten ihn heim, fügten ihm Schmerzen zu, ließen sein Herz zum wiederholten Mal in den letzten Tagen brechen. Aber er bekam sie nicht aus seinem Kopf, wie eine Endlosschleife verfolgten sie ihn mit dem einzigen Ziel, ihm seine Unzulänglichkeit, sein Versagen aufzuzeigen.

Peter schluchzte laut auf und vergrub sein Gesicht in seinen Händen, das Buch immer noch umklammernd. Seine Stirn lehnte an dem Einband, während er in sich zusammensank und sich dem Schmerz in seinem Inneren und der Erinnerung hingab.

Flashback:

"Peter, jetzt komm endlich", rief Cat, mittlerweile erkennbar genervt. Sie war schon einige Meter vorausgegangen und stand jetzt mit den Händen in den Hüften neben Kermit, der seine Augenbrauen auch schon hochgezogen hatte; sein Zeichen der aufkommenden Ungeduld.

Der junge Shaolin aber kramte weiter in seinem Rucksack, um endlich die Flasche zu finden, die ihm durch die dünn gepolsterte Rückwand des Gepäckstücks ständig in den Rücken gedrückt hatte. Endlich hatte er sie unter den anderen Dingen zu fassen bekommen und heraus gezogen, als ein gellender Schrei sein Blut in den Adern gefrieren ließ.

Er riss den Kopf hoch und schaute zu der Stelle, an der seine Frau und sein bester Freund eben noch gestanden hatten, aber sie waren weg. Das Geräusch von herabrasendem Geröll erfüllte die Umgebung, und Peter hechtete, - das Schlimmste befürchtend -, vorwärts.

Der Felsvorsprung auf dem Cat und Kermit gewartet hatten war weggebrochen. Mit einer Hand, etwa fünf Meter unterhalb von Peters Füßen, hielt sich der Ex-Söldner an einem hervorstehenden Stück Stein fest, mit der anderen hielt er die Kapuze der jungen Frau, die panisch nach ihrem Mann rief.

"Bewegt euch nicht!", brüllte Peter ihnen zu. Dann drehte er sich rum, natürlich hatte er den Rucksack, an dem sich auch das Seil befand, an Ort und Stelle liegenlassen, als er den Schrei gehört hatte. Hektisch hechtete er zurück und versuchte mit seinen zitternden Fingern den Plastikverschluss zu öffnen, der das Seil festhielt.

"PETER!", kreischte Cat erneut.

Endlich hatte er es geschafft und rannte die Meter zurück. Grade als er an der Kante ankam ertönte ein weiterer Schrei und er musste mit ansehen, wie seine Frau aus dem Pullover rutschte und seinen Namen rufend in die Tiefe stürzte, ihren Blick entsetzt in sein Gesicht gerichtet.

Der Schock lähmte ihn für eine Sekunde. Er hörte sich selbst nach ihr rufen, als ob er neben sich stehen würde, alles versank plötzlich in einem Nebel aus Nicht-Glauben-Wollen, was soeben geschehen war.

Kermit, der ebenfalls mit entsetztem Blick hinuntergesehen hatte, schaute jetzt wieder nach oben. "Peter!", rief er den jungen Shaolin wieder in die Wirklichkeit. Er versuchte seine zweite Hand jetzt auch an den winzigen Vorsprung zu bekommen, aber der herausragende Stein war einfach zu klein.

Peter warf ihm das Seil zu und wickelte sich das andere Ende zweimal um die Hüfte. Er reagierte wie ein Roboter, handelte einfach, ohne realisieren zu wollen, was sich abgespielt hatte. Er wusste, dass in dem Moment, in dem er für sich annimmt, dass sie tot ist, sein Herz in tausend Stücke zerspringen würde.

"Es reicht nicht!", brüllte Kermit, den seine Kräfte sichtlich verließen.

