Autor: Turandot
 

Teil 1

"Alles Gute, Detective." Ein Handschlag des Aufsehers, und schon öffneten sich die Gefängnistore für Peter Caine. Dieser trat hinaus in den warmen Spätsommernachmittag und warf einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr: es war kurz nach drei Uhr, er hatte also noch genügend Zeit, im Hotel einzuchecken, sich etwas frisch zu machen und schnell noch ein paar kleine Geschenke zu besorgen.

Was für ein Glück, dass er gestern ausnahmsweise einmal seinen Schreibkram rechtzeitig fertig gehabt hatte!

*** Ein Tag zuvor ***

Auf dem 101. Revier herrschte das übliche Chaos aus Telefongesprächen, erregten Diskussionen am 'Front Desk' und der ganz normalen hektischen Betriebsamkeit. Detective Peter Caine beendete mit einem erleichterten Seufzen seinen letzten, noch ausstehenden Bericht, heftete ihn in die zugehörige Akte und legte diese auf den Stapel mit den anderen, fertig bearbeiteten Akten. "Uff, geschafft! Zeit für eine Pause!"

Er drehte sich zu seiner Partnerin Jody Powell um. "Ich brauche jetzt dringend was zu essen, mein Magen knurrt! Kommst Du mit zu Caps Hotdog-Stand?"

"Sag bloß, du bist wirklich schon fertig!", zog Jody ihn auf. "Kaum zwei Tage Schreibtischarbeit, und unser Shaolin-Cop hat all seinen Papierkram erledigt. Und das sogar schon am Tag vor dem Abgabetermin, es geschehen noch Zeichen und Wunder!"

Ein finsterer Blick traf sie. "Mach dich nur lustig über mich! Ich wette, dass der Captain wieder tausend Einzelheiten zu bemängeln hat und ich noch etliche Änderungen vornehmen muss. Am Besten lege ich alles auf ihren Schreibtisch und verziehe mich Richtung Mittagessen, bevor sie von ihrem Gerichtstermin zurückkommt. Auf diese Weise bin ich erstmal aus der Schusslinie."

"Zu spät, sie kommt gerade. Oh-oh, da ist wohl was schief gelaufen – sie sieht so aus, als wäre sie kurz vorm Zerspringen."

In der Tat stürmte ihre Chefin grußlos an ihnen vorbei, verschwand in ihrem Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Einen Moment lang herrschte betroffene Stille im Raum – für die sonst so beherrschte Karen Simms war dies ein sehr ungewöhnliches Verhalten – bevor sich alle wieder ihren ursprünglichen Tätigkeiten zuwandten.

Peter bemerkte gerade zu Jody: "Ich glaube, ich warte doch noch ein wenig, bis ich ihr die Berichte bringe", als die Bürotür wieder aufging und Captain Simms ihn zu sich zitierte.

Er murmelte: "Na toll – warum immer ich?", schnappte sich den Aktenstapel (*Vielleicht kann ich ja ihren Unmut damit etwas besänftigen*) und wagte sich in die 'Höhle der Löwin'.

Diese stand am Fenster und sah hinaus. Als sie Peter eintreten hörte, drehte sie sich um, wies auf den Sessel vor ihrem Schreibtisch und sagte, schon fast wieder so ruhig und beherrscht wie immer: "Bitte nehmen Sie Platz, Detective Caine. Ich komme gerade aus der Vorverhandlung gegen Anthony Masterson. Sein Anwalt hat den Richter davon überzeugt, dass Sloanville als Verhandlungsort nicht infrage komme und dass die Hauptverhandlung in Chicago stattzufinden habe, mit der windigen Begründung, dass das der Tatort der ersten Straftaten sei, die seinem Mandanten zu Last gelegt würden. Deshalb wird Masterson morgen mit einem Spezialtransport aus dem hiesigen Gefängnis nach Chicago überführt."

Peter glaubte sich verhört zu haben. "Das kann doch wohl nicht wahr sein!" Auf einmal verstand er gut warum seine Chefin so wütend war. Schließlich hatte es sie alle eine ganze Menge Zeit und Mühe gekostet, dem Bandenchef endlich einmal ein Verbrechen nachzuweisen und ihn dingfest zu machen.

"Leider doch. Masterson hat schon einmal bei einer Überführung zu fliehen versucht, deshalb wird er morgen besonders streng bewacht. Außerdem möchte ich, dass Sie den Transport begleiten und dafür sorgen, dass ein etwaiger Ausbruchsversuch keinesfalls erfolgreicher verläuft als der erste."

"Aber was soll ich denn..."

Captain Simms schien zu wissen, was er sagen wollte, und unterbrach ihn streng. "Das ist ein Befehl." Sie verschränkte die Arme vor der Brust und fuhr fort: "Das einzige Zugeständnis, das der Staatsanwalt – übrigens auf mein Anraten hin – dem Richter abringen konnte, war dass ein Detective des 101. Reviers den Transport begleiten darf. Darauf werde ich nicht verzichten. Sehen Sie zu, dass Sie Masterson sicher in Chicago abliefern, und wenn Sie sich persönlich mit Handschellen an den Gefangenen fesseln müssen. Ist das klar?"

Zwar hatte Peter immer noch keine Ahnung, was seine Chefin sich davon versprach, aber der junge Detective bemerkte deutlich, dass der Zeitpunkt für Nachfragen oder Einwände nicht gerade günstig war. Er ergab sich in sein Schicksal und versicherte: "Vollkommen klar, Captain. Ich werde den Gefangenen nach Chicago begleiten und im Gefängnis abliefern", woraufhin Captain Simms zufrieden nickte. "Gut. Ich habe nichts anderes erwartet. Am Besten besprechen Sie die Einzelheiten gleich mit der Gefängnisleitung."

Peter erhob sich und wandte sich zum Gehen. Dann kam ihm ein Gedanke, und er drehte sich spontan wieder zu seiner Vorgesetzten um, war dann aber doch unschlüssig, ob er es wagen sollte, sie noch einmal anzusprechen. Sie hatte sein Zögern jedoch bemerkt und fragte: "Ist noch etwas, Detective?"

"Äh ja, ich dachte...", stotterte Peter, "ich weiß, es ist sehr kurzfristig, und ich habe eigentlich am Samstag Dienst... aber könnte ich vielleicht trotzdem das Wochenende frei bekommen? Dann könnte ich in Chicago Freunde besuchen, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Ich meine, wo ich ohnehin schon dort bin..."

Eine Augenbraue hob sich. "Soll das eine Art Gegenangriff auf meinen Überfall von gerade eben sein?" Doch dabei spielte ein leises Lächeln um Karen Simms' Mundwinkel. "Wie ich sehe, haben Sie einen ganzen Stapel Akten unter dem Arm; ich nehme an, Sie brennen geradezu darauf, mir die angeforderten Berichte vorzulegen, nicht wahr? Nun gut, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn ich bis heute Abend wirklich alle Berichte vorliegen habe, können Sie meinetwegen das Wochenende mit Ihren Freunden in Chicago verbringen."


