Autor: TempleGirl
 

Peter raufte sich die Haare und betrachtete verzweifelt den Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch. Die Arbeit wuchs ihm mal wieder im wahrsten Sinne des Wortes über den Kopf. Skalany tätschelte ihm im Vorbeigehen mitfühlend die Schulter. "Soll ich dir einen Kaffee mitbringen?"

"Ja bitte." seufzte Peter. "Sonst überlebe ich das hier heute nicht. Haufenweise Berichte und Protokolle und wenn`s nur meine wären. Aber ich muss ja auch noch für Blake mitarbeiten, so lange er in Urlaub ist. Der liegt jetzt irgendwo in der Südsee am Strand und wird von lauter Inselschönheiten umgarnt, die ihm tropische Cocktails bringen, während wir uns hier im staubigen, düsteren Büro abrackern."

"Ooooh." machte Skalany spöttisch und zwinkerte ihm zu. "Und die Büroschönheiten, die dich hier umgarnen und dir abgestandenen Filterkaffee bringen, zählen wohl nicht?" Peter grinste und griff in seinen Papierstapel. "Wenn du mir hiervon etwas abnimmst, kröne ich dich sofort zur Schönheitskönigin vom 101."

Lachend verschwand Skalany in Richtung Teeküche. Peter sah ihr kopfschüttelnd nach.

"Beeil dich lieber, damit du was vorweisen kannst, wenn Captain Simms zurückkommt." sagte Jody hinter ihm müde.

"Du musst grad reden." Peter deutete mit halbem Grinsen auf ihren Papierstapel, der nur unwesentlich kleiner als der seine war. "Aber wir könnten ja ein kleines Wettarbeiten mach…"

"Schhh. Hast du das gehört?" unterbrach ihn Jody abrupt.

"Was denn?"

"Da! Schon wieder!" Jody deutete zur massiven hölzernen Tür des Reviers, durch die nur schwerlich die Geräusche von der Straße herein drangen. "Das klang doch wie…"

Sie sprang auf und lief zur Tür. Ein erfrischender kühler Luftzug streifte Peter, als sie sie öffnete und sich über etwas am Boden beugte. Als sie sich zu ihm umdrehte, hielt sie ein kleines Bündel im Arm, das herzzerreißend weinte. Sie sah Peter verdattert an. "Ein Baby! Jemand hat sein Baby vor dem Revier ausgesetzt!"

Peter ging zu Jody hinüber. Das Baby war in eine bunte Babydecke gewickelt und man sah nur das Köpfchen mit dichtem, braunem Haar und vom Weinen verzerrtem Gesichtchen. Ein winziges Fäustchen reckte sich fordernd in die Luft.

"Armes Kleines." meinte Jody mitfühlend. "Es hat sicher Hunger."

"Im Kühlschrank ist bestimmt noch Milch." erwiderte Peter.

"Man kann doch einem Baby nicht einfach Kuhmilch geben." schalt ihn Jody. "Es ist doch höchstens ein paar Tage alt."

"Mit Muttermilch kann ich aber leider nicht dienen." gab Peter trocken zurück.
Kermit, der gerade seine Bürotür öffnete und den letzten Satz noch mitbekommen hatte, verschluckte sich beinahe an seinem Kaffee. Hustend und spuckend versuchte er, seine Tasse nicht fallen zu lassen.

"Also, Peter, ich habe mich ja inzwischen daran gewöhnt, dass ihr Caines mitunter etwas wunderlich seid, aber das geht entschieden zu weit!" röchelte er, als er wieder Luft bekam.

"Bloß gut, dass ich meinen Kaffee schwarz trinke."

"Was du so mit der Muttermilch eingesogen hast, will ich auch lieber gar nicht wissen." meinte Peter lakonisch. "In dem Fall war sie jedenfalls nicht für deinen Kaffee gedacht, sondern für das Baby." Er kitzelte den Säugling an der Nase und verfiel in einen wenig vorteilhaften Baby-Singsang, was das Kind aber zumindest vorübergehend zu beruhigen schien.

Kermit betrachtete Peter und Jody, die sich wie stolze, frischgebackene Eltern über das Kleine beugten. "Wie rührend. Kaum lässt man euch mal eine halbe Stunde allein, schon kommt so was dabei raus." bemerkte er trocken.

Jody schenkte ihm einen strafenden Blick. Dann begann sie, praktische Überlegungen anzustellen. "Ich laufe schnell rüber in die Drogerie und besorge Milchpulver und Windeln."

