Autor: TempleGirl
 

"Lass dem Jungen Zeit." beruhigte Paul seine Frau. Annie seufzte. Der vierzehnjährige Peter machte ihr Sorgen.

Als Paul ihr mitgeteilt hatte, er spiele mit dem Gedanken, ein traumatisiertes Heimkind in der Familie aufzunehmen, hatte sie schlaflose Nächte verbracht. Würden sie das schaffen, würden sie der Verantwortung und den Anforderungen, die ein solches Kind an sie stellte, gewachsen sein? Noch dazu, wo es sich bereits um einen pubertierenden Teenager handelte. Als hätten sie davon nicht selber zwei… Die elfjährige Kelly war zwar noch recht kindlich, aber lange würde das nicht mehr dauern. Und die 16jährige Carolyne war gerade in einer Phase, in der sie eigentlich eines begehbaren Kleiderschrankes und eines eigenen Badezimmers bedürfe, damit der Rest der Familie auch die Chance hatte, seiner Körperpflege und anderer Bedürfnisse nachzukommen. Und jetzt noch ein schwieriger Junge… Würde das gut gehen?

Seit einigen Wochen war Peter nun bei ihnen. Meist war er verschlossen, manchmal launisch, mitunter sogar hitzig. Zu Annie war er höflich, aber distanziert und sprach sie mit Mrs. Blaisdell an. Paul nannte er dagegen beim Vornamen. Die beiden hatten eine Art kumpelhaftes Verhältnis, doch Peter bekam regelmäßig fast hysterische Wutanfälle, wenn Paul statt des Kumpels eben auch mal die väterliche Autorität zum Tragen bringen musste.

Eben war dies wieder der Fall gewesen. Erst war er grob zu Kelly gewesen, die ihren neuen Bruder anhimmelte und nun zutiefst unglücklich war. Und beim Abspülen hatte er etwas von Annies gutem Porzellan zerbrochen und sie hatte deshalb mit ihm gescholten. Peter war daraufhin in sein Zimmer gestürmt und hatte die Tür hinter sich zugeknallt.

"Du bist nicht mein Vater!" hatte er Paul angebrüllt, als dieser ihm folgte und ihn streng zurechtwies, und außer sich vor Wut mit Gegenständen um sich geschmissen. Paul hatte ruhig geantwortet: "Alles, was du hier kaputt machst, wirst du von deinem Taschengeld bezahlen. Nach dem, was ich über deinen richtigen Vater weiß, hat er dir gewiss etwas über Wert und Wertschätzung beigebracht. Ich wünsche, dass du auch in diesem Haus danach handelst, denn das hätte dein Vater sicher gewollt."
"Was weißt du schon über meinen Vater." sagte Peter leise mit erstickter Stimme.
Paul fühlte den tiefen Schmerz des Jungen über diesen unfassbaren Verlust beinahe körperlich. Was Wunder, dass er keine andere Vaterfigur akzeptieren wollte, musste er doch große Angst haben, einen neuen "Vater" ebenfalls irgendwann wieder zu verlieren und erneut großen Schmerz zu erfahren. Am liebsten hätte er Peter in den Arm genommen, doch Mitleid half dem Jungen jetzt nichts.
"Du hast recht, ich weiß kaum etwas über ihn. Aber er war sicher ein ganz besonderer Mann." Paul setzte sich auf Peters Bett und forderte Peter mit einer Geste auf, das Gleiche zu tun. So befanden sie sich auf Augenhöhe. "Peter, ich könnte niemals deinen Vater ersetzen, das will ich auch gar nicht. Aber ich möchte dein Freund sein. Wir alle hier möchten das. Aber du machst es uns nicht immer leicht."
"Ach ja?" brauste Peter auf. "Glaubst du, für mich ist es leicht? Kelly nervt mich, sie läuft mir wie ein Hündchen nach und gibt vor ihren Freundinnen an, was sie für einen tollen großen Bruder hat. Aber ich bin verdammt noch mal nicht ihr Bruder! Und Mrs. Blaisdell ist ihr dusseliges Porzellan wichtiger als ich."
"Das stimmt nicht, und das weißt du auch. Du wirst dich bei Kelly und bei deiner Pflegemutter für dein Verhalten entschuldigen. Es ist sicher nicht leicht für dich, aber es wird leichter werden, wenn du dich nicht mehr dagegen wehrst, dass wir alle dich mögen."
Mit diesen Worten stand Paul auf und verließ das Zimmer.

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"Meinst du, wir haben das Richtige getan?" fragte Annie besorgt. "Er ist jetzt sechs Wochen hier und macht keinerlei Anstalten, sich hier einzuleben. Ich weiß langsam nicht mehr, was ich noch tun soll. Ich finde einfach keinen Zugang zu ihm, egal wie ich es versuche, ob im Guten oder ob ich streng bin. Paul, ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr!"

Paul nahm seine Frau in die Arme und diese legte ihren Kopf an seine Schulter.
"Ich weiß, dass es nicht leicht ist." erwiderte er. "Aber denk daran, was der Junge durchgemacht hat. Er ist im Moment sehr verletzlich und seine Wunden sitzen tief. Sein Verhalten ist eine normale Schutzreaktion gegen weitere Verletzungen. Er will nicht uns wehtun, sondern sich schützen, auch wenn das nicht immer leicht ersichtlich oder verständlich ist. Was er braucht, ist Liebe und Vertrauen. Wenn wir ihn jetzt auch im Stich lassen, wird er daran zerbrechen und vielleicht nie in ein normales Leben zurück finden. Willst du das?"