2. Teil

Pünktlich um halb sieben stieg Peter, mit Geschenken für die Kinder und einem Blumenstrauß beladen, vor dem Haus der Familie Woodall – Busiek – Lennox aus dem Taxi. Er freute sich schon auf den gemeinsamen Abend mit Dan Lennox und seiner Familie; doch hatte er auch ein schlechtes Gewissen, weil er seinen Besuch erst am Abend vorher hatte ankündigen können und seine Freunde damit gewissermaßen überrumpelt hatte. Aber Dans Frau Zoe, mit der er telefoniert hatte, hatte ehrlich erfreut geklungen und ihm glaubhaft versichert, das mache überhaupt nichts, und natürlich müsse er vorbei kommen, am Besten gleich zum Abendessen, damit sie wirklich genug Zeit hätten, sich in Ruhe zu unterhalten.

Peter lächelte leise in sich hinein - diese wortreiche Herzlichkeit war typisch für Zoe! Genauso hatte er sie vor ein paar Monaten erlebt, als er Mary und ihren Sohn Jamie nach Chicago begleitet hatte. Die beiden waren zur Taufe des kleinen George Daniel eingeladen gewesen, und Peter war als Babysitter für Jamie mitgekommen. Dachte er jedenfalls. Aber nur bis zur Ankunft am Flughafen, denn dort waren sie vom nichts ahnenden Dan abgeholt worden, und kaum hatte der einen Blick auf Marys Begleiter geworfen, als ihm die Kinnlade heruntergefallen war. Peter war es genauso gegangen – wer rechnet schon damit, plötzlich seinem Spiegelbild gegenüber zu stehen? Mary hatte sich diebisch über ihre dummen Gesichter gefreut, und Jamie hatte vor lauter Lachen einen Schluckauf bekommen. Als die beiden jungen Männer sich von ihrer Über¬raschung wieder erholt hatten, hatte Dan darauf bestanden, dass Peter unbedingt so bald wie möglich seine Familie kennenlernte. Denn er wollte seine schlagfertige Frau Zoe wenigstens ein einziges Mal sprachlos erleben. Was natürlich gelungen war. Nicht nur Zoe, auch die Kinder und Dans Vater waren vollkommen verblüfft.

Im Laufe der Woche sollten die beiden immer wieder übereinander staunen, denn Peter sah nicht nur fast so aus wie eine etwas jüngere Ausgabe von Dan, sondern war ihm auch von Gestik, Mimik und Charakter her so ähnlich, dass sich die beiden halb scherzhaft, halb ernst gegenseitig adoptierten. Dan war ein paar Jahre älter und ruhiger veranlagt als sein redseliger 'kleiner Bruder'; er strahlte eine gelassene Selbstsicherheit aus, die dem zappeligen Peter völlig fehlte. Dieser beneidete Dan insgeheim ein wenig darum, denn er selbst hatte immer wieder mit Selbstzweifeln und quälenden Gefühlen der Unzulänglichkeit zu kämpfen.

Davon abgesehen, hätte sie gut und gerne Zwillinge sein können; das schienen auch die Taufgäste und die Nachbarn zu meinen, denn während des ganzen Besuchs war Peter immer wieder als "Mr. Lennox" angesprochen worden.

*

Peter wollte gerade auf den Klingelknopf drücken, als er hinter sich ein Hupen hörte. Er drehte sich um und sah, wie Dan auf der anderen Straßenseite einparkte. Er winkte ihm zu, und Dan stieg aus, sperrte den Wagen ab und rannte über die Straße, um Peter zu begrüßen.

"Hallo, Peter! Wie schön dass du da bist! Wie geht's dir?"

"Ich freue mich, dass ihr Zeit für mich habt, noch dazu so kurzfristig. Ich habe euch gestern am Telefon ja regelrecht überfallen", gab Peter etwas verlegen zurück.

Dan lachte: "Ach was, mach dir darüber keine Gedanken, bei vier Kindern sind wir improvisieren gewöhnt. Außerdem gehörst du ja zur Familie, und die ist uns immer willkommen."

Sie betraten das Haus. Peter begrüßte den Rest der Familie und überreichte seine Mitbringsel. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, dass er mit seinen CDs den Musikgeschmack der beiden Teenager Taylor und Cliff getroffen hatte. Ganz sicher war er sich dabei nicht gewesen, schließlich kannte er die beiden noch nicht so gut. Bei Hanna dagegen war es einfach gewesen, ein passendes Geschenk zu finden, denn sie hatte ihm beim letzten Mal so begeistert von der Kinderkrimi-Serie vorgeschwärmt, die sie gerade las, dass er kein Problem gehabt hatte, sich daran zu erinnern.

Da die beiden Großen am Abend noch etwas vorhatten und möglichst schnell aus dem Haus kommen wollten, war schon alles für das Abendessen vorbereitet (Taylor hatte Pasta gekocht, Cliff den Tisch gedeckt und Hanna hatte versprochen, das Abräumen nach dem Essen zu übernehmen), so dass die hungrige Meute sich gleich zu Tisch setzen und das Mahl genießen konnte. Nach der ersten 'gefräßigen Stille' kam eine lebhafte Unterhaltung in Gang, die zum großen Teil von Zoe und den Kids bestritten wurde. Peter fühlte sich an seine Teenagerjahre im Hause Blaisdell erinnert, wenn am Abend die ganze Familie zu Tisch saß und alle von den Erlebnissen des Tages erzählten. Die Frotzeleien zwischen den Geschwistern kamen ihm sehr vertraut vor – wie oft hatte er sich mit seinen Pflegeschwestern ähnliche, mehr oder weniger scherzhafte, Wortduelle geliefert – und er grinste beim Zuhören des öfteren in sich hinein.

*Genau wie damals bei uns! Zoe und Annie sind zwar völlig verschieden, aber die herzliche Atmosphäre ist die gleiche. Wenn die Kinder 'Mom' und 'Dad' sagen würden statt 'Tante Zoe' und 'Onkel Dan' käme niemand auf die Idee, dass die beiden die Kinder von Zoes verstorbener Schwester großziehen und nur der kleine George Daniel ihr leibliches Kind ist.*

Nach dem Essen kehrte Ruhe ein. Die beiden Älteren waren in weltrekordverdächtiger Zeit zu ihren Verabredungen verschwunden, während Zoe sich nach oben ins Schlaf¬zimmer zurückzog, um den kleinen George zu stillen und zu wickeln. Hanna, Dan und Peter teilten sich kameradschaftlich die Küchenarbeit, wobei Hanna und Dan die Gelegenheit nutzten, Peter ausgiebig nach Mary und Jamie auszufragen.