"Willst du es etwa gleich adoptieren?" fragte Peter entgeistert.

"Witzbold. Aber wir wissen nicht, wie lange wir es hier haben und es hat JETZT Hunger und wahrscheinlich die Windel voll." Sie drückte dem wenig begeisterten Peter kurzerhand das Baby in den Arm. Dabei fiel ein Zettel zu Boden, den sie bisher nicht bemerkt hatten. Jody hob ihn auf und las:

"Ich heiße Hazel und bin am 6. Juni geboren. Bitte passt gut auf mich auf und findet ein schönes Zuhause für mich."

"Hazel." Peter betrachtete das Baby, das jetzt kurz davor war, in seinen Armen einzuschlafen. "Also ist es ein Mädchen. Aber warum hat ihre Mutter sie hierher gebracht und nicht in ein Krankenhaus oder Waisenhaus? Was wir früher oder später wohl tun müssen, denn hier kann sie ja schlecht bleiben." fügte er leiser hinzu.

"Vermutlich kennt die Mutter jemanden hier." mutmaßte Mary-Margaret, die mit zwei langsam erkaltenden Tassen Kaffee in den Händen bisher schweigend dabei gestanden hatte. "Dann hat sie wohl das Vertrauen, dass derjenige sich des Kindes annehmen wird."

"Wieso schaut ihr mich alle so an?" Peter fühlte sich plötzlich unangenehm im Fokus des Interesses. "Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich…. Oh nein, nein, nein, auf gar keinen Fall!"

"Das Baby steht dir jedenfalls verblüffend gut!" Kermit lehnte an seiner Bürotür und setzte sein Wolfsgrinsen auf. "Papa Peter… wäre doch immerhin denkbar, bei deinen Frauengeschichten."

"Vielen Dank auch. Aber ich bin nicht der einzige Mann hier, nur mal so nebenbei bemerkt. Wie wäre es denn zum Beispiel mit dir?"

"Peter, Peter, so gut solltest du mich inzwischen kennen, dass ich nichts tue, ohne die möglichen Folgen zu bedenken." Kermit betrachtete eingehend seinen Daumennagel. "Und außerdem sieht die Kleine mir auch gar nicht ähnlich."

"Stimmt, die graue Haarsträhne fehlt." stellte Peter spöttisch fest. "Und die Sonnenbrille." Er lüftete die Decke ein wenig. "Und Desert Eagle seh ich auch keinen."

"Eben." Das Wolfsgrinsen wurde breiter.
"Dann fällt der Chief wohl auch flach, denn dafür ist sie eindeutig zu dünn." Peter flüchtete sich in Galgenhumor. "Bleibt noch Blake…"

"Weiß der überhaupt, wie das geht?" prusteten Jody und Skalany.

"Theoretisch bestimmt." Peter wusste langsam nicht mehr, ob er lachen oder weinen sollte.

"Also, wenn, dann sieht sie tatsächlich dir ähnlich." Jody betrachtete den Säugling eingehend und musste sich dabei erneut das Lachen verbeißen.

"Wolltest du nicht einkaufen gehen?" gab Peter zurück.

"Bin ja schon weg." Jody griff nach ihrer Handtasche und verließ, sich die Lachtränen aus den Augen wischend, das Revier.

"Und was machen wir jetzt mit dir?" wandte sich Peter an das Baby. Er ließ sich mit dem Kind in den Armen in seinen Schreibtischstuhl fallen. Skalany stellte endlich die Kaffeetassen ab und Kermit zog es vor, wieder in seinem Büro zu verschwinden.

"Du bist jetzt wohl auch eine Waise. So, wie ich es war." murmelte Peter. Ob Hazel in ihrem Leben wohl auch so viel Glück haben würde wie er, erst eine liebevolle Pflegefamilie zu finden und vielleicht sogar irgendwann ihre leiblichen Eltern wieder zu sehen?

"Hazel. Was für ein hübscher Name. Was deine Mum wohl dazu inspiriert hat?" Bestimmt die weichen, braunen Haare. Oder… das Kind öffnete blinzelnd die Augen und Peter staunte darüber, dass ein so kleines Kind schon so große, braune Augen haben konnte!

