Peter erwachte vom Heulen
des Sturms. Der Wind pfiff erbarmungslos um das hohe Apartmenthaus und
rüttelte an den Fenstern. Peter stand fröstelnd auf und trat
ans Fenster. Draußen war es stockdunkel und Schneeflocken peitschten
an die Scheibe. Ein Schneesturm! Wann hatten sie hier zuletzt so etwas
gehabt? Schnee war in dieser Gegend nichts Ungewöhnliches, im Gegensatz
zu damals in Kalifornien… Aber ein solcher Sturm? Paps! Er war doch einige Tage fort gewesen, um einen alten Freund zu besuchen. Hatte er nicht heute wieder kommen wollen? Man wusste nie genau, wann Caine von seinen Ausflügen wieder kam, aber morgen war Weihnachten. In den letzten Jahren war Caine zu Weihnachten immer hier gewesen. Für ihn als Buddhisten hatte das Fest zwar eigentlich keine Bedeutung, aber er wusste, was es seinem Sohn und seinen Freunden bedeutete. Wenn er konnte, würde er auch morgen hier sein, da war sich Peter sicher. Peter wurde zunehmend unruhig. Er musste nachsehen, ob Caine zu Hause war und ob es ihm gut ging. Er warf einen Blick auf die Uhr: ein Uhr morgens. Zu dumm, dass sein Vater kein Telefon hatte. Rasch schlüpfte er in seine Kleider und griff nach dem Autoschlüssel. Eine nächtliche Störung nahm sein Vater zum Glück nicht übel; er würde Peters Sorge verstehen. Peter sah kaum etwas, obwohl die Scheibenwischer
auf Hochtouren arbeiteten. Er konnte auf der glatten Straße nur
langsam fahren; bei jeder schnelleren Bewegung geriet der Wagen unweigerlich
ins Rutschen. Nach einer halben Ewigkeit, so schien es ihm, kam er endlich
in Chinatown bei dem Haus seines Vaters an. Er hangelte sich die vereiste
Feuertreppe nach oben und fürchtete bei jedem Schritt auszurutschen
und sich den Hals zu brechen. Die Wohnung war dunkel und kalt. Sein Vater war nicht da. Peter kannte sich zum Glück gut aus, so fand er nach etwas Herumtasten eine Kerze, die er mit den Streichhölzern, die er in weiser Voraussicht eingesteckt hatte, anzündete. Jetzt konnte er auch die anderen Kerzen anzünden und bald herrschte in der kleinen Wohnung das vertraute Schummerlicht und der Geruch von warmem Kerzenwachs. In der Küche gab es eine steinzeitlich anmutende Feuerstelle, denn Caine bereitete manche seiner Kräutermedizinen über offenem Feuer zu. Peter beschloss, hier Feuer zu machen, damit die Wohnung etwas warm wurde. Er brauchte allerdings mehrere Anläufe, da er zuletzt als kleiner Junge im Tempel Feuer gemacht hatte und als Stadtmensch denkbar wenig Erfahrung in solchen Dingen hatte. Als endlich ein munteres Feuer in der steinernen Nische prasselte, war er entnervt und rußverschmiert. Er ließ sich neben dem Feuer auf den Boden sinken und wischte sich über das Gesicht. Paps, wo bist du? War sein Vater da draußen in dem Schneesturm oder hatte er irgendwo Unterschlupf gefunden? Wenigstens würde er es jetzt warm haben, wenn er nach Hause kam… Peter fühlte sich wie damals, als sein Vater schon einmal bei solch einem Wetter unterwegs gewesen war. Er war vielleicht neun oder zehn Jahre alt gewesen. Sein Vater war oft fort gegangen, um Menschen zu helfen oder seltene Kräuter zu suchen. Peter hatte ihn jedes Mal vermisst, aber dieses eine Mal hatte er Todesängste um ihn ausgestanden… ****** Peter fuhr aus dem Schlaf hoch. Was war das? Er hörte ein Heulen und Pfeifen, fast wie von wilden Tieren. Er sah sich ängstlich um. In seiner Kammer war jedenfalls nichts Bedrohliches. Langsam stand er auf und ging hinüber in die Kammer seines Vaters. Doch dessen Bettstatt war leer. Also war er noch nicht wieder da. Peter trat an das kleine Fenster und schaute hinaus. Schneeflocken peitschten an die Scheibe. Schnee! Hier schneite es selten, wenn überhaupt, so meist nur ein paar Flocken, die nicht lange liegen blieben. Doch heute Nacht schien es so richtig ordentlich zu schneien! Dann konnten sie morgen einen Schneemann bauen oder eine Schneeballschlacht machen! Peter freute sich zuerst, doch dann wurde sein Herz bang. Vater war noch nicht wieder da, also musste er noch irgendwo da draußen sein. Er hatte Peter versprochen, wieder da zu sein, wenn er am Morgen aufwachte. Peter nahm die dünne Decke vom Bett seines Vaters und wickelte sie sich um die schmalen Schultern. Sie roch nach ihm, nach seinen Kräutern und nach Kerzenrauch. Er sog den Duft ein und fühlte sich ein wenig getröstet. Dann tappte er durch den nächtlichen Tempel. