Autor: Turandot
 

Peter öffnete vorsichtig die Augen. Ja! Es hatte funktioniert! Erleichterung und Dankbarkeit durchströmten ihn. Nun musste er nur noch den Mann finden, den er treffen wollte, für den er diese Reise unternommen hatte.

Der junge Shaolin sah sich um. Er stand mitten im Grünen; etwa zwanzig Meter vor ihm war ein kleines Häuschen, aus dem gerade ein etwa sechsjähriger Junge trat. (*Matthew?*) Er lief auf einen Baum vor dem Haus zu, vermutlich um hinaufzuklettern, als er plötzlich stehenblieb und Peter misstrauisch musterte.

Peter riss sich zusammen, er durfte den Jungen nicht weiter anstarren, durfte sich nicht anmerken lassen, wie ihm zumute war. Er nickte ihm grüßend zu. "Hallo. Du bist Matthew, nicht wahr? Ich möchte gerne mit deinem Vater sprechen. Wie geht es ihm? Verheilt seine Wunde gut?"

Diese Anrede vergrößerte Matthews Misstrauen nur noch, Peter konnte es ganz deutlich spüren. Argwöhnisch fragte der Junge: "Wer sind Sie denn? Und was wollen Sie denn von meinem Vater?"

Peter lächelte ihn an und versuchte, so beruhigend wie möglich zu wirken. "Ich heiße Peter, und ich hoffe dein Vater hat ein bisschen Zeit für mich. Er hat vor kurzem ein Tagebuch von mir erhalten, und ich würde mich gerne mit ihm darüber unterhalten. Ich wäre sehr geehrt, wenn er mich empfangen würde. Frag ihn doch bitte, ob das möglich ist. Ich werde solange hier draußen warten."

Während der Junge wieder ins Haus ging, lehnte sich Peter an den Zaun der Koppel, um nachzudenken. Was wollte er Matthews Vater überhaupt sagen? Zuerst wollte er sich dafür entschuldigen, dass er ihn vor fast drei Jahren bei ihrer ersten Begegnung, auf dem 101. Polizeirevier, nicht erkannt hatte. Und natürlich wollte er ihm sagen, dass er inzwischen kein Polizist mehr war, sondern Shaolinpriester. Dass die 1.500 Jahre alte Linie des Kwai Chang, die auch die seine war, demnächst um eine weitere Generation erweitert würde.

Aber vor allem hatte er diese Reise unternommen, um ihm mitzuteilen, dass die Schande, die seit vier Gene¬rationen über der Familie Caine lag, inzwischen getilgt worden war.

***

Kurz zuvor, in Sloanville:

*So, fertig! Das war die letzte Übung.* Zufrieden legte Peter Caine seinen Füllfederhalter zur Seite, las sich noch einmal durch, was er geschrieben hatte, und legte dann das Blatt Papier zu den anderen, die er bereits mit feinen chinesischen Schriftzeichen bedeckt hatte. Er lächelte, als er daran dachte, wie schwer er sich anfangs mit dem Schreiben getan hatte.

Als der Ehrwürdige Lo Si kurz nach Kwai Chang Caines Abreise nach Frankreich angefangen hatte, den frischgebackenen Shaolin in Kräuterkunde, fernöstlicher Medizin und chinesischer Schrift zu unterrichten, war Peter mehr als einmal kurz davor gewesen, das Handtuch zu werfen. Er hätte nicht sagen können, was ihm schwerer fiel – die verschiedenen Kräuter auseinanderzuhalten oder sich die vielen Schriftzeichen zu merken, die für ihn alle gleich aussahen.

Inzwischen waren fast acht Monate vergangen, und Peter konnte über seine Anfangsschwierigkeiten heute lächeln. Er war Lo Si sehr dankbar dafür, dass er ihm immer wieder Mut gemacht und ihn dazu ermuntert hatte durchzuhalten. Auch wenn er inzwischen die Apotheke ohne großes Bedauern wieder an seinen Vater abgetreten hatte und sich lieber beim Aufbau des neuen Jugendzentrums in Chinatown engagierte – die Beschäftigung mit der chinesischen Schrift hatte ihm nach und nach immer besser gefallen, so dass er sich auch jetzt noch täglich mindestens eine Viertelstunde Zeit für Lese- und Schreibübungen nahm.