Hanna erkundigte sich vor allem nach Jamie, der mit seiner liebenswerten Art alle um den Finger gewickelt hatte; da kam sie bei Peter genau an den Richtigen, denn er war total vernarrt in sein Patenkind und hätte stundenlang von ihm erzählen können.

"Ich mag Jamie, der ist fast so süß wie George", stellte Hanna fest. "Und ich konnte ganz toll mit ihm spielen." Sie seufzte. "Ich wünschte, George könnte auch bald mit mir spielen, wenigstens ein ganz kleines bisschen. Aber das wird wohl noch lange dauern."

"Du wirst sehen, George ist auch bald soweit, das geht ganz schnell! Als ich Mary und Jamie zum ersten Mal getroffen habe, war Jamie ungefähr so alt wie George jetzt. Ich weiß noch, wie ungeschickt ich mir vorkam, als ich ihn zum ersten Mal gewickelt habe – und jetzt plappert einem der Zwerg schon die Ohren voll und baut beinahe höhere Bauklotztürme als ich", tröstete Peter.

"Wie hast du Jamie denn kennengelernt?", wollte Hanna wissen.

"Das habe ich ihm Grunde meiner Chefin zu verdanken. Weil die mir eine Nachtschicht aufgebrummt hatte, war ich stinksauer und musste mich bei einem Spaziergang im Park hinter dem Polizeirevier abreagieren. Dabei habe ich Mary und Jamie zum ersten Mal getroffen. Wir kamen ins Gespräch, und weil ich den Eindruck hatte, dass Mary etwas beunruhigte, habe ich ihr meine Hilfe angeboten. Ich bin so froh, dass sie den Mut hatte, dieses Angebot auch anzunehmen – übrigens genau während der Nachtschicht, wegen der ich zuerst so wütend auf meine Chefin war. Aber im Nachhinein bin ich ihr sehr dankbar dafür, weil ich sonst Mary und Jamie nie kennengelernt hätte."

"Das wäre sehr schade für den Kleinen", warf Dan ein. "Wenn man euch zwei zusammen sieht, merkt man gleich, wie sehr ihr aneinander hängt. So schlimm es auch für Jamie ist, dass er keinen Vater hat – in dir hat er einen ganz tollen Vaterersatz gefunden."

"Genauso wie wir in Onkel Dan", meinte Hanna und strahlte ihn an. Gerührt zog Dan sie in eine Umarmung und strich ihr übers Haar. "Danke, mein Schatz", flüsterte er.

"Und wie ich in meinen Pflegeeltern. Mein Pflegevater hat noch zwei leibliche Kinder, und deshalb habe ich lange nicht glauben können, dass er mich genauso liebt wie seine eigenen Töchter. Ich habe mich gar nicht wie ein richtiges Familienmitglied gefühlt." Peter lächelte Hanna an und setzte hinzu: "So dumm wie ich damals bist du offensichtlich nicht, und das ist sehr gut so."

Diese erwiderte das Lächeln, doch dann stutzte sie: "Jamie sagt, dein Vater macht immer Tees für andere Leute – wieso hast du dann einen Pflegevater?"

"Hanna, sei nicht so neugierig, das ist Peters Privatsache und geht uns nichts an", wurde sie von ihrer Tante zurechtgewiesen, die gerade die Treppe herunterkam und Hannas Frage mitbekommen hatte.

"Ist schon ok, Zoe. Es macht mir nichts aus, darüber zu sprechen. Weißt du, Hanna, mein Vater ist Shaolinpriester und hat mit mir in einem Shaolintempel gelebt, bis der bei einem Brandanschlag zerstört wurde. Weil mein Vater in den Flammen umgekommen war – das behauptete zumindest einer der Mönche – kam ich ins Waisenhaus. Dort habe ich meinen Pflegevater kennengelernt, als der einen Vortrag über Polizeiarbeit gehalten hat. Er hat mich nicht nur aus dem Waisenhaus geholt, sondern mich auch auf den Gedanken gebracht, Polizist zu werden wie er. Bei den Ermittlungen gegen einen Gangsterboss habe ich dann zufällig meinen Vater wiedergetroffen – 15 Jahre nach der Zerstörung unseres Tempels, könnt ihr euch das vorstellen? Er hatte mich ebenso für tot gehalten wie ich ihn. Natürlich haben wir uns in dieser langen Zeit ziemlich auseinanderentwickelt, aber inzwischen haben wir uns wieder ganz gut zusammengerauft. Und so kommt's dass ich gewissermaßen zwei Väter habe."

In Gedanken setzte Peter hinzu: *Oder besser hatte, denn jetzt ist zwar Paps wieder da, aber Paul ist schon seit über einem Jahr verschwunden und niemand weiß wann er wieder zurückkommt.*

"Was ist ein Shaolin? Warum habt ihr in einem Tempel gelebt – ist das wie eine Kirche?", wollte Hanna wissen. Peter gab bereitwillig Auskunft, die aber wieder neue Fragen hervorrief, und so kam es, dass er den ganzen Abend lang von sich erzählte, während Hanna und Zoe gebannt lauschten und immer neue Fragen stellten. Selbst Dan, der grundsätzlich allem misstraute, was auch nur entfernt nach Mystik klang und bei Erwähnung von übersinnlichen Phänomenen stets einen spöttischen Kommentar auf Lager hatte, hörte aufmerksam zu und kam gar nicht auf die Idee, irgendetwas komisch zu finden, was Peter erzählte.

Gegen elf Uhr, als Hanna immer öfter verstohlen gähnte, unterbrach Zoe energisch eine Frage, die ihre Nichte gerade stellte: "Nein, Hanna, es ist schon spät. Auch wenn Wochenende ist, musst Du jetzt ins Bett."

"Ach bitte, Tante Zoe, nur ein bisschen noch." - "Nein, das 'bisschen' kenne ich schon. Ab ins Bett, junge Dame."

Hanna merkte dass weiteres Betteln keinen Sinn hatte; aber noch gab sie nicht ganz auf und wandte sich an Peter: "Ach bitte, Peter, kannst du morgen wiederkommen und weitererzählen?"

"Nein, nein, ich kann euch nicht noch weiter belästigen, ihr habt sicher schon Pläne für morgen. Außerdem habe ich euch ohnehin schon einen ganzen Abend lang mit Beschlag belegt", wehrte dieser ab.

"Ach bitte, bitte, komm doch! Wir wollen morgen zum See fahren und baden gehen, das wird bestimmt supertoll! – Kann Peter nicht mit uns mitfahren, Tante Zoe?" versuchte es Hanna noch einmal.