Also löste der Shaolin die Umwicklung und band den Strick nur noch einfach um seine Taille. Kermit griff danach und hielt sich daran fest, allerdings bevor Peter den Knoten hatte festziehen können. Das Ende des Seils zog sich aus seinen Händen, um den Körper herum und fiel dann mit dem Ex-Söldner die steile Klippe hinunter.

Kermit starrte ihn entsetzt an, während er rücklings, das lose Seil in der Hand, in die scheinbar endlose Tiefe stürzte.

Flashback Ende

Peter kauerte auf dem Boden liegend und zitterte am ganzen Körper. Die Erinnerung hatte ihn, - wie so oft in den letzten Tagen -, mit solch einer Wucht getroffen, dass all seine Willensstärke nichts mehr dagegen auszurichten hatte.

Allein der Verlust zwei seiner liebsten Menschen hätte gereicht, ihn in diese Verfassung zu bringen, aber das war es nicht allein. Schuldgefühle nagten an ihm. Wie er es drehte und wendete, womit alle versuchten, sie ihm auszureden – es war vergebens.

Er hatte Schuld. Davon war der junge Shaolin überzeugt. ER hatte den Vorschlag gemacht, wandern zu gehen. ER hatte Kermit überredet, spontan mitzukommen. ER hatte die Strecke an der Klippe ausgesucht. ER hatte die Flasche nicht von Anfang an richtig im Rucksack platziert. ER hatte zu lange gebraucht, um ihnen zur Hilfe zu eilen. ER hatte das Seil nicht richtig festgehalten. ER…

Er konnte ständig so weiter machen. Unzählige Begründungen schwirrten durch seinen Kopf, die alle nur einen Schluss zuließen: ER war Schuld am Tod von Cat und Kermit. Nur er allein.

Der Schmerz und die Vorwürfe ließen die Trauer in seinem Inneren von einem Moment auf den anderen in Wut umschlagen. Urplötzlich, am Boden liegend, holte er aus und schlug mit der Faust und aller Kraft auf die harten Dielen. Drei seiner Fingerknöchel platzten auf und hinterließen einen hellroten Blutfleck am Boden, aber er merkte es nicht mal. Der körperliche Schmerz wurde von dem seelischen überlagert.

Sein Blick aus den zornigen Augen fiel auf die Male an seinen Unterarmen. Am liebsten hätte er sie sich aus der Haut gekratzt. Was für ein Shaolin war er, wenn ihn den Druck der verdammten Wasserflasche störte, während Cat und Kermit in Lebensgefahr schwebten? Er hatte es nicht mal gemerkt! Kein Funken seines achso wachsamen Shaolin-Gespürs hatte ihn vor dem drohenden Unheil gewarnt.

Vor lauter Wut auf sich selbst sprang er auf, bereit alles um sich herum zu zerstören, um darin vielleicht ein wenig Erlösung zu finden. Allerdings gab es in dem Raum nichts mehr, was ihm nicht schon zum Opfer gefallen wäre. Der kleine Tisch, der immer an der Stirnwand des Raumes gestanden hatte, lag jetzt in Einzelteilen auf dem Balkon, genauso wie die Kommode und die beiden Schlagstöcke.

Vor lauter Verzweiflung und Schmerz brüllte er mitten im Raum auf, dann sank er wieder in die Hocke und bedeckte das Gesicht mit seinen Händen. Langsam kamen seine Gedanken wieder an den Punkt, an dem er den Taschenkalender gegriffen und in den Meditationsraum gegangen war.

Und die Wut und daraus entstandene Kraft konnte er dafür gut gebrauchen. Er brauchte sie dringend, aber zunächst musste er sie in sich wegschließen, ruhig werden, in die Meditation kommen, und all die Energie dann wieder freilassen, um den Sprung zu wagen. Den Sprung in die Vergangenheit.

Wäre er bei klarem Verstand, so wäre ihm bewusst gewesen, dass er in der Vergangenheit nichts verändern sollte. Er selbst hatte es einmal zu Kermit gesagt. Aber jetzt standen die Dinge anders, jetzt war es keine Fügung des Schicksals, die es zu ändern galt, sondern seine Fehler, die er wieder ausbügeln musste. Die Regeln für Zeitreisen hin oder her.