Peter seufzte. Er war nicht mehr so klein und niedlich gewesen, als er zu den Blaisdells gekommen war, sondern ein ausgewachsener und nicht gerade einfacher Teenager. Dennoch hatte Paul gerade ihn haben wollen…

"Interessierst du dich für die Polizeiarbeit, Junge?" hatte Paul ihn gefragt und Peter hatte ja gesagt, nur damit er nicht zum Matheunterricht musste. Aber als er Paul dann darüber reden hörte, fand er es doch ziemlich spannend. Und vor einem Polizisten hatten die Leute Respekt. So einer wurde nicht herum geschubst und er konnte Leuten helfen, die in Schwierigkeiten waren. Nach dem Vortrag stellte er Paul viele Fragen und Paul schlug schließlich vor, ob Peter nicht einmal mit aufs Revier kommen wolle, um selbst zu sehen, wie dort gearbeitet wurde. "Ja, gern!" antwortete Peter begeistert.

Viele Stunden hatte er auf dem Revier verbracht und Paul hatte ihm geduldig alles erklärt. Um alles zu veranschaulichen, taten sie so, als sei Peter ein Verbrecher, der in die Kartei aufgenommen werden müsse. Paul fotografierte ihn von allen Seiten mit einem Schild in der Hand und sie lachten und machten dabei Faxen. Dann nahm Paul Peters Fingerabdrücke und es war ein seltsames Gefühl für den Jungen, seine Hand in der eines Erwachsenen zu spüren, Paul ganz nah bei sich zu spüren, wie früher seinen Vater, wenn er ihm etwas gezeigt hatte. Peter genoss es, dass sich seit langer Zeit einmal wieder jemand nur um ihn kümmerte und er genoss den Spaß, den sie miteinander hatten.

Paul musste das gespürt haben, denn er kam ihn immer wieder besuchen, lud ihn auf ein Eis ein oder ging mit ihm ins Kino. So freundeten sie sich immer mehr an. Eines Tages nahm Paul ihn dann wieder einmal mit in den Park und setzte sich mit ihm auf eine Bank.

"Peter", fing er an und legte ihm die Hand auf die Schulter. Peter bekam Angst. Warum war Paul so ernst? Wollte er ihm mitteilen, dass er ihn nicht mehr besuchen kommen würde? Paul durfte ihn nicht auch noch verlassen! "Ja?" fragte er vorsichtig.

"Peter, ich habe mit Annie, mit meiner Frau gesprochen und sie möchte dich gern kennen lernen." Peter atmete auf. "Ja, klar." antwortete er leichthin.
Paul knetete seine Hände und suchte nach den richtigen Worten. "Ich habe auch mit den Leuten im Waisenhaus gesprochen, Peter. Sie sagen, sie suchen immer Pflegefamilien für ihre Schützlinge und… wir sind zwar nicht mehr die Jüngsten, aber du bist ja auch kein Baby mehr…" Paul sah zu Boden.

Peter hielt den Atem an. Was versuchte Paul ihm da zu sagen?

Sein väterlicher Freund atmete tief durch und sah Peter an. "Sie haben gesagt, sie würden sich sehr freuen, wenn du… wenn wir, also, wenn wir dich als unser Pflegekind aufnehmen." Er nahm Peters Hand. "Möchtest du das?"

Peter brauchte einen Moment, um zu realisieren, was Paul da eben gesagt hatte, dann begann er zu strahlen. "Ist das dein Ernst, Paul?" Paul lächelte und nickte. "Oh, Paul!" Peter umarmte ihn stürmisch. "Danke, Paul! Das ist echt stark!" Paul lachte und tätschelte Peter den Rücken. "Ja, echt stark." wiederholte er erleichtert.

"Hier!" Peter fuhr zusammen und ließ vor Schreck fast das Baby fallen, als unvermittelt ein Paket Windeln auf seinen Schreibtisch plumpste und seine Papiere durcheinander wirbelte.

"Wo warst du denn bloß mit deinen Gedanken? Du hast ausgesehen, als wärst du meilenweit weg." Jody sah ihn prüfend an.

"So ähnlich." antwortete Peter und musste erst einmal wieder in der Gegenwart ankommen.
"Und wer wickelt sie jetzt?"

Jody riss das Paket auf und reichte Peter eine Windel. "Na, ihr Papa natürlich." erwiderte sie grinsend.

"Ich bin nicht ihr Papa!" protestierte Peter und warf die Windel nach Jody.