"Liebend gerne – wenn es dir nicht zu viel wird, Peter. Wir fahren zum Michigansee, es gibt einige sehr schöne Badestellen ein wenig außerhalb der Stadt. Du bist herzlich eingeladen. Warst du bei deinem ersten Besuch in Chicago am Michigansee?"

Peter verneinte, zierte sich jedoch noch ein wenig, denn er wollte sich seinen Freunden nicht auch noch für den nächsten Tag aufdrängen, nachdem er sich schon für diesen Abend quasi selbst eingeladen hatte. Letzten Endes ließ er sich aber zum Mitkommen überreden.

Hanna führte einen Freudentanz auf. "Hurra, Peter kommt mit!" – "Ja, aber jetzt verabschiede dich und tanze ins Bett, junge Dame", wurde sie von Dan ermahnt.

"Ich geh ja schon... Gute Nacht, Peter, bis morgen. Und dann erzählst du noch mehr, nicht wahr?" Peter willigte ein, worauf Hanna mit der Bemerkung "Cool! Das ist spannender als Fernsehen und Kino zusammen!" in Richtung Bad verschwand.

Die Erwachsenen lachten, doch dann meinte Zoe ernst: "Im Grunde hat sie Recht. Was du schon alles erlebt hast, bietet Stoff genug für mehrere Fernsehserien."

Peter blickte sie entsetzt an: "Um Himmels willen! Ich kann mir das in etwa vorstellen: 'KungFu und Kanonen – die Abenteuer des Shaolin Cop' oder so ähnlich. Nein, nein, ich glaube, wenn jemand die Geschichte der Caines in einem Drehbuch vermarkten wollte, würde das garantiert von jeder Filmgesellschaft als zu unrealistisch abgelehnt. Kein Zuschauer würde sowas sehen wollen."


3. Teil

Am nächsten Morgen wurde Peter von strahlendem Sonnenschein geweckt. Er lag ein paar Minuten still da und dachte an den letzten Abend. Soviel ehrliches Interesse an seiner Person war er gar nicht gewohnt, es war ja fast schon ein wenig peinlich. Aber es tat auch gut.

So, jetzt musste er aber wirklich aufstehen, sonst kam er noch zu spät! Er dehnte und streckte sich noch ein wenig, dann sprang er aus dem Bett und ging ins Bad, wo er beim Duschen falsch, aber fröhlich vor sich hinpfiff. Seine ohnehin gute Laune wurde noch besser, als er im Frühstücksraum das liebevoll angerichtete Buffet sah.

*Zu schade, dass ich heute schon abreisen muss, so ein tolles Frühstück hätte ich auch morgen gern! Na ja, da kann man nichts machen, wenigstens geht mein Flieger erst spät am Abend, da habe ich heute noch den ganzen Tag. Und jetzt werde ich erstmal das Frühstück genießen.*

Er stärkte sich ordentlich, dann ging er zurück aufs Zimmer und packte seine paar Kleinigkeiten in die Reisetasche. Am Empfang bezahlte er die Rechnung und bestellte sich ein Taxi, um sich zu Dan und seiner Familie bringen zu lassen.

Dort wurde er schon erwartet, und die kleine Gesellschaft machte sich auf den Weg zum Michigansee. Hanna hatte Taylor und Cliff schon etliches von dem weitererzählt, was sie am Vorabend erfahren hatte, und die beiden waren genauso gespannt auf die Fortsetzung wie ihre kleine Schwester. Doch Zoe und Dan hatten strenge Anweisung gegeben, ihren Gast zunächst mit weiteren Fragen zu verschonen; also zügelten sie notgedrungen ihre Neugierde, und Peter konnte während der Fahrt die schöne Aussicht ungehindert genießen.

Am See angekommen, suchten sie sich ein schönes Plätzchen und breiteten ihre Picknickdecken aus. Dann stürzten sie sich erst einmal ins Wasser – alle bis auf Zoe, die auf George aufpasste, der gerade friedlich in seiner Babytasche schlummerte. Die Erwachsenen und Taylor würden sich beim Babysitten abwechseln, damit auch Zoe hin und wieder ins Wasser konnte. Vorerst jedoch war sie damit zufrieden, in Ruhe ein wenig zu lesen, solange der Kleine noch schlief.

Nach einiger Zeit fanden sich alle wieder ein, um eine Kleinigkeit zu essen. Das war die Gelegenheit, auf die Hanna schon gewartet hatte; sobald alle gesättigt waren, stürzte sie sich mit ihren Fragen auf Peter, und dieser stand ihr und den anderen bereitwillig Rede und Antwort. Nach einiger Zeit jedoch schaltete sich Dan ein, um Peter zu einer Verschnaufpause zu verhelfen. Er lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf einen fahrbaren Eisstand, der gerade in ihrer Nähe angekommen war und der wohl in Kürze mit dem Verkauf beginnen würde.

"Prima, dann lade ich euch zu einem Eis ein!", rief Peter. "Dann kann ich mich wenigstens ein bisschen dafür revanchieren, dass ihr mich die ganze Zeit über auf dem Hals habt und auch noch durchfüttert."

"Nichts da", widersprach Dan, "du schuftest hier schwer als Auskunftsbüro, da sollst du uns nicht auch noch einladen. Das Eis geht auf mich."

Das aber wollte Peter auf keinen Fall, und so entspann sich eine kleine, nicht ernst gemeinte Kabbelei darüber, wer denn nun bezahlen durfte. Natürlich dauerte es nicht lange, bis ihnen eine typisch männliche Lösung für das Problem einfiel: ein Wettstreit. Ein ganzes Stück vom Ufer entfernt befanden sich mehrere Plattformen aus Holz, auf denen sich die Badenden ausruhen und sonnen konnten. Peter und Dan wollten zu einer dieser Plattformen schwimmen, und wer als erster dort ankäme, dürfte das Eis bezahlen.

Die anderen erklärten sich bereit, solange zu warten, bis die Schwimmer wieder zurück waren. Auf Cliffs Startsignal hin rannten die beiden zum Ufer, liefen ins Wasser und schwammen los so schnell sie konnten, während der Rest der Familie gespannt zusah. Bald war klar, dass das wohl ein Kopf-an-Kopf-Rennen werden würde, denn beide waren etwa gleich schnell unterwegs. "Ich sag's ja, die zwei sind wie Zwillinge", murmelte Zoe lächelnd vor sich hin, "ich wette, da ist keiner von beiden schneller."

Sie hatte Recht. Dan und Peter erreichten etwa gleichzeitig die Plattform, zogen sich daran hoch und setzten sich hin, um ein wenig zu verschnaufen. "Also ich habe keine Ahnung, wer von uns beiden erster war, ich glaube, das war unentschieden", keuchte Peter.