"Nein." antwortete Annie dumpf in Pauls Hemd. "Natürlich nicht." Sie löste sich von ihm und lenkte ihren Blick dorthin, wo sie sein Gesicht vermutete. "Ich mag ihn, trotz allem. Und ich glaube, er kann ein feiner Kerl sein, wenn er nur zur Ruhe kommt und zu sich selbst zurück findet. Ich weiß nur nicht, ob ich genügend Kraft habe, ihn dorthin zu begleiten."

Paul nahm ihre Hand. "Gemeinsam werden wir es schaffen. Und der Urlaub wird uns allen gut tun. So ein Ortswechsel wirkt manchmal Wunder, du wirst sehen."


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Peter atmete tief durch. Das Meer! Er war noch nie am Meer gewesen. Es war so groß, so unendlich. Er breitete die Arme aus und hob das Gesicht gegen die Sonne. Die Brandung rauschte in seinen Ohren und plötzlich lief er einfach los, auf diese tiefblaue Unendlichkeit zu, als könne er abheben und in eine andere Welt hinein fliegen. Er johlte und schrie dabei, seine Füße trommelten auf den heißen Sand und patschten dann ins Wasser. Peter stürzte sich der anbrandenden Welle entgegen; die Wucht des Aufpralls ließ ihn einen Moment lang alles vergessen und er tobte und planschte so lange, bis er schließlich erschöpft und atemlos in den Sand fiel. Schwer atmend blieb er liegen und fühlte seine Augen brennen.
Vater, warum bist du nicht hier und erlebst das zusammen mit mir?

Peter war von Pauls und Annies Urlaubsplänen erst gar nicht begeistert gewesen. Ausgerechnet Kalifornien… Er wollte dort nicht hin, in das Land, in dem er alles verloren hatte, was ihm je etwas bedeutet hatte. Panik war in ihm aufgeflammt, was, wenn der Schmerz unerträglich werden würde? Wie konnte Paul nur einen solchen Urlaubsort in Erwägung ziehen?
Doch Paul hatte, als Peter deshalb fast einen Tobsuchtsanfall bekam, ruhig geantwortet: "Erstens ist San Diego weit weg von dem Ort, wo der Tempel stand und zweitens muss man sich seinen Ängsten und Gefühlen stellen, man kann vor ihnen nicht weglaufen. Du wirst sehen, es wird dir gefallen."

Und es stimmte, das Meer gefiel ihm. Sie hatten ein kleines Ferienhaus direkt am Strand gemietet und Peter stromerte stundenlang am Strand herum und kletterte auf der nahen felsigen Mole, bis seine Füße wund waren. Er genoss es, allein zu sein, endlich allein. Im Waisenhaus war er nie allein gewesen, er hatte sich einen Schlafraum mit mehreren Jungs geteilt und kaum eine Minute Privatleben gehabt. Und zuhause bei Paul und Annie waren ja noch die Mädchen; zwar hatte er dort ein eigenes Zimmer, dennoch konnte er die Nähe anderer Menschen auch dort manchmal nicht ertragen, selbst wenn sich eine Wand zwischen ihnen befand. Hier durfte er herumstreunen und Paul und Annie ließen ihn gewähren, solange er pünktlich zu den Mahlzeiten erschien und nach Einbruch der Dunkelheit in Sichtweite der Hütte blieb. Abends saß er oft auf der Mole und betrachtete den Sternenhimmel. So viele Sterne hatte er noch nie gesehen und er fühlte sich in der Stille der Dunkelheit seinem Vater am nächsten. Die Hitze des Tages war einer angenehmen Kühle gewichen und der Sternenhimmel wölbte sich über ihn wie die von tausend Kerzen erleuchteten Kuppeln des Tempels. Tagsüber herrschte jetzt im Spätsommer noch mäßiger Badebetrieb, abends fanden sich höchstens vereinzelte Liebespaare oder Spaziergänger. Peter war also meist allein mit sich und seinen Gedanken, wenn er die Sterne betrachtete.

Nach einer Woche jedoch forderte Paul, dass er sich auch hin und wieder der Familie anschloss. Immerhin sollte dieser Urlaub sie ja auch einander näher bringen.
Widerstrebend begleitete Peter die Familie also am nächsten Tag an den Strand. Irgendwann am Nachmittag, als es sich alle gerade richtig gemütlich gemacht hatten, drängelte Kelly: "Ich will ins Wasser! Es ist so heiß! Wer kommt mit?"
Carolyne hatte sich auf ihrem Handtuch in der Sonne ausgestreckt und machte keine Anstalten, sich in nächster Zeit davon weg zu bewegen. Annie lag neben ihr unter dem Sonnenschirm und hörte Musik mit ihrem Walkman und Paul hatte sich in einen Krimi vertieft. Er sah von seinem Buch auf und wandte sich an Peter: "Gehst du mit ihr?"