Hazel, die durch Peters ruckartige Bewegungen wieder aufgewacht war, machte sich lautstark bemerkbar.

"Na, toll." entfuhr es Peter und er versuchte, das Baby durch wiegende Bewegungen zu beruhigen, doch Hazel brüllte immer lauter. Währenddessen redeten Peter und Jody hektisch aufeinander ein, da keiner von beiden große Lust verspürte, den Inhalt von Hazels Windel zu erkunden.

"Kann man hier eigentlich nicht in Ruhe arbeiten?" Kermit steckte seinen Kopf aus seinem Büro. "Was ist denn schon wieder los, um Gottes Willen?"

"Wir sind uns noch nicht ganz einig, wer Hazel wickelt." erklärte Peter.

Kermit seufzte, dann trat er zu Peter und nahm ihm kurzerhand das Baby ab. "Lass das mal Onkel Kermit machen. Sonst kehrt hier ja nie wieder Ruhe ein." Er griff sich die Windel und war schon wieder in seinem Büro verschwunden, ehe Peter etwas erwidern konnte. Verdattert starrte der seinem Freund hinterher. "Onkel Kermit?" wiederholte er betont langsam, dann brach er in schallendes Gelächter aus.

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"So, das haben wir gleich, meine Kleine." sagte Kermit und legte das Baby auf seinen Schreibtisch. Erstaunlich fachkundig zog er sie aus, um an ihre Windel zu gelangen. Er war immerhin schon zehn gewesen, als David geboren wurde, und da der Vater den ganzen Tag arbeitete und die Mutter oft an Migräne oder depressiven Verstimmungen litt, musste er sich viel um seine jüngeren Geschwister kümmern. Er hatte David oft versorgt, als er ein Baby war, ihn gebadet und gewickelt, gefüttert und mit ihm gespielt und als David zwei Jahre alt war und zu sprechen begann, nannte er ihn erst "Daddy", ehe er seinen Namen lernte. Wehmütig dachte Kermit an seinen kleinen Bruder, der ihm oft so schmerzlich fehlte. Auch wenn das niemand wusste (und auch niemals erfahren würde) und ihm schon zehnmal niemand glauben würde, war er - Kermit, der Ex-Söldner und harte Police-Detective - ein sensibler Junge gewesen.

"Termit, bitte auf David warten!" Auf seinen kurzen Beinchen stolperte ihm sein kleiner Bruder hinterher. "Nich so nell!" Kermit drehte sich um und streckte David die Hand hin. "Komm schon, Krümel, Grandma wartet doch auf uns." Doch anstatt sich zu beeilen, blieb David ganz stehen und sein Blick wandte sich konzentriert nach innen. Zwei Minuten später verkündete er: "David Tinker macht hat."
"Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?" stöhnte Kermit. Tatsächlich begann es aus Davids Richtung verdächtig streng zu riechen. Kermit seufzte und ließ seinen Rucksack auf den Boden fallen. Gottlob hatte vor kurzem jemand Wegwerfwindeln erfunden, sonst hätte er jetzt ein Problem. Er holte eine Windel aus dem Rucksack und begann, seinen kleinen Bruder mitten auf der Wiese zu wickeln. Als David wieder angezogen war, balgten sie sich und er kitzelte den Kleinen durch, bis er vor Lachen Schluckauf bekam. Dann nahm er ihn auf die Schultern und trabte mit ihm zum Haus seiner Großmutter, die schon mit selbstgebackenem Apfelkuchen auf sie wartete.

"Mmmmh, das riecht aber lecker!"

"David Tuchen will!"

Die Großmutter lachte und schnitt dicke Stücke für sie ab. "Warum habt ihr denn Marilyn nicht mitgebracht?" fragte sie.

"Mawilyn ischt kwank." presste Kermit mit vollem Mund hervor. "Halschweh und Fieber."

"Oh je. Ich geb dir später was von meinem berühmten Kräutertee für sie mit." Sie goss den beiden Jungen Kakao ein. "Und, hast du unterwegs wieder Verbrecher gejagt?" fragte sie verschmitzt. Kermit spielte für sein Leben gern Räuber und Gendarm mit imaginären Ganoven. Außerdem hatte er sein Zimmer zu Hause förmlich in ein Detektivbüro verwandelt, er tapezierte die Wände mit selbst gezeichneten Fahndungsbildern und Zeitungsausschnitten, in denen etwas über begangene Straftaten und gesuchte Verbrecher zu lesen stand und besaß verschiedene Stempelkissen für Fingerabdrücke, Lupen und anderes mehr, was man als Detektiv so brauchte. Dazu verschlang er einen Krimi nach dem anderen und seine größten Vorbilder waren Sherlock Holmes und Hercule Poirot.