"Eindeutig unentschieden", gab ihm Dan Recht. Dann lachte er leise vor sich hin. "Wenn ich allerdings miteinbeziehe, dass du ein paar Jährchen jünger bist als ich, dann habe ich eigentlich doch gewonnen." -

"Ok, du Mummelgreis, wenn du unbedingt Geld loswerden willst, dann bist du meinetwegen der Sieger und darfst das Eis bezahlen", neckte ihn Peter.

Dan grinste. "Ja, lach du nur! Aber allzu weit weg vom Greisenalter bin ich gar nicht mehr, zumindest in Hannas Augen. Wenn ich ihr mit einem Sieg über dich jungen Hupfer beweisen kann, dass ich noch nicht ganz zum alten Eisen gehöre, dann zahle ich die paar Dollar für eine Runde Eiscreme sehr gerne."

"Wie kommst du denn auf eine solche Idee?", wollte Peter wissen.

"Welche Idee?" - "Dass Hanna dich für alt hält."

Dan stieß einen Seufzer aus. "Das geht aufs Konto ihrer Ex-Freundin Betty. Das gemeine kleine Biest war eifersüchtig, weil sie seit Georges Geburt bei Hanna nicht mehr so im Mittelpunkt stand wie früher, sondern Hanna in ihrer Rolle als große Schwester aufgeht. Und da hat sie angefangen, spitze Bemerkungen darüber fallen zu lassen, wie schlimm es doch sei, wenn Leute in unserem Alter noch Kinder bekommen und den Kleinen zu 'bedauern' weil so alte Eltern fürchterlich uncool sind. Hanna hat vehement widersprochen, und das Ganze endete mit einem heftigen Streit und dem Ende der Freundschaft, aber so ein bisschen was ist wohl doch hängengeblieben. Dummerweise bin ich kurz darauf bei einer Verfolgungsjagd gestürzt und habe mir eine Rippenprellung, eine Knieverletzung und ein paar üble blaue Flecken geholt, so dass ich mich ein paar Tage lang nur extrem vorsichtig und langsam bewegen konnte. Das hat natürlich zusätzlich..."

"Moment mal", unterbrach ihn Peter, "ich glaube, ich habe etwas gehört. Ja... da ruft jemand um Hilfe."

Beide sahen sich um. "Da hinten!", rief Dan und deutete auf den See hinaus: etwa 100-150 m von der Plattform entfernt, sahen sie wild gestikulierende Arme und einen Kopf, der ein-, zweimal kurz unter Wasser ver¬schwand und kurze Zeit später wieder auftauchte. Offensichtlich war dort ein Schwimmer in Schwierigkeiten geraten und brauchte dringend Hilfe. Ein kurzer Blick rundum zeigte ihnen, dass sie wohl bisher die einzigen waren, die das drohende Unheil bemerkt hatten und dass sie außerdem am nächsten dran waren. Ohne zu zögern, stürzten die beiden sich ins Wasser und schwammen so schnell sie konnten auf den Ertrinkenden zu.

Nach kurzer Zeit – die ihnen jedoch wie eine Ewigkeit vorkam – hatten sie die Stelle erreicht, wo der Schwimmer immer noch krampfhaft versuchte, sich über Wasser zu halten. Es war ein Kind, ein etwa 10-12-jähriger Junge, der inzwischen so sehr in Panik geraten war, dass er blindlings um sich schlug, um ja nicht unterzugehen.

Dan erreichte das Kind ganz knapp vor Peter und bekam es zu fassen, bevor es wieder – womöglich endgültig – unter die Wasseroberfläche sank. Er wollte den Jungen stützen, doch dieser bekam das in seiner Panik gar nicht mehr mit, sondern griff blindlings zu und hielt sich mit aller Kraft an allem fest, was seine Finger zu fassen bekamen. Er krallte sich buchstäblich an Dan fest und hing an ihm wie ein Klotz, so dass Dan sich in dieser Umklammerung selbst kaum mehr bewegen konnte und zusammen mit dem Jungen unterzugehen drohte. Inzwischen hatte Peter die beiden erreicht und versuchte, Dan aus der verhängnisvollen Umklammerung zu befreien; er merkte aber schnell, dass er keinen Erfolg haben würde – der Junge entwickelte in seiner Todesangst wahre Bärenkräfte. Da musste eine radikale Lösung her, und zwar rasch. Er überlegte fieberhaft, aber auf die Schnelle fiel ihm nur der Griff ein, mit dem sein Vater und Lo Si schon so manchen aufgebrachten Zeitgenossen schlafen geschickt hatten. Diesen Griff hatte er selber nie angewandt, aber als Beinahe-Shaolin musste er den doch auch hinbekommen! (*Hoffentlich!*) Er zwang sich zur Ruhe, konzentrierte sich und griff dem panischen Jungen von hinten mit zwei Fingern an den Hals; ein kurzer Druck, und er sank bewusstlos in Peters Arme. Dieser stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, hielt das ohnmächtige Kind über Wasser und begann, es zur rettenden Plattform zu ziehen.

Um Dan konnte er sich nicht kümmern, doch sagte ihm sein Gefühl, dass das gar nicht nötig war, dass sein Freund alleine zurechtkam. Und wirklich hörte er ihn neben sich keuchen und husten, dann ein paarmal tief Luft holen. Gleich darauf hatte Dan sich wieder gefangen, schwamm Peter hinterher und half ihm, seine Last in Sicherheit zu bringen. Gemeinsam schafften sie es recht schnell, den ohnmächtigen Jungen aus dem Wasser und auf die Plattform zu hieven, wo sie sofort mit Wiederbelebungsversuchen begannen. Wie es schien, hatte das Kind relativ wenig Wasser geschluckt, das es prompt wieder von sich gab. Puls und Atmung waren auch bald stabil.

"Der kommt bestimmt bald wieder zu sich", stellte Peter erleichtert fest. "Dieser Griff wirkt nicht sehr lange."

Dan blickte ihm ernst in die Augen und hielt ihm die Hand hin. "Danke, Peter. Du hast nicht nur den Jungen, sondern auch mich gerettet. Ich weiß nicht, was ich da draußen ohne dich getan hätte, ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen."

Verlegen ergriff Peter die ausgestreckte Hand, dann zog er Dan in eine herzliche Umarmung. "Seien wir einfach froh, dass es geklappt hat, ich habe diesen Griff nämlich gerade zum ersten Mal ausprobiert."
Ein leises Stöhnen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen, der langsam wieder zu sich kam. Er schlug die Augen auf und blickte verwirrt um sich.

"Hallo, junger Mann, wie fühlst du dich?", fragte Dan sanft.

"Mies. Mir ist schrecklich schlecht", murmelte der Bub, dann nahm sein Gesicht plötzlich einen erschreckten Ausdruck an. "Mein Bein...ich hatte einen Wadenkrampf und konnte nicht mehr ans Ufer schwimmen... ich habe um Hilfe gerufen... und dann weiß ich gar nichts mehr. Haben Sie mich gerettet?"