"Muss das sein?" antwortete Peter gereizt. "Sie ist doch groß genug, um allein schwimmen zu gehen."

"Das hier ist nicht das Victoria Park-Schwimmbad, sondern der Pazifische Ozean, Peter. Ich möchte nicht, dass meine jüngste Tochter dort völlig alleine schwimmt. Also hättest du jetzt die Güte und gehst mit ihr ins Wasser?" Pauls Tonfall hatte eine leichte Schärfe angenommen.

Peter hätte ihn am liebsten angebrüllt, er fühlte eine unbändige Wut in sich aufsteigen. Wieso wollte Paul ständig über ihn bestimmen und kommandierte ihn herum wie einen seiner Detectives?

"Ja, ja, wie der große Captain befiehlt." gab er trotzig zur Antwort.

"Sprich nicht so mit deinem Vater." sagte Annie automatisch, die gerade ihre Kopfhörer abgenommen hatte, weil sie die Spannung in der Luft gespürt hatte.

"Er ist nicht mein Vater, verdammt noch mal!" fuhr Peter auf und rannte, ohne sich um Kelly zu kümmern, ins Wasser.

"Peter!" rief ihm Paul donnernd hinterher, doch er gab vor, ihn nicht zu hören. Kelly stolperte hinter ihm her in die Brandung. "Warte, Peter! Warte doch auf mich!" Sie versuchte, ihren Stiefbruder einzuholen und wurde dabei immer wieder von den Wellen überrollt. Prustend tauchte sie nach einer besonders großen Welle wieder auf und sah sich nach Peter um, konnte ihn aber nirgends entdecken.

Peter ließ sich von den Wellen treiben und kraulte schließlich in Richtung Mole. Er peilte ihr äußerstes Ende an, das weit ins Meer hinein ragte. Dort würde er seine Ruhe haben. Bald hatte er die scharfkantigen Felsen erreicht und zog sich keuchend empor. Er balancierte über die glitschigen Steine bis an die Spitze der Mole und ließ sich dort auf einem flachen Fels nieder. Er fröstelte ein wenig im scharfen Wind, doch das machte ihm nichts aus. Sein Blick wanderte über das endlose Meer und verlor sich im ebenso endlosen Blau des Himmels.
Vater, warum hast du mich verlassen? Ich brauche dich! Ich bin so allein und niemand versteht mich.

Kelly entdeckte Peter schließlich drüben auf der Mole und beschloss, zu ihm zu schwimmen. Dort herum zu klettern machte sicher Spaß. Doch als sie endlich die Felsen erreichte, fühlte sie sich völlig ausgepumpt. Sie hatte teilweise gegen die Strömung anschwimmen müssen und die Wellen waren ihr immer wieder ins Gesicht geschwappt. Irgendwo in der Ferne hörte sie ihren Vater rufen. Verzweifelt klammerte sie sich an den rutschigen Stein vor ihr, die Wellen warfen sie unbarmherzig immer wieder gegen den harten, scharfkantigen Fels und sie fand keinen rechten Halt, um hinauf zu klettern. "Peter, hilf mir!" rief sie.

Peter schreckte aus seinen Gedanken auf. Was war das? Hatte da jemand gerufen? Irritiert sah er sich um. Erst dachte er, er habe sich geirrt, aber dann sah er plötzlich weiter hinten an der Mole eine Hand, die sich an den Felsen klammerte und immer wieder abrutschte. So schnell es ihm mit seinen bloßen Füßen möglich war, kletterte er über die Steine. Dort brauchte jemand Hilfe!

"Peter!" rief Kelly verzweifelt und mit der nächsten heftigen Welle versank sie gurgelnd im Wasser. Peter sah sie gerade noch untergehen. "Kelly!" brüllte er, da tauchte sie prustend wieder auf und versuchte, den Felsen zu fassen zu kriegen. Peter sah, dass sie am Ende ihrer Kräfte war und in Panik zu geraten drohte. Er legte sich flach auf den Bauch und streckte ihr eine Hand entgegen. "Gib mir deine Hand!" Das erste Mal griff sie ins Leere, doch dann bekam er sie zu fassen und zog, so fest er konnte. Kelly keuchte und schluchzte und versuchte, mit den Füßen am Felsen Halt zu finden. Peter glaubte, sie werde ihm den Arm abreißen, doch schließlich landete sie strampelnd neben ihm auf der Mole, wo sie einige Augenblicke liegen blieb, bis sie wieder zu Atem kam.

"Wie gehts`s dir?" fragte Peter vorsichtig. "Bist du okay?"

"Ich glaub schon." antwortete sie, die ausgestandene Angst stand ihr noch ins Gesicht geschrieben und sie zitterte vor Kälte. Peter legte schüchtern den Arm um sie und sie schmiegte sich vertrauensvoll an ihn. Das war ein seltsames Gefühl. Plötzlich fühlte er sich für Kelly verantwortlich, sie schien ihm so verletzlich und er war so viel stärker als sie. Er war… ihr großer Bruder. Ja, so musste sich das anfühlen, ein großer Bruder zu sein. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er drückte Kelly leicht an sich. Sie sah ihn an und lächelte. "Danke, Peter! Du hast mich gerettet! Ohne dich hätte ich das nie im Leben da rauf geschafft." Peter lächelte zurück. "Dafür hat man doch schließlich einen großen Bruder." sagte er scheinbar leichthin.