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Es brannten nur wenige Kerzen, damit man sich im Notfall zurecht fand. Seine Schritte hallten in den leeren Räumen wieder. In der Eingangshalle blieb er einen Augenblick vor dem großen Tor stehen, ehe er es mühsam einen Spalt öffnete. Eiskalter Wind fuhr ihm ins Gesicht und Schneeflocken wirbelten herein. Er sah nur wenige Schritte weit nach draußen, Schnee und Dunkelheit nahmen ihm die Sicht. Er schlug die Tür wieder zu und blieb zitternd stehen. Hoffentlich hatte niemand den lauten Knall gehört! Wenn ihn Meister Khan oder Ping Hei hier erwischten, würde er eine ordentliche Strafe aufgebrummt bekommen. Peter lauschte einige Momente mit angehaltenem Atem, doch niemand kam. Verzweifelt ließ er sich neben der Tür auf den Boden sinken und zog die Decke enger um sich. Die kalte Luft pfiff durch die Ritzen des alten, hölzernen Tores. Sein Vater war da draußen in der eisigen Kälte! Wenn er sich nun verirrte und erfror! Was sollte er nur tun, wenn sein Vater nicht wieder kam? Dann hatte er niemanden mehr… Die schrecklichsten Fantasien spielten sich in seinem Geiste ab und er hockte zitternd neben dem Eingangstor, vor Angst und Kälte unfähig, sich zu bewegen. ***** Caine kämpfte sich Schritt für Schritt vorwärts. Der Wind blies ihm scharf ins Gesicht und der Schnee durchnässte seine Kleidung. Doch sein Geist war stark und konnte sich gegen Kälte und Erschöpfung behaupten. Er hatte keine Angst. Bald würde er zu Hause sein. Er dachte immer nur an den nächsten Schritt, den er tun musste. Schon einmal war er bei solch einem Wetter unterwegs gewesen und war gut zu Hause angekommen. Da sah er das Gesicht seines kleinen Sohnes vor sich. Was musste der arme kleine Kerl damals für Ängste um ihn ausgestanden haben! Aber jetzt war Peter erwachsen und vernünftiger. Er würde wissen, dass sein Vater zurecht kam. Caine setzte weiter Fuß vor Fuß und konzentrierte seinen Geist allein darauf. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten. ***** Peter hatte sich zusammen gekauert, den Kopf auf den angezogenen Knien. Er schreckte auf, als sich eine Hand sanft auf seine Schulter legte. "Peter, was machst du hier mitten in der Nacht?" "Meister Khan!" Peter zitterte noch mehr. Würde sein Lehrer ihn bestrafen, weil er nachts im Tempel herum strich, statt in seinem Bett zu liegen? Der Mönch setzte sich zu ihm. "Was ist los mit dir? Du zitterst ja! Du solltest lieber ins Bett gehen." Peter schüttelte energisch den Kopf, seine Zähne klapperten dabei vor Kälte. "Ich… ich kann nicht… schlafen. Mein Vater…" Seine Stimme versagte ihm. "Du sorgst dich um deinen Vater, weil er bei diesem Wetter draußen ist?" fragte Meister Khan. Peter nickte stumm. "Das kann ich gut verstehen. Aber du hilfst ihm nicht damit, wenn du dir hier den Tod holst." "Wer…werden Sie mich je…jetzt be…bestrafen?" schnatterte Peter. Meister Khan schüttelte den Kopf. "Wieso sollte ich einen Jungen bestrafen, der sich so um seinen Vater sorgt?" meinte er mit einem Augenzwinkern. "Dein Vater wird heil zurück kommen, da bin ich sicher." fuhr er ernst fort. "Es gibt niemanden, der besser auf sich aufpassen kann, als er. Und er würde dich niemals im Stich lassen." Peter lächelte zaghaft. "Meinen Sie?" "Oh ja, das meine ich. Du bist für deinen Vater das Kostbarste auf der Welt, da lässt er sich doch nicht von einem kleinen Schneesturm aufhalten." Wieder