"Magst du noch mehr Kakao, mein kleiner Detektiv?" fragte Grandma und strich ihm über sein wuscheliges dunkles Haar. "David will Tautau!" verkündete David neben ihm energisch und Grandma schenkte ihm lachend noch etwas ein.

Kermit wischte sich verstohlen über die Augen. "So, jetzt bist du wieder frisch." sagte er leise und zupfte Hazels Kleider zurecht. Dann trug er sie zurück ins Großraumbüro.

"Hier habt ihr die junge Lady wieder." sagte er nonchalant, drückte Peter das Baby in den Arm und ehe irgendjemand etwas sagen konnte, war er schon wieder in seinem Büro verschwunden.

Peter sah ihm kopfschüttelnd hinterher. "Aus dem soll einer schlau werden." murmelte er. "Und wer macht meine Arbeit, während ich hier als Babywiege herhalten muss?" Wenigstens tat ihm Hazel den Gefallen und brüllte nicht mehr. Peter studierte ihr Gesicht und versuchte, eine etwaige Ähnlichkeit festzustellen. Die anderen hatten ihn etwas verunsichert, immerhin hatte er ja doch schon etliche Freundinnen gehabt. Was, wenn er doch…?

"Sie ist nicht deine Tochter."

Peter fuhr herum und atmete dann erleichtert aus. "Paps, hast du mich erschreckt! Schleich dich doch nicht immer so an, ich kriege irgendwann noch einen Herzinfarkt." Caine stand wie aus dem Boden gewachsen mitten im Revier und hob als Antwort nur eine Schulter. "Ich… schleiche mich nicht an."

"Wie nennst du das dann? Ach, vergiss es. Ich glaube, wenn du eines Tages mal anklopfst, ehe du einen Raum betrittst, müsste ich mich erst vergewissern, dass wirklich du es bist und nicht ein verkleideter Sing Wah." Er grinste, dann wurde er wieder ernst. "Was hast du damit gemeint, sie ist nicht meine Tochter? Woher willst du das so genau wissen?"

Caine nahm ihm vorsichtig das Baby ab. "Wenn sie deine Tochter wäre, würde ich das spüren, denn dann wäre sie auch ein Teil von mir." Der alte Shaolin betrachtete das Baby zärtlich. "Sie erinnert mich an dich, als du ein Baby warst."

"Mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, dass ich ein Junge war." bemerkte Peter.

"Du warst ein Baby." stellte Caine fest, gerade so, als ob das Geschlecht erst später zutage träte.

"Und was machen wir jetzt mit ihr? Na ja, wenn du sie eine Weile hältst, kann ich wenigstens weiter arbeiten." Peter wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu.

"Ihre Mutter wird bald hier sein." meinte Caine, als habe er einen Termin mit ihr.

Peter öffnete den Mund, um zu fragen, woher er das nun wieder wissen wolle, schüttelte dann aber nur den Kopf. "Ich brauche gar nicht zu fragen. Deshalb bist du ja höchstwahrscheinlich auch hier." Resignierend hob er die Hände. "Ich verstehe zwar nicht, warum ihr euch dann nicht gleich in deiner Wohnung trefft, aber bitte. Du kannst dich da drüben in die Wartezone setzen. Wenn du mich brauchst, ich bin hier, begraben unter meinen unfertigen Berichten." Er raufte sich die Haare und versuchte zu einer Entscheidung zu kommen, an welchem Ende des Stapels er am besten anfangen sollte.

Caine setzte sich mit dem Kind im Arm auf einen der unbequemen Plastikstühle an der Wand vor dem Empfangstresen. Als er die Kleine ansah und ihre Wärme und den kleinen Körper fühlte, der noch kaum Gewicht hatte, kam ihm ein anderes Baby in den Sinn…

Caine stand vor der Tür des Kreißsaales und verfluchte diese Zeiten, in denen es einem Mann nicht gestattet war, seiner Frau bei der Geburt ihres gemeinsamen Kindes beizustehen. Er hörte Laura bei jeder neuen Wehe aufschreien und es war, als fühle er die Schmerzen selbst. Wieso konnte er nicht bei ihr sein, sie halten und ihr Kraft geben? Das war einfach nicht richtig. Es war nicht richtig, dass die Frau, die Mutter in diesem schwersten und gleichzeitig glücklichsten Moment allein sein musste. Bei der Zeugung waren sie ja schließlich auch zu zweit gewesen…Ob es wohl einmal anders sein würde, ob sein Sohn - wenn es denn ein Sohn wurde - später einmal die Geburt seiner Kinder miterleben würde?