Sie saßen noch eine ganze Weile auf der Mole und unterhielten sich. Kelly fragte ihn nach seiner Zeit im Tempel und Peter war erstaunt, wie leicht es ihm fiel, darüber zu sprechen. Zwar schmerzte es, wenn er an Meister Khan, Ping Hai, seine Freunde und vor allem an seinen Vater dachte, doch ihm tat Kellys Bewunderung und ihr Interesse an all den ihr fremden Dingen und Begebenheiten gut, von denen er ihr erzählte.
"Du kannst echt Kung Fu?" fragte sie ihn.
"Ja, aber ich mache es nicht mehr. Das ist vorbei." antwortete er.

Dann bemerkte er, dass die Sonne schon tief stand. "Wir müssen zurück. Wie lange waren wir denn hier?" fragte er erschrocken.
"Ich weiß nicht." sagte Kelly unsicher. Die beiden Kinder kletterten über die Mole auf den Strand zu, auf Schwimmen hatten sie beide heute keine Lust mehr. Der Weg an Land schien endlos zu sein und die Felskanten stachen sie in die Fußsohlen, doch irgendwann erreichten sie den weichen, warmen Sand und liefen lachend in Richtung der Sonnenschirme weiter unten am Strand, wo auch irgendwo ihre Familie lagerte.

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Paul hielt ärgerlich nach Peter und Kelly Ausschau. Sie waren seit bald zwei Stunden fort und die Familie wollte nach Hause zum Abendessen.

"Wo stecken sie nur? Sie wissen doch genau, dass sie nicht so lange weg bleiben sollen."

"Peter kann auf sich Acht geben, das weißt du doch." beschwichtigte Annie ihn. "Und er war die letzte Zeit doch oft den ganzen Tag allein unterwegs."

"Aber heute ist Kelly bei ihm und du weißt doch, wie er sich bisher ihr gegenüber verhalten hat. Er wird sie entweder piesacken oder gar nicht auf sie achten. Wenn ihr nun etwas passiert ist?" Paul lief unruhig auf und ab.

Annie richtete sich auf die Ellenbogen auf. "Wenn er sie geärgert hätte, wäre sie schon längst zurück gekommen und hätte sich darüber beschwert." stellte sie ruhig klar. Ehe sie weiterreden konnte, hörte sie plötzlich Kellys vertrautes Lachen und… konnte es wahr sein? Peter lachte ebenfalls! Hatte sie ihn jemals lachen hören, seit er bei ihnen war?
"Da kommen sie ja!" meinte sie mit leisem Triumph in der Stimme.

Paul wollte schon zu einer Moralpredigt ansetzen, als sich die beiden Kinder albernd auf die Handtücher fallen ließen, doch Annie legte ihm sanft die Hand auf den Arm.

"Ihr wart ja lange weg. Hattet ihr einen schönen Nachmittag, ihr zwei?" fragte sie leichthin.

Kelly strahlte. "Oh ja, Peter hat mir ganz viel vom Tempel und so erzählt! Das war total aufregend, was er da alles erlebt hat! Und Kung Fu kann er auch!"

"Ja, wirklich?" wandte sich Annie an Peter.

"Ja, klar, Mum, das war im Tempel ein großer Teil des Unterrichts." Peter schlug sich erschrocken auf den Mund, als ihm klar wurde, wie er Mrs Blaisdell gerade genannt hatte. Annie legte ihm sanft einen Arm um die Schultern. "Das fehlt dir sicher alles sehr, nicht wahr?"

Peter sah sie scheu an. Er hatte seine eigene Mutter nicht gekannt; als sie starb, war er noch zu klein gewesen, um sich an sie zu erinnern. Es war eben so leicht gegangen, Annie Mum zu nennen. Eben noch hatte er stark und unabhängig sein wollen, sich von niemandem etwas sagen lassen wollen, eben noch hatte er sich als starker, großer Bruder gefühlt, der seine kleine Schwester beschützen konnte, aber nun fühlte er auch, dass er selbst auch Schutz und Trost brauchte und Annie - Mum – konnte ihm das geben. Das Bild verschwamm ihm vor Augen und er stellte erstaunt fest, dass er weinte. Der dicke Kloß in seiner Brust löste sich und floss davon. Endlich konnte er weinen, um seinen Vater, um seine Mutter, um das Leben, dass er hinter sich lassen musste…

Annie hielt ihn schweigend in den Armen und wiegte ihn wie ein ganz kleines Kind. Peter wusste nicht, wie lange er in ihren Armen geweint hatte, aber danach fühlte er sich leichter und die Wut, die er so oft in sich spürte, war weniger geworden.

"Es tut mir leid." sagte er leise und fuhr sich über die Augen.

"Du brauchst dich für deine Tränen doch nicht zu entschuldigen. Es ist gut, dass du sie heraus lassen konntest." antwortete Annie sanft.