"Nein, das war mein Freund Peter."

Der Junge blickte zu Peter auf. "Danke, Sir. Ich weiß gar nicht, was ich sagen..."

Doch Peter wiegelte ab. "Nichts zu danken, mein Junge. Ruh dich einfach ein bisschen aus, dann bringen wir dich zurück an Land. Wie heißt du denn? Bist du mit deinen Eltern hier?"

"Mit meinem Vater, Brian O'Donoghue. Ich heiße Patrick, aber alle nennen mit Pat."

Er versuchte sich aufzusetzen, aber Peter drückte ihn sofort wieder zurück. "Lass es langsam angehen, Pat. Ruh dich einfach aus." Pat widersprach: "Nein, nein, ich muss gleich zurück, mein Vater weiß nicht dass ich schon ins Wasser gegangen bin! Oh Mann, wird der sauer sein – er wollte nur kurz was aus dem Auto holen, und ich... ich..." Er stockte und blickte verlegen auf die Holzplanken.

"...Und weil das Wasser so verlockend war, und weil du nicht mehr warten wolltest, hast du nicht an die Gefahr gedacht, sondern bist einfach ins Wasser gegangen. Du hast gedacht, einem guten Schwimmer wie dir passiert bestimmt nichts, hab ich Recht?", fuhr Dan an seiner Stelle fort.

Pat nickte beschämt. "Ja. Aber das mache ich bestimmt nie wieder, fest versprochen! Das soll mir eine Lehre sein!"

"Wenn du ohne Erlaubnis ins Wasser gegangen bist, wird sich dein Vater wahrscheinlich schon Sorgen um dich machen. Am Besten schwimmt einer von uns schnell zurück und gibt deinem Dad Bescheid, dass dir nichts passiert ist", warf Peter ein. "Kannst du uns ungefähr zeigen, von welcher Stelle aus du los-geschwommen bist? Und kannst du deinen Vater beschreiben?"

Pat richtete sich auf, sah sich kurz um und deutete dann auf eine Stelle, nicht weit von ihrem eigenen Liegeplatz. "Hier ungefähr müsste unsere Decke sein. Meinen Vater erkennen Sie bestimmt leicht, er ist ziemlich groß, er hat schulterlanges rotbraunes Haar, keinen Bart, trägt eine randlose Brille, und er hat eine ziemlich seltene Tätowierung an seinen Armen – einen Drachen auf dem linken Unterarm, auf dem rechten einen Tiger."

"Dein Vater ist Shaolinpriester?", fragte Peter erstaunt.

"Jetzt nicht mehr, aber früher mal, lang bevor ich geboren wurde. Er hat da als Mönch in so'nem Tempel gelebt; aber der ist abgebrannt, und er musste weg von dort. Na ja, und kurz darauf hat er meine Mom kennengelernt. – Woher wissen Sie, was die Brandmale bedeuten?", wollte Pat wissen.

"Weil mein Vater auch ein Shaolinpriester ist", antwortete Peter scheinbar leichthin, während es in Wirklich¬keit in ihm brodelte. Konnte es sein, dass Pat von dem Tempel sprach, in dem Peter aufgewachsen war? Kannte er womöglich sogar Pats Vater? Oder gab es noch einen weiteren Tempel, der vor mindestens 10-12 Jahren abgebrannt war?

Pats Stimme brach in seine Überlegungen: "So richtig mit Tätowierungen und so?'" - "Ja, genauso."

Pat blickte bewundernd zu Peter auf. "Cool! Außer meinem Dad kenne ich niemand, der mit den Shaolin was zu tun hat. Sind Sie auch – nein, Sie haben keine Tätowierungen, Sie sind kein Shaolin, nicht wahr?"

Peter schüttelte den Kopf. "Nein, bin ich nicht. Ich habe zwar meine Shaolinausbildung abgeschlossen, aber ich bin Polizist." Vorsichtig brachte er das Gespräch wieder auf das Thema, das ihn brennend interessierte. "Sag mal, weißt du zufällig, wo der Tempel war, in dem dein Vater gelebt hat?" Unwillkürlich hielt er den Atem an, obwohl er die Antwort schon zu kennen glaubte.

"Nein, nicht genau. Irgendwo in Kalifornien, aber ich weiß nicht wo."

Kalifornien! Das musste einfach "sein" Tempel sein! Eine ungeheure Erregung machte sich in Peter breit – nach all den Jahren traf er jemand aus seiner Kindheit wieder, aus der Zeit vor dem Brandanschlag, der beinahe sein Leben zerstört hätte.

"Warum wollen Sie das denn wissen? Kennen Sie vielleicht jemanden, der auch in diesem Tempel war? Wo Ihr Vater doch auch 'n Shaolin ist und so." Pat sah Peter aufgeregt an, aber dieser bemerkte das überhaupt nicht. Sein Blick war abwesend in weite Ferne gerichtet, in Gedanken war er wieder in seiner Vergangenheit. Da spürte er plötzlich eine Hand auf seinem Arm. Mit einem Ruck kam er wieder in die Gegenwart zurück und bemerkte, dass Pat ihn besorgt musterte. "Ist alles in Ordnung, Sir?"

Peter nickte ernst. "Ja. Ich glaube... nein, ich bin fast sicher, dass ich deinen Vater kenne. Ich bin nämlich selber in einem Shaolintempel in Kalifornien aufgewachsen, bis der durch einen Brandanschlag zerstört wurde. Damals war ich 12 Jahre, also etwa so alt wie du heute. Wir Kinder hatten einen blutjungen Kung Fu-Lehrer, dessen Familie aus Irland eingewandert war. Ich glaube, das war dein Vater." Plötzlich musste Peter grinsen. "Mann, der hat uns ganz schön rangenommen! Aber er hat ganz besonders intensiv mit denen trainiert, die sich schwer taten, und hat sie besonders unterstützt. Da gehörte ich oft genug dazu."

"Ja, das klingt ganz nach meinem Dad!"

"Die anderen Lehrer hatten oft unheimlich hohe Erwartungen an mich, weil mein Vater den Tempel leitete. Auch ich meinte, als Sohn des Kwai Chang Caine müsste ich immer viel härter trainieren und alles viel besser können als die anderen Kinder, das sei ich meinem Vater schuldig. Und weil fast immer ein paar andere Kinder die Übungen besser beherrschten als ich, kam ich mir oft unwürdig vor. Ich hatte ständig das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Meister Brian bemerkte, dass ich mir damit selber das Leben schwer machte, und deshalb hat er sich ganz besonders viel Zeit für mich und meine Ängste genommen und mir damit unheimlich geholfen. – Aber jetzt sollte ich nicht von längst vergangenen Zeiten erzählen, sondern lieber deinen Vater informieren, dass es dir gut geht. Bleib einfach noch eine Weile liegen, Dan wird hier bei dir bleiben, bis dein Vater kommt, nicht wahr, Dan?"