Plötzliche Stille. Was war los? Gab es Schwierigkeiten? Caine wollte schon die Tür öffnen und nachsehen, da zerriss ein weiterer Schrei Lauras die Luft, heftiger als vorher, riss dann plötzlich ab und dann… was war das? Das war doch… das Weinen eines Babys! Caine fühlte seine Augen feucht werden. Sein Kind… sein Kind war da! Er presste eine Hand vor den Mund, dann öffnete er mit zitternden Fingern die Tür zum Kreißsaal. Die Hebamme versuchte nicht, ihn aufzuhalten; es war schwer genug gewesen, ihn vorher davon abzuhalten, den Kreißsaal zu betreten, jetzt war es quasi schon egal. Sie beschränkte sich darauf, Mrs Caine ein Tuch über die Beine zu breiten. Albern eigentlich, als wenn Mr Caine seine Frau noch nie nackt gesehen hätte, aber so waren eben die Zeiten. Dann trat sie lächelnd zu ihm.
"Herzlichen Glückwunsch, Mr Caine, Sie haben einen gesunden kleinen Jungen!"

"Wir haben einen Sohn!" sagte Laura glücklich. Ganz erschöpft lag sie auf der Liege und streckte ihm die Hand hin. Caine ergriff sie und drückte sie sanft. "Das hast du gut gemacht, mein Schatz!" sagte er sanft und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann trat die Schwester zu ihm, die das Baby gewaschen und in ein Tuch gehüllt hatte und legte ihm seinen Sohn in die Arme. "Unser Kind!" flüsterte Caine bewegt. "Sieh nur, Laura, unser Kind!"

Laura lächelte. "Darf ich dir unseren Sohn vorstellen? Peter Matthew Caine. Peter nach meinem Vater und Matthew nach deinem, wie findest du das?" Caine hörte sie kaum, er konnte es nicht fassen, dass dies sein Kind war, das so zart und verletzlich in seinen Armen lag, das hübscheste Baby, das er je gesehen hatte, mit dem kleinen Näschen, den runden Augen und den dichten dunkeln Haaren und das er schon jetzt mehr liebte, als alles andere. "Peter." flüsterte er und es fühlte sich gut an. "Ja, das ist sein Name." Eine Träne rollte über seine Wange und er küsste den Säugling auf die Stirn, dann gab er Laura das Kind, damit sie es an die Brust legen konnte. "Das ist das schönste Geschenk, dass du mir machen konntest!" Er setzte sich zu den beiden und nahm Laura in den Arm, während sie Peter das erste Mal stillte. "Ich liebe dich." flüsterte er und küsste Laura auf die Wange. "Ich liebe euch beide."

Das Baby in seinen Armen wurde wieder zur kleinen Hazel. Caine seufzte und sah mit einem Lächeln zu dem erwachsenen Mann hinüber, der aus seinem Baby inzwischen geworden war und den er noch immer genauso liebte wie an dem Tag, als er ihm das erste Mal in die Arme gelegt wurde. Peter saß konzentriert über seine Arbeit gebeugt, das Haar zerzaust und das Hemd zerknittert und bekam für den Moment nichts um sich herum mit. Er wirkte überarbeitet und Caine hätte ihm gern etwas von seiner Last abgenommen, aber so vieles Caine auch vermochte, Polizeiberichte lagen nicht wirklich in seinem Kompetenzbereich. Hier musste Peter allein durch. Hätte er die Hände frei gehabt, hätte er seinem Sohn jetzt wenigstens die angespannten Schultern massieren und ihm so ein wenig Erleichterung verschaffen können…

Die Tür zum Revier schlug auf und riss ihn aus seinen Gedanken. Auch die Köpfe der Detectives fuhren herum. Eine junge Frau mit langen, etwas ungepflegten dunklen Haaren und in abgetragenen, aber sauberen Kleidern stürzte herein und sah sich hektisch um. Als sie Caine mit dem Baby auf dem Arm sah, entspannte sie sich und lief erleichtert auf ihn zu. "Hazel!" rief sie erstickt, nahm ihm das Baby ab und drückte es zärtlich an sich. "Oh, Caine, ich kann das nicht. Ich kann sie nicht hergeben." schluchzte sie, während sie dem Säugling immer wieder über den Kopf streichelte.