"Nein, nein, das meine ich nicht." Peter schniefte. "Es tut mir leid, dass ich mich euch gegenüber so schrecklich benommen habe." Er senkte den Kopf. "Ich… ich bin oft so wütend gewesen, weil… weil mein Vater mich allein gelassen hat und… ich wollte stark sein und mir von niemandem etwas sagen lassen, wollte erwachsen sein, aber… das bin ich nicht. Noch nicht. Ich… ich brauche meinen Vater, aber er ist nicht mehr da…" Er stockte.

"Du meinst, du hast gemerkt, dass du ab und zu doch noch einen Vater und eine Mutter brauchst?" fragte Annie behutsam. "Jeder Mensch braucht jemandem, bei dem er Halt und Trost findet, und Menschen wie du, die jemanden, den sie sehr geliebt haben, verloren haben, ganz besonders. Paul und ich möchten gerne für dich da sein, aber bisher wussten wir nicht, wie wir das anstellen sollen."

Peter sah unsicher zu Paul hinüber, der das alles staunend und sich hilflos fühlend beobachtet hatte. "Wollt ihr das überhaupt noch, so, wie ich mich benommen habe?" fragte er scheu.

"Ich möchte es." sagte Annie bestimmt und lächelte. "Wie ist es mit dir, Paul?"

"Ja, natürlich." antwortete Paul. Er wusste nicht so recht, wo das alles hinführen sollte, aber er spürte erleichtert, dass Annie auf irgendeine geheimnisvolle, weibliche Weise endlich Zugang zu Peter gefunden hatte.

Peters Gesicht hellte sich auf. Jetzt erst bemerkte er, dass Carolyne und Kelly gar nicht mehr da waren und er einen Bärenhunger hatte. "Was gibt´s denn zum Abendessen? Ich bin am Verhungern!"

"Wie wär`s mit einem Barbecue am Ferienhaus?" fragte Paul und er und Annie nahmen Peter in die Mitte, nachdem sie ihre Siebensachen zusammen gesammelt hatten. "Die Mädchen sind schon voraus gegangen und bereiten alles vor."

Peter fühlte sich geborgen zwischen Paul und Annie, hatte das Gefühl, sich fallen lassen zu können und hielt sich rechts und links ganz fest an ihren Armen eingehakt. Das tat so gut!

"Darf ich dir beim Grillen helfen… Dad?" fragte er vorsichtig. Paul hielt kurz inne, als er sich so angesprochen hörte und drückte Peters Arm. "Klar, Junge." sagte er mit merkwürdig rauer Stimme. "Das ist doch schließlich Männerarbeit." Peter lächelte und lehnte seinen Kopf an Pauls starke Schulter.

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In dieser Nacht lag Peter noch spät wach, zum einen wegen des Gewitters, das mit der Dunkelheit heraufgezogen war, zum anderen, weil ihm der wunderschöne Grillabend nicht aus dem Kopf ging.
Sie waren alle so fröhlich gewesen und Peter hatte das Gefühl gehabt, endlich wieder eine Familie zu haben, eine richtige Familie mit Vater und Mutter und sogar Geschwistern! Eine, zu der er richtig dazu gehörte! Paul hatte ihm gezeigt, wie man Würstchen und Fleisch grillte, so etwas hatten sie im Tempel nie gemacht. Nach dem Essen hatte Paul ein Netz zwischen zwei Bäumen gespannt und sie hatten Beachvolleyball gespielt, Kelly und Carolyne gegen Peter und Paul. Die Mädchen waren verdammt gut gewesen, Peter dagegen fehlte die Erfahrung und Paul die Übung, was er aber mit der Kraft des Erwachsenen zumindest zum Teil ausgleichen konnte. Am Schluss waren sie alle lachend und erschöpft in den Sand gefallen und Annie hatte ihnen Getränke gebracht und sich zu ihnen gesetzt, während sie zusahen, wie die Sonne im Meer versank und die ersten dunklen Gewitterwolken am Horizont aufzogen. Kelly beschrieb ihrer Mutter das Schauspiel am Himmel und auch Peter erzählte ihr, wie schön die Sonne aussah und wie wundervoll sie das Wasser glitzern ließ. "Wie eine Mutter," meinte er versonnen. "Wie eine Mutter, die freundlich auf ihre Kinder schaut und ihnen eine gute Nacht wünscht." Annie hatte ihm einen Arm um die Schultern gelegt und gelächelt und er hatte sie angesehen und gedacht: "Wie schön, dass ich wieder eine Mum habe."

Jetzt tobte das Gewitter mit aller Macht, der Regen prasselte an die Fensterscheiben und der Sturm pfiff ums Haus. Peter kuschelte sich tiefer unter die Decke, als er leise seine Zimmertür aufgehen hörte.
"Peter?" flüsterte Kelly. "Darf ich bei dir schlafen? Ich fürchte mich so!" Kreischend zuckte sie zusammen, als ein Blitz das Zimmer erhellte und fast gleichzeitig ein gewaltiger Donner krachte.
Peter lüpfte seine Decke ein wenig und Kelly schlüpfte rasch darunter und schmiegte sich an ihn. "Hast du keine Angst vor dem Gewitter?" fragte sie ihn schaudernd.
Peter schüttelte den Kopf. Er erklärte Kelly, wie ein Gewitter zustande kam, so wie es ihm einst sein Vater im Tempel erklärt hatte, als er sich als kleiner Junge vor Blitz und Donner gefürchtet hatte. Von den Luftschichten, die aufeinander prallten und sich wie zwei wütende Riesen mit den Köpfen stießen, dass es nur so donnerte und blitzte. Der eine war warm und der andere kalt und durch ihre Reibung entstand Elektrizität, die als Blitz zu Boden zuckte und die so geteilte Luft schlug hinter dem Blitz als Donner hörbar wieder zusammen. Kelly kicherte. "Daddy hat früher immer gesagt, dass die Riesen im Himmel Bowling spielen. Da war ich aber noch sehr klein. Aber das hier gefällt mir noch besser: Der warme und der kalte Luftriese."