"Scheiß drauf!", murmelte er in seine Handflächen und sank dann wieder in den Schneidersitz. Er griff nach dem Taschenkalender und klappte ihn auf, schloss dann die Augen und atmete langsam und ruhig. Es dauerte unzählige Minuten, bis er die quälenden Bilder endlich in sein Unterbewusstsein verschoben hatte.

Noch einmal, jetzt mit ruhigem Geist, öffnete er die Lider und blickte auf den Eintrag im Kalender: "Wandern (von Pauls Hütte aus)". Es war dieser Tag, dieser Ort, dorthin wollte er reisen und diesmal alles richtig machen.

Er starrte die Zeilen an und konzentrierte sich lange darauf: das Datum, die in Cats feiner Handschrift geschriebenen Buchstaben. Langsam verschwommen die Worte und er merkte, wie er durch den Strudel der Zeit zurückgerissen wurde. Es kostete ihn unendlich viel Kraft, aber die Tatsache, dass es tatsächlich funktionierte, ließ seinen Adrenalinspiegel steigen und holte die letzten Energiereserven aus Körper.

* * *

Als er wieder aufschaute und sich erschöpft auf die Beine hievte, befand er sich wieder in den Bergen, am Waldrand, genau dort…

"Peter, jetzt komm endlich!", ertönte auch schon Cats Stimme.

Erschrocken drehte er sich zu ihr rum, sie stand genauso dort, wie beim ersten Mal. Die Hände in den Hüften, Kermit neben sich. Sie waren an der Stelle, an der in wenigen Sekunden kein Boden mehr sein würde.

Diesmal wühlte Peter nicht weiter in seinem Rucksack, sondern sprintete vorwärts, direkt auf die beiden zu, die ihn jetzt verwirrt anstarrten und aus Reflex einen Schritt rückwärts machten.

"Weg da!", brüllte er sie an.

"Was?", fragte Kermit völlig verwirrt anstatt sich zu bewegen.

"Weg da, verdammt!", wiederholte sich der Shaolin und kam ein paar Schritte später bei ihnen an. Er griff nach den beiden, aber Kermit entzog sich seinem überraschenden Griff. Peter packte Cat, die immer noch wie erstarrt stand, und zerrte sie fünfzehn Meter zurück, um sie auf jeden Fall in den sicheren Bereich zu bringen.

Kermits Gesicht zeigte absolute Verwirrung, während er langsam und mit Abstand hinter ihnen herkam. "Pete, was zur…", setzte er an, als der Boden unter ihm wegbrach. Er trat ins Leere und schien für einen Moment in der Luft zu schweben, ehe er mit der großen Felsplatte in die Tiefe zu stürzen drohte.

Peter sprang vor, ergriff seine Hand, versuchte ihn festzuhalten. Aber sie rutschte ihm durch die Finger, wie in Zeitlupe fühlte er Millimeter für Millimeter Haut durch seine Hand rutschen, ehe der Kontakt ganz verloren ging. Taumelnd zog es ihn einen Schritt von der Klippe weg.

Der Ex-Söldner fiel, und Peter verlor ihn hinter der Kante aus den Augen.

Es zerriss ihm sein Herz, ähnlich wie vor fünf Tagen, als ihm klar wurde, dass sein bester Freund grade zum zweiten Mal in den Tod gestürzt war. Er hatte wieder versagt. Er hatte Kermit nicht retten können, hatte ihn wieder sterben lassen.

Cat tauchte neben ihm auf, entsetzt klammerte sie sich an ihn und schluchzte verzweifelt auf. Peter legte einen Arm um sie, während er selbst in seinem zerreißenden Schmerz gefangen war.

Sie standen knapp zwei Meter von der Klippe entfernt, starrten auf den neu entstandenen Abgrund; das schwarze Loch, das Kermit in die Tiefe gerissen hatte.