"Das habe ich gewusst." sagte Caine milde. "Keine Mutter lässt ihr Kind leichtfertig im Stich. Es gibt immer einen anderen Weg."

Ariel lächelte scheu: "Du weißt immer alles, Caine, oder?"

Caine zog eine Schulter hoch und erwiderte das Lächeln. "Ein Narr ist, wer glaubt, alles zu wissen. Doch wer die Menschen kennt, spürt viele Dinge."

Ariel hielt den Blick auf ihr Baby gerichtet. "Aber was soll ich jetzt tun? Ich habe doch nichts, ich lebe auf der Straße, wie soll ich mich da um ein Baby kümmern?"

Peter trat zu ihnen. "Du hast ein Baby, Ariel?" fragte er verblüfft. "Aber wie…?"

Ariel blickte beschämt zu Boden. "Ich brauchte Geld, und da habe ich…" Sie ließ den Satz unvollendet.

Peter war ehrlich bestürzt. "Du hast… für Geld…? Warum bist du denn nicht zu uns gekommen, wenn du in solchen Schwierigkeiten warst?" Er verschluckte die Frage, warum sie dann nicht wenigstens verhütet hatte, um sie nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Er hatte leider oft genug mit dem Milieu zu tun, um zu wissen, dass die Freier die Mädchen oft unter Druck setzten und Ariel hatte vermutlich keine Wahl gehabt.

"Ich habe mich geschämt, Peter." erwiderte Ariel mit bebender Stimme. "Und ich kann doch auch nicht ständig andere anbetteln, ich muss doch mein Leben selber in den Griff kriegen."

"Und du glaubst, das sei die Lösung? Seinen Körper zu verkaufen?" fuhr Peter sie heftiger an, als er vorgehabt hatte und schlug sich die Hand vor die Stirn. Irgend so ein Mistkerl hatte sich an einem verzweifelten Straßenmädchen für Geld befriedigt, sie dabei geschwängert und ein Kind in die Welt gesetzt, um das er sich nie kümmern würde. Er lebte sein Leben weiter, als sei nichts geschehen und Ariel steckte in noch größeren Schwierigkeiten als vorher. Wie ungerecht konnte die Welt sein? Und wie verzweifelt und beschämt musste Ariel gewesen sein, dass sie ihr Kind hier einfach ausgesetzt hatte? Dass sie nicht einmal ihren Freunden mehr in die Augen schauen und sie um Hilfe bitten konnte?

Peter nahm Ariel unvermittelt in die Arme. Er spürte, wie sie sich vor Überraschung erst steif machte und dann entspannte. Seine Hemdbrust wurde feucht von ihren stillen Tränen.

"Ach, Ariel." sagte er.

Skalany, die die Szene wortlos mit angesehen hatte, meldete sich nun zu Wort. "Ich denke, ich wüsste da eine Lösung. Wir rufen im Frauenhaus an und bitten sie, Ariel und Hazel dort aufzunehmen. Ich hoffe nur, sie haben noch einen Platz frei. Ariel ist leider nicht die einzige Frau in Not hier in der Stadt." Auch Skalany war ehrlich betroffen.

Peter nickte. "Das ist gut. Tu das."

Wenige Minuten später kam Skalany lächelnd zurück. "Wir haben Glück, sie haben noch einen Platz! Und ihr dürft gleich kommen!"

Alle atmeten erleichtert auf und Ariel sah Peter und Skalany dankbar an. "Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!" Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen.
Peter wechselte einen Blick mit seinem Vater und dieser nickte ihm zu.

"Komm, wir bringen dich hin." sagte er und Caine und er nahmen Ariel in die Mitte. Peter betrachtete Hazel, die in den Armen ihrer Mutter friedlich eingeschlafen war.

"Sag mal, wieso hast du sie eigentlich Hazel genannt?" fragte er plötzlich unvermittelt. Ariel lächelte verlegen. "Damit sie mich nicht an ihren Vater, sondern an einen guten Freund erinnert." antwortete sie leise und drückte dankbar Peters Arm.

Ende

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