Peter spürte, wie sich Kelly neben ihm entspannte und wollte sich gerade selbst im Bett herum drehen, als seine Gedanken wieder zu dem Grillabend wanderten und ihm plötzlich siedendheiß einfiel: "Der Grill! Der Grill steht noch mitten im Garten, was, wenn der Sturm ihn nun umschmeißt und er kaputt geht?" Der neue Grill war Pauls ganzer Stolz und er hatte ihn auf der Herfahrt gehütet wie einen Schatz. Am Abend hatten sie ihn einfach stehen lassen, damit er auskühlen konnte und Paul hatte gemeint, das Gewitter würde gar nicht bis zu ihnen kommen.

Er drehte sich zu Kelly um, die schon halb am Einschlafen war und schlüpfte aus dem Bett. Schlaftrunken rief sie ihm hinterher: "Peter? Wo gehst du denn hin?"

"Aufs Klo." log er. "Schlaf weiter." Barfuß und nur im T-Shirt und Schlafanzug-Shorts tappte er die Treppe hinunter und in den Garten hinaus. Dort blies ihn der Wind beinahe um und der Regen durchnässte ihn sofort. Er kämpfte sich bis zum Grill hin, der gefährlich schwankte und mühte sich redlich, ihn auf die kleine überdachte Veranda zu schieben. Bis zur Veranda schaffte er es ohne größere Probleme, doch dann musste er den Grill noch eine Stufe hinauf bugsieren. Das Ding war verdammt schwer und sträubte sich förmlich dagegen, gerettet zu werden. Peter zog und zerrte und hatte den Grill schon fast auf der Stufe, als ihn eine scharfe Böe aus dem Gleichgewicht brachte. Der Griff rutschte ihm aus den Händen und der Grill kippte und krachte dann mit ohrenbetäubendem Geschepper auf den Boden. Peter schlug erschrocken die Hände vor den Mund. Das schöne runde schwarzglänzende Kugelgehäuse hatte nun eine hässliche Delle, denn der Grill war genau auf einen großen Stein gefallen, der dort am Boden gelegen hatte. Und zu allem Überfluss war auch noch ein Griff vom Grillrost abgebrochen.

Oben im Haus ging das Licht an. Peter fuhr herum. Paul! Wenn er merkte, dass sein neuer Grill kaputt war… Peter geriet in Panik und stürmte durch den Garten davon in Richtung Strand.

Keuchend rannte er durch den Regen, die nassen Haare klebten ihm im Gesicht und seine durchnässten Kleider klatschten ihm um den mageren Körper. Die halbe Nacht verbrachte er frierend auf der Mole und wusste nicht, ob es Tränen oder der Regen war, was ihm die Wangen hinab lief. Paul würde wütend werden, wenn er seinen kaputten Grill fand und ihn zurück ins Heim schicken. Er würde ihm nicht glauben, dass es ein Unfall gewesen war, so wie er sich in den ersten Wochen bei den Blaisdells benommen hatte. Peter würde wieder einen Vater verlieren… Zitternd rollte er sich auf den kalten Steinen zusammen und schlief irgendwann vor Erschöpfung ein.

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"Was war das?" Paul war von dem Geschepper schlagartig wach geworden. Er stand auf und schaltete das Licht ein. "Hoffentlich deckt der Sturm nicht das Dach ab."

Annie rieb sich die Augen. "Hast du eigentlich den Grill noch aufgeräumt?" fragte sie verschlafen.

"Du lieber Himmel, nein!" Paul warf sich seinen Morgenmantel über und stürmte die Treppe hinunter. Auf der Veranda blieb er wie angewurzelt stehen. Sein schöner Grill lag auf dem Boden, verbeult und voller Schlamm. Fluchend stellte er ihn wieder auf und begutachtete den Schaden. Na ja, irgendwie würde er das schon wieder hinkriegen. Auch den Griff würde er wieder befestigen können. Trotzdem schade. Aber Moment mal… wie kam der Grill eigentlich hierher? Er hatte schließlich ein ganzes Stück vom Haus weg im Garten gestanden und da waren ja auch Schleifspuren im sandigen Boden und … Fußabdrücke. Von den bloßen Füßen eines Jungen.

"Peter!" brüllte er und polterte die Treppe hoch. Doch in Peters Zimmer fand er nur eine verstörte Kelly in Peters Bett. "Wo ist Peter?" fuhr er sie an.

"Ich weiß nicht. Ich glaub, er wollte aufs Klo." murmelte Kelly unter der Decke.