"Könnte mir hier irgendjemand mal bitte hoch helfen?", ertönte auf einmal die tiefe Stimme des Cops.

Peter ging sofort an die Kante und sah hinunter, sein bester Freund hing an dem kleinen Felsvorsprung.

"Halt dich fest, Kermit, halt dich bloß fest!", sagte der Shaolin hektisch und rannte zu dem Rucksack. Diesmal bekam er den Verschluss sofort auf. Auf dem Rückweg band er es schon um seine Hüfte, nur ein Mal, damit es lang genug war, und warf es hinunter.

Kermit griff danach und nur ein paar Sekunden später hatte er wieder festen und sicheren Boden unter den Füßen.

* * *

Peter lag erschöpft im Meditationsraum, als Cat herein kam. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, als sie auf ihn zu kam und sanft an der Schulter schüttelte. "Hey Honey! Aufwachen. Du wolltest doch den Tisch decken, anstatt hier faul rum zu liegen", grinste sie.

Der Shaolin hielt die Augen einen Moment geschlossen und lauschte nur dem Klang ihrer Stimme. Es war so traumhaft schön, sie zu hören, und er hatte Angst, dass sie vielleicht doch nicht da war, wenn er hinsehen würde.

"Nun komm schon, der Besuch dürfte jeden Moment kommen", meinte sie und schüttelte fester, aber immer noch bester Laune.

"Besuch?", holte ihn ihr Kommentar wieder endgültig in die Gegenwart zurück. Er öffnete die Lider und blickte in ihre wunderschönen blauen Augen. Absolute Glückseeligkeit erfüllte seinen geschwächten Körper.

"Jaaaaa, Besuch. Wir haben das doch schon am Wochenende abgemacht, bei unserem Trip in die Berge. Wir wollten einen schönen Abend mit unseren Freunden verbringen. Quasi als Wiedergeburtsparty. Hast du dein Gedächtnis in der Meditation vergessen?", fragte sie schmunzelnd, packte ihn an den Händen und zog ihn förmlich auf die Beine.

Peter blickte ihr stumm in die Augen. Cat konnte sehen, dass er ok war, aber als sich eine Träne in seinem Augenwinkel bildete, begann sie sich Sorgen zu machen. "Geht’s dir gut, Honey?", fragte sie leise.

Peter begann zu strahlen. "Mir ging es nie besser!", betonte er glücklich und zog sie fest in seine starken Arme. Es tat so gut, sie zu spüren, den Duft ihrer Haare in der Nase zu haben, ihren Herzschlag zu fühlen. Kurz: Zu wissen, dass sie am Leben war.

Nur wenige Sekunden später ging die Eingangstür auf und die Gang vom 101. Revier betrat fröhlich quatschend die Wohnung der Caines. Allen voran Kermit, der die Gespräche seiner Kollegen nur mit seinem undefinierbaren Wolfsgrinsen kommentierte.

Peter ließ von Cat ab, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und ging dann in den Flur hinaus, um sie begrüßen. Er hegte den innigen Wunsch, auch den Ex-Söldner in seine Arme zu schließen, konnte sich aber im letzten Moment selbst davon abhalten und reichte ihm einfach die Hand. "Schön, dass du da bist", sagte der Shaolin so unverfänglich, wie es ihm in seiner Euphorie möglich war.

Aber Kermit schien es dennoch zu merken, sein Blick sagte deutlich, dass ihn das Verhalten seines Freundes komisch vorkam, aber er sagte nichts, sondern stimmte nur zu.

Peter blieb noch einen Moment im Flur stehen und blickte hinterher, wie Cat ihre gemeinsamen Freunde ins Wohnzimmer führte. Er hatte einen Zeitsprung gemacht, hatte seinen besten Freund und seine Ehefrau zurück ins Leben geholt. Und obwohl man die Vergangenheit eigentlich nicht ändern durfte, so war er doch absolut überzeugt:

Er hatte endlich mal alles richtig gemacht.

ENDE

 

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