zwinkerte er Peter zu. Dann holte er eines der kleinen Kohlebecken, die rechts und links neben der großen Bhuddastatue am anderen Ende der Halle standen und stellte es neben Peter. Er blies hinein, um die Glut neu zu entfachen und Peter fühlte dankbar, wie ihm etwas wärmer wurde. Meister Khan verschwand im Dunkeln und Peter fragte sich, ob er das gerade wirklich erlebt oder nur geträumt hatte. Die Wärme machte ihn schläfrig und er kämpfte gegen die aufsteigende Müdigkeit an. Eine Weile später schreckte er erneut auf, als plötzlich das große Eingangstor aufflog. **** Caine erinnerte sich, wie er damals zurückgekommen war. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, dass Peter sich um ihn sorgen könnte und hatte angenommen, er würde in seinem Bett liegen und tief und fest schlafen. Erleichtert stieß er die Türe auf. Endlich daheim! Er schob den Torflügel wieder hinter sich zu und als er sich umdrehte, sah er einen Schatten neben der Tür. Alarmiert hielt er in seiner Bewegung inne und nahm Verteidigungshaltung an. Eindringlinge? Doch dann erkannte er erleichtert, dass es sein Sohn war, der mit großen Augen zu ihm aufsah. Sein erster Impuls war, ihn zu schelten, weil er nicht im Bett lag, doch dann erkannte er die Angst in seinen Augen. Ehe er aber etwas sagen konnte, sprang Peter plötzlich auf und schmiegte sich aufschluchzend an ihn. "Vater!" flüsterte er erstickt. "Ich hatte solche Angst um dich!" Caine legte stumm die Arme um ihn und hielt ihn sanft fest. Sein Junge hatte solche Angst gehabt und er war nicht bei ihm gewesen. Er strich seinem noch immer zitternden Kind über den Kopf. "Es ist gut." murmelte er beruhigend. "Es ist alles gut, mein Sohn." Er kniete sich hin und legte Peter die Decke wieder um, die ihm von den Schultern gerutscht war. Dann strich er ihm über die Wange. "Peter, du hast gefürchtet, ich würde nicht wiederkommen?" fragte er ernst. Der Junge nickte. Caine legte ihm die Hände auf die Schultern und sah ihm in die Augen. "Was auch geschieht, Peter, ich werde immer wiederkommen. Ich verspreche dir, dass ich dich niemals im Stich lassen werde." sagte er. Sein Sohn entspannte sich und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Caine lächelte ebenfalls und gab ihm einen sanften Puff auf die Wange. Dann hob er ihn hoch und trug ihn in seine Kammer. **** Peter schreckte aus seinen Erinnerungen hoch, als er ein Geräusch hörte. Sein Herz machte einen Sprung, als er seinen Vater in der Tür stehen sah, kleine schmelzende Schneeberge auf Hut und Schultern, Nase und Wangen gerötet und das Haar nass und strähnig. Am liebsten wäre er wie damals erleichtert auf ihn zu gelaufen, doch er stand langsam auf. "Paps! Geht es dir gut?" fragte er teils erleichtert, teils besorgt. Caine nahm den Hut ab und klopfte ihn aus. Wasser und Schneeflocken sprühten um ihn herum, als er auch seine Jacke ausschüttelte und aufhängte. Er schien nicht im Geringsten davon überrascht zu sein, seinen Sohn mitten in der Nacht in seiner Wohnung vorzufinden. "Es geht mir gut." antwortete er, als er sich ihm wieder zuwandte. "Du weißt doch, dass ich immer wiederkomme, mein Sohn." Sein Gesicht war scheinbar ausdruckslos, doch Peter erkannte das Lächeln in seinen Augen. Caine hatte eine Gabe, nur mit den Augen zu lächeln; den Mund verzog er dabei fast unmerklich. Aber in seinen Augen stand tiefe Zuneigung für seinen Sohn und auch Verstehen. Er schien genau zu wissen, was in seinem Sohn vorging und woran er gedacht haben mochte, während er wartete. Peter musste unwillkürlich lächeln. "Und du hast gewusst, dass ich hier auf dich warten würde." stellte er verschmitzt fest. Das Lächeln in Caines Augen wurde strahlender und griff nun doch auf seine Mundwinkel über. Peter konnte nicht anders, er trat auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Ende
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