"Von wegen aufs Klo." knurrte Paul.

"Was ist denn los?" fragte Annie hinter ihm. "Wieso tobst du wie ein Irrer durchs Haus?"

Paul zog die Tür wieder zu und berichtete Annie knapp, was geschehen war.

"Also, ich weiß nicht." meinte sie. "Er war doch so fröhlich und entspannt am Abend und das Grillen hat ihm gefallen, warum sollte er jetzt deinen Grill kaputt machen?"

"Das weiß ich auch nicht." Pauls Zorn war so plötzlich verraucht, wie er aufgeflammt war. Annie legte ihm eine Hand auf den Arm. "Ich glaube nicht, dass Peter ihn mutwillig zerstören wollte. Er ist ein guter Junge, das spüre ich. Er hat gesagt, dass er oft wütend war, aber doch nicht auf uns, sondern auf sein Schicksal. Darauf, dass sein Vater ihn im Stich gelassen hat, sein Vater, den er so sehr braucht, denn er ist noch immer ein kleiner Junge, auch wenn er manchmal gern schon erwachsen wäre. Das hat er heute selbst erstaunlich klar erkannt. Und jetzt braucht er uns, Paul. Er hat heute ein wenig Vertrauen zu uns gefasst, doch ich glaube, er hat noch immer große Angst vor einer neuen Enttäuschung. Paul…" Sie berührte seine Wange und drehte sein Gesicht sanft zu sich herum. "Zerstöre nicht durch deinen Zorn das zarte Pflänzchen seines Vertrauens. Peter will nicht noch einen Vater verlieren."

Paul seufzte. "Warum ist er denn nicht zu uns gekommen, als ihm das mit dem Grill passiert ist?"

"Verstehst du das immer noch nicht?" antwortete Annie. "Er hat Angst. Du bist nicht sein richtiger Vater und er denkt, wenn er dich enttäuscht, kannst du ihn ja einfach ins Heim zurück schicken. Er weiß, wie zornig du werden kannst, aber er weiß noch nicht, ob du ihn auch so bedingungslos liebst, wie sein Vater es getan hat."

"Mein Gott." Auf einmal verstand Paul die Ängste des Jungen, seine Reaktion auf die Sache mit dem Grill. Jetzt war er irgendwo da draußen im Unwetter, allein und verzweifelt. Er nahm Annie bei den Schultern. "Ist er unser Sohn?" fragte er sie unvermittelt. "Ich meine, ist er für dich wie dein eigenes Kind?"

Annie lächelte. "Hast du das etwa noch nicht gemerkt?"

"Dann lass uns unseren Sohn suchen gehen."

"Paul…" wandte Annie ein.

"Ja?"

"Ich bleibe lieber hier, für den Fall, dass er zurückkommt." Sie verkniff es sich, ihn daran zu erinnern, dass sie ihm bei einer Suche im Unwetter eher hinderlich wäre und er besser allein vorankam. Außerdem… vielleicht kam Peter ja wirklich bald zurück und dann wäre es gut, wenn sie hier war. Als Paul gegangen war, richtete sie ihren Blick fröstelnd in Richtung der Fensterfront, hinter der sie den Regen prasseln hörte. Peter, mein Junge, wo bist du nur? Komm nach Hause!

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Als Peter frierend erwachte, hatte der Regen nachgelassen und es begann bereits zu dämmern. Steif richtete er sich auf und überlegte, was jetzt werden sollte. Sein Blick fiel auf die Klippen, die südlich der Mole hoch empor ragten. Dort wollte er hinauf, dort war er dem Himmel noch näher und damit auch seinem Vater.

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Auch Kelly erwachte, als es hell wurde. "Peter?" fragte sie schlaftrunken, aber als sie merkte, dass er nicht da war, war sie plötzlich hellwach. Dunkel erinnerte sie sich, dass ihr Vater ihn in der Nacht gesucht hatte und er offensichtlich nicht vom Klo zurückgekommen war. Sie riss sich das Nachthemd über den Kopf und schlüpfte rasch in Shorts und T-Shirt, dann stürmte sie nach unten. Ihre Mutter saß in Nachthemd und Morgenmantel im Wohnzimmer, obwohl es erst fünf Uhr morgens war. "Mum? Wo ist Peter? Ist was passiert?" fragte sie ängstlich.

"Dein Vater sucht ihn." antwortete Annie so gefasst, wie es ihr möglich war. "Er ist schon seit Stunden weg." Es war nicht ganz klar, ob sie Paul oder Peter meinte, wahrscheinlich beide.

"Warum ist er weg?" wollte Kelly wissen und Annie erzählte ihr, was passiert war.

"Ich glaube, ich weiß, wo er ist!" rief Kelly und stürmte aus dem Haus, ehe ihre Mutter etwas erwidern konnte.

So schnell sie konnte, rannte sie zur Mole und stolperte atemlos über die großen Felsbrocken. Doch so sehr sie auch rief und nach ihm Ausschau hielt, die Mole lag verlassen da und das Klatschen der Wellen klang trostlos.

Verzweifelt drehte sie sich um die eigene Achse und da sah sie ihn. Oben, auf der höchsten Klippe, kaum zu erkennen, ganz am Rand, die Arme ausgebreitet und das Gesicht dem Himmel zugewandt, als ob er springen wollte.