Doch als Peter sich zu seinem Freund umdrehte, musste er feststellen, dass dieser sich schon längst auf den Weg zu Pats Vater gemacht hatte und sogar schon fast am Ufer angekommen war. Er hatte aus Peters Reaktionen (und seinen Erzählungen vom Vorabend) eins und eins zusammengezählt und fand es angebracht, sich diskret zurückzuziehen und ihn seinem Gespräch mit Pat zu überlassen.

Die beiden auf der Plattform Zurückgebliebenen sahen, wie Dan aus dem Wasser stieg und sich suchend umblickte. Dann ging er auf einen groß gewachsenen Mann zu und sprach kurz mit ihm, wobei er mehrmals auf die Plattform deutete. Mit Peters Hilfe erhob sich Pat und winkte seinem Vater zu, der zurückwinkte, ins Wasser lief und zügig auf sie zuschwamm.


4. Teil

Als Brian O'Donoghue nur noch ein kurzes Stück von der Plattform entfernt war, verabschiedete Peter sich. Er nahm an, dass Pats Gedankenlosigkeit ein ernstes Vater-Sohn-Gespräch zur Folge haben würde, das nicht für die Ohren Dritter bestimmt war. Pats Gedanken gingen in die gleiche Richtung, und er bat beklommen: "Bitte schwimmen Sie jetzt nicht weg, bleiben Sie bei mir. Dad wird Ihnen bestimmt auch danken wollen, dass Sie mich gerettet haben. Und möchten Sie nicht herausfinden, ob Sie meinen Vater wirklich kennen oder nicht?"

"Das möchte ich sehr, sehr gerne. Aber wir sind noch eine Zeitlang hier am See, und unser Picknickplatz ist ganz in eurer Nähe. Schau, dort drüben ist Dan mit seiner Familie. Ich würde mich unheimlich freuen, wenn ihr nachher zu uns herüberkämt und ich deinen Vater begrüßen könnte. Doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür."

Pat ließ den Kopf hängen. "Vielleicht haben Sie ja Recht. Aber ich..." Er stockte.

Peter ahnte, was Pat sagen wollte und fuhr an seiner Stelle fort: "Aber du hast Angst, dass dein Vater dich ausschimpft, nicht wahr? Das tut er vielleicht auch – aber es ist leichter, wenn du's gleich hinter dich bringst. Dann ist es nämlich ausgestanden. Wenn ich hier bleibe und dein Dad meinetwegen jetzt nichts sagt, dann hast du es noch länger vor dir, und das ist viel schlimmer, weil du die Angst davor die ganze Zeit mit dir herumträgst. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche! Mein Pflegevater konnte ganz schön unangenehm werden, wenn ich etwas angestellt hatte. Aber auch das ging vorbei, und dann war ich froh, wenn ich's hinter mir hatte."

Obwohl Pat immer noch recht mulmig zumute war, fühlte er sich durch Peters Verständnis doch ein wenig getröstet. Der klopfte ihm auf¬mun¬ternd auf die Schulter und sagte: "Kopf hoch, du schaffst das."

Er ging zum Rand der Plattform, sprang ins Wasser und schwamm zurück zum Ufer. Dort standen Taylor, Cliff und Hanna ganz vorne in der Schlange, die sich inzwischen vor dem Eiswagen gebildet hatte, während Zoe und Dan dicht nebeneinander auf der Decke saßen und leise miteinander sprachen. Als Zoe Peter bemerkte, sprang sie auf, lief auf ihn zu und umarmte ihn.

"Dan hat mir erzählt, was du für ihn und den Jungen getan hast", sagte sie mit Tränen in den Augen. "Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können wenn du nicht zur Stelle gewesen wärst. Wenn Dan zusammen mit dem Kind..."

"Beruhige dich, Zoe, es ist ja nichts passiert, wir sind alle mit dem Schrecken davongekommen. Pat durchlebt wahrscheinlich gerade eine unangenehme Viertelstunde, das ist alles. Bitte mach dich jetzt nicht nachträglich verrückt", unterbrach Peter sie.

Er versuchte, das Thema zu wechseln. "Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, dass ich ihn gebeten habe, später noch vorbeizukommen? Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass Pats Vater ein KungFu-Lehrer aus unserem Tempel ist, und ich würde wahnsinnig gerne wissen, wie es ihm in der ganzen Zeit ergangen ist."

Zoes Blick sagte ihm, dass sie seine Absicht sehr wohl durchschaut hatte; aber sie tat ihm den Gefallen und ging darauf ein, weil gerade die Kinder zurückkamen, jede(r) mit zwei großen Waffeln mit Vanille- und Schokoladeneis in der Hand, eine für sich selbst und eine für die Erwachsenen. Während alle mit Genuss ihr Eis schleckten, überlegten sie, ob sie danach noch einmal ins Wasser gehen oder doch lieber am Ufer etwas unternehmen wollten.

Da Peter nicht wusste, wann Pat mit seinem Vater vorbeikommen würde, wollte er lieber in der Nähe bleiben und bot an, auf den kleinen George aufzupassen, damit der Rest der Gesellschaft sich anderweitig ver¬gnü¬gen konnte. Das Baby war ohnehin vorher eine ganze Weile lang wach gewesen und war gerade wieder am Einschlafen; es würde also seine Familie nicht vermissen, und für alles andere war vorgesorgt – mit Hilfe von Brei, Windeln, Stofftieren und mittlerweile reichlich Erfahrung als Babysitter würde Peter sicher gut zurechtkommen.

*Ein bisschen Alleinsein wird mir gut tun, nach all der Aufregung. Vielleicht kann ich ein wenig meditieren*, dachte Peter. Als die anderen aufgebrochen waren, sank er neben George in den Lotussitz und ließ seine Gedanken schweifen.

*

"Mr. Caine?" Pats Stimme holte ihn aus seiner Meditation zurück. Er sprang auf. "Pat! Schön dass du da bist!" Dann blickte er dem hochgewachsenen Mann neben Pat, der ihn forschend betrachtete, in die Augen, und plötzlich war er sich vollkommen sicher. Lächelnd verneigte er sich zum Shaolingruß.

"Meister Brian."

"Peter Caine! Ja, Sie sind es wirklich! Wie freue ich mich, Sie lebend und gesund wiederzusehen! Als Pat mir erzählt hat, dass sein Retter der Sohn eines Shaolinpriesters ist, und mir Ihren Namen genannt hat, konnte ich es kaum glauben! Wir dachten alle, Sie seien bei der Zerstörung des Tempels umgekommen. Es hat Ihrem Vater fast das Herz gebrochen, am Grab seines Sohnes zu stehen und selber weiterleben zu müssen."