"Peter, nein!" brüllte sie. "Das darfst du nicht tun!"

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Paul hatte stundenlang den Strand abgesucht, dann war er in den Ort gegangen und hatte die Küstenwache alarmiert. Nie wieder würde er ein Ferienhaus ohne Telefonanschluss mieten. Es wurde schon hell, als er wieder an den Strand kam und als er eine kleine Gestalt eilig von der Mole herunter klettern sah, dachte er erst, es sei Peter, doch dann sah er, dass es Kelly war. Was zum Teufel…? Er folgte ihr und stellte entsetzt fest, dass sie zu den großen Klippen lief und entschlossen hinauf kletterte. Er hielt den Atem an, als sie zwischendurch immer wieder abrutschte, aber gleich hatte sie es geschafft. Gerade, als sie beinahe oben war, löste sich ein größerer Stein unter ihrer Sandale und sie rutschte kreischend ein ganzes Stück ab und kam auf einem kleinen Sims zum Stehen. Plötzlich beugte sich jemand von oben herunter und nahm sie bei den Händen, konnte sie aber nicht hinaufziehen. Und lange würde sie sich da oben nicht halten können.

Paul brüllte: "Kelly! Halt dich um Himmels Willen fest!" Er kannte einen Pfad auf der anderen Seite der Klippe, der nicht so steil war, von dem die Kinder offenbar nichts wussten und nun rannte er, als sei der Teufel hinter ihm her. Hoffentlich kam er nicht zu spät!

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Peter hielt Kelly verzweifelt an den Händen. Sie war zu weit unten und er fand zu wenig Halt, um sie herauf zu ziehen. Er konnte sie nur festhalten, damit sie nicht in die Tiefe stürzte, aber was, wenn sie niemand hier fand?

"Peter, halt mich fest!" schluchzte Kelly. Peter versuchte verzweifelt, nicht selbst den Halt zu verlieren; er hatte die Beine um eine Baumwurzel geschlungen, die in der mageren sandigen Erdschicht auf dem Felsen wuchs, doch er spürte, dass sie langsam nachgab. Beide Kinder schrieen auf, als die Wurzel mit einem Ruck ein Stück aus der Erde schnellte. Peter keuchte vor Anstrengung und Kellys Hände drohten aus den seinen zu rutschen, da tauchten plötzlich zwei starke Arme über den seinen auf und griffen nach Kelly. Paul zog sie hoch und sie umhalste ihn schluchzend. "Oh, Daddy, ich hatte solche Angst."

Peter blieb schwer atmend am Boden liegen und wartete auf das unvermeidliche Donnerwetter. Erst der Grill und jetzt Kelly… Nun war es gewiss, Paul würde ihn ins Heim zurück schicken.

"Oh mein Gott." Paul sank keuchend mit Kelly in den Armen auf den Boden. "Geht es dir gut, mein Schatz, bist du okay?" Kelly nickte schniefend. Paul strich ihr mit zitternden Händen über das Haar, dann löste er sich von ihr und wandte sich Peter zu. Dieser wagte nicht, ihn anzusehen.

"Peter?" Er legte ihm eine Hand auf die Schulter, doch der Junge zuckte von der Berührung zurück. "Peter, sieh mich an." verlangte er sanft.

Peter hob langsam den Kopf und setzte sich zögernd auf. Ängstlich sah er Paul an, doch erstaunt stellte er fest, dass dieser gar nicht wütend aussah.

Paul lächelte müde. "Ich bin so froh, dass euch beiden nichts passiert ist. Danke, Peter."

Peter sah ihn irritiert an. "Wofür denn?"

"Wenn du Kelly nicht festgehalten hättest… Ich will mir gar nicht ausmalen, was dann passiert wäre. Danke, mein Sohn."

Mein Sohn. Peter wurde schwindelig. So hatte Paps ihn immer genannt. Und Paul, nach allem was passiert war, nannte er ihn: "Mein Sohn."

"Bin ich das?" fragte er leise. "Bin ich wirklich dein Sohn?"

Paul nickte und streckte ihm die Hände entgegen. "Was denkst du denn? Komm her, Junge."

Peters Unterlippe begann zu zittern und er ließ sich in Pauls Arme fallen. Paul hielt ihn fest und zog auch Kelly wieder an sich. "Meine Kinder." murmelte er in ihre Haare.

Nach einer Weile stand er auf und sagte: "Lasst uns nach Hause gehen. Eure Mutter macht sich sicher schon große Sorgen um euch."

Als sie am Strand auf das Ferienhaus zu wanderten, fragte Peter vorsichtig: "Bist du mir böse wegen dem Grill?"

"Ach, vergiss doch den dämlichen Grill." Paul fuhr ihm durch die Haare. "Den kann ich wieder reparieren. Aber wenn euch beiden etwas zugestoßen wäre…" Er schluckte, dann legte er einen Arm um Peter und zog ihn an sich. "Peter, du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dich nicht mehr liebe, wenn dir so etwas passiert. Versprich mir, dass du dann zu mir kommst und nicht wieder weg läufst, ja?"

Peter sah zu ihm auf und lächelte: "Ja, Dad."

Ende

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