Peter nickte. "Ja, das weiß ich inzwischen auch. Wir haben uns durch einen reinen Zufall vor gut drei Jahren wiedergetroffen. – Wie ist es Ihnen ergangen? Pat sagte, Sie sind Sozialarbeiter?"

Bevor Peter erfuhr, was sein ehemaliger Lehrer in den letzten 18 Jahren erlebt hatte, musste er erst einmal dessen Dankesbezeugungen für seine Rettungstat abwehren. Aber schließlich berichtete Brian O'Donoghue, wie er auf dem Weg in ein anderes Shaolinkloster in einer kleinen Stadt quasi hängengeblieben war. Denn er hatte eine junge Lehrerin kennen und lieben gelernt. Also blieb er, heiratete und wurde Sozialarbeiter, um auf diese Weise möglichst vielen Leuten helfen zu können. Wenn schon nicht als Shaolin, dann eben mit einer Tätigkeit im sozialen Bereich. Einige Jahre nach Patricks Geburt waren sie dann nach Chicago umgezogen, weil seiner Frau eine Position als Schulleiterin angeboten worden war. Und seitdem lebten sie hier.

Natürlich musste auch Peter erzählen, wie es ihm ergangen war. Die Jahre im Waisenhaus streifte er nur kurz (die Erinnerung daran schmerzte immer noch, selbst nach all den Jahren), berichtete dafür ausführlicher von seiner Pflegefamilie und seiner Arbeit als Polizist. Und natürlich vom Wiedersehen mit seinem Vater während der Undercover-Ermittlungen gegen den Gangsterboss Tan, der seinerzeit für die Zerstörung des Tempels verantwortlich gewesen war.

Pat hörte fasziniert zu, seine Augen wurden immer größer, und als Peter endete, stieß er einen bewundernden Pfiff aus. "Cool! Da machen Sie ja im Grunde das Gleiche wie Dad! Er wurde Sozialarbeiter, um auf diese Weise anderen zu helfen, Sie sind aus dem selben Grund Polizist geworden." Er runzelte die Stirn. "Aber eines verstehe ich nicht: auf der Plattform haben Sie gesagt, Sie hätten ihre Shaolinausbildung abgeschlossen. Warum haben Sie dann nicht die Brandmale angenommen und sind ein richtiger Shaolin geworden?"

Peter gab zu: "Ich habe eine Zeitlang ernsthaft überlegt, ob ich nicht aus dem Polizeidienst ausscheiden sollte. Denn es gibt immer wieder Situationen, in denen ich als Polizist nicht helfen kann, weil mir die Hände durch irgendwelche bescheuerten Vorschriften gebunden sind. Deshalb habe ich meine Shaolinausbildung beendet. Aber genau in dem Moment, da ich die Brandmale empfangen sollte, wurde mir klar, dass das wie eine Flucht gewesen wäre und dass ich doch lieber Polizist in Sloanville bleiben will. Trotz aller Ungerechtigkeiten, die ich nicht verhindern kann. Die werden mich zwar weiterhin zur Weißglut bringen, aber ich liebe meinen Beruf einfach zu sehr als dass ich ihn aufgeben möchte. Außerdem könnte ich mir ein Leben als Apotheker, so wie mein Vater und der Ehrwürdige es führen, einfach nicht vorstellen." Er grinste und fügte hinzu: "Das ist sicher auch besser für die Leute in Chinatown – ich war in Heilkunde nie besonders gut, ich hätte wahrscheinlich permanent Angst, jemanden zu vergiften."

Sein ehemaliger Lehrer nickte verständnisvoll: "Ich denke, ich verstehe, was Sie meinen. Mir ist die Entscheidung für ein Leben mit Cassie damals nicht leichtgefallen. Aber als ich sie einmal gefällt hatte, habe ich nie mehr ernsthaft daran gedacht, wieder in einen Tempel zurückzukehren. Nein, das liegt hinter mir; ich kann unsere Lehren auch hier in Chicago umsetzen, ich brauche keinen Tempel dafür. Allerdings fände ich ab und an ein bisschen Austausch mit anderen Shaolin sehr schön."

"Besuchen Sie uns doch in Sloanville. Mein Vater und Meister Khan werden sich sicher sehr freuen, Sie wiederzusehen. Und der Ehrwürdige Lo Si ist stets eine Inspiration für seine Umwelt – das heißt, wenn man mit seiner kryptischen Ausdrucksweise klarkommt. Und ich würde mich auch sehr freuen, wenn wir in Kontakt bleiben würden. Es sind doch noch Ferien – kommen Sie doch einfach mit Ihrer Familie zu Besuch! Ich könnte Pat mein Polizeirevier und Chinatown zeigen. Würde dich das interessieren, Pat?"

"Aber klar! Das wäre einsame Spitze! Bitte, Dad, lass uns Mr. Caine besuchen!"

"Nun ja, ich muss mich natürlich vorher mit meiner Frau abstimmen, aber ich denke, es sollte sich einrichten lassen. Wenigstens für ein verlängertes Wochenende. - Einverstanden, wir kommen nach Sloanville. Ich freue mich sehr darauf, Ihren Vater und Meister Khan wiederzusehen."


Epilog

"Meine Damen und Herren, willkommen in Sloanville. Bitte bleiben Sie noch so lange angeschnallt sitzen, bis wir unsere endgültige Position erreicht haben. Wir bedanken uns, dass Sie mit Fantasy Airlines geflogen sind und hoffen Sie bald wieder bei uns an Bord begrüßen zu dürfen."

Die geschäftsmäßig-freundliche Stimme der Flugbegleiterin weckte Peter aus dem Halbschlaf. Er schreckte hoch, blickte etwas verwirrt um sich und realisierte dann, dass sie gerade in Sloanville gelandet waren. Es musste also ungefähr Mitternacht sein.

Peter wartete, bis die Passagiere vor ihm ihre Siebensachen zusammengesammelt hatten, dann stand er auf und angelte gähnend seine kleine Reisetasche aus dem Gepäckfach. Er war einfach erleichtert, wieder zu Hause zu sein, und wollte jetzt nur noch in sein Bett.

*Was für ein Wochenende! Ist es wirklich erst drei Tage her, dass ich mich bei Jody und Mary-Margaret über den Innendienst und die lästige Berichteschreiberei beklagt und ihnen vorgejammert habe, ich würde am Schreibtisch das richtige Leben verpassen? Da habe ich mir doch allen Ernstes mehr Action gewünscht – jetzt habe ich mehr als genug davon bekommen. Manchmal sollte man wirklich aufpassen, was man sich wünscht, denn es könnte in Erfüllung gehen.*

Ende


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