Heute hatte er sich sogar eine ganze Stunde 'genehmigt', denn Kendra war mit ihrer Freundin Sally aus Palm Beach unterwegs, die für ein verlängertes Wochenende zu Besuch gekommen war. Die beiden hatten sich jetzt ein paar Monate lang nicht gesehen und viel zu besprechen, bei dem ein Mann ohnehin nur stören würde. Also hatte Peter sich mit seinem Schreibzeug und dem Tagebuch seines Urgroßvaters in den Medi¬tationsraum zurückgezogen und den Damen den Rest der Wohnung und seinen heißgeliebten Stealth überlassen.

Peter nahm Kwai Chang Caines Tagebuch zur Hand. Dessen Handschrift zu entziffern stellte immer noch eine gewisse Herausforderung dar, aber es lohnte sich. Sehr sogar. Es war faszinierend, mehr über die Wanderungen seines Urgroßvaters zu erfahren. Inzwischen war Peter im Jahr 1905 angekommen, bei Kwai Chang Caines Ankunft in Canyon Springs, einem kleinen Provinznest in Wyoming. Natürlich war er auch dort wieder unverschuldet in Probleme geraten, sogar bereits vor dem Erreichen des Ortes, als er einer jungen Ärztin, Madeline Palmer, gegen zwei Ganoven beigestanden war.

Zu Peters Überraschung jedoch war sein Urgroßvater in diesen Ort nicht zufällig gekommen, denn seine Familie lebte dort. Seine Frau Lilly verdiente den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn Matthew als Sängerin in einem Saloon, und niemand durfte wissen, dass sie mit einem wegen Mordes gesuchten Flüchtling verheiratet war.

Aus Kwai Changs Worten über seine Familie sprach soviel Glück, soviel Freude, endlich am Ziel angekommen zu sein, dass Peter einen Kloß in den Hals bekam und gerührt schlucken musste. Er konnte das sehr gut nach¬voll¬ziehen, denn das Jahr ohne Kendra war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen, und so ganz konnte er sein Glück immer noch nicht fassen. Obwohl Kendra nun schon seit Monaten mit ihm zusammenlebte, obwohl sie nun bald zu dritt sein würden, hatte er manchmal immer noch das Gefühl, er träume und werde beim Aufwachen enttäuscht feststellen müssen, dass er doch wieder allein sei.

*Peter Matthew Caine, du verlierst dich schon wieder in Träumereien! Wolltest du nicht im Tagebuch deines Urgroßvaters lesen anstatt schon wieder deinen Verlustängsten nachzuspüren?*, rief er sich zur Ordnung und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem kleinen Büchlein. Doch bald keuchte er entsetzt auf. Banditen entführten seine Urgroßmutter und seinen Großvater, während Kwai Chang Caine angeschossen und schwer verletzt wurde!

Die nächste Eintragung raubte ihm schlicht den Atem: "Mein Tagebuch! Ich musste einen meiner Nachkommen finden, der mein Tagebuch hat. Meinen Enkel. Wenn er nicht meinen Platz einnehmen und ihnen helfen konnte, würden Lilly und Matthew sterben!"

Sein Tagebuch? Eine gefährliche Schussverletzung?

Vor Peters innerem Auge stieg ungefragt ein Bild auf, er sah sich selbst und seinen 'Vater' (?) auf dem Polizeirevier, als Kwai Chang Caine ihn nach dem Tagebuch seines Urgroßvaters gefragt hatte und danach fast zusammengebrochen wäre. Peter hatte um Hilfe gerufen, doch Caine (sein Vater? Sein Urgroßvater?) hatte nur erwidert: "Bitte bringt mich nach Hause."

Peter riss sich von diesem Bild los und las hastig weiter. Die nächsten vier, fünf Schriftzeichen waren etwas verschmiert, er konnte sie trotz aller Bemühungen nicht entziffern. Doch dann hatte er Glück, und die Schrift wurde wieder lesbar. "...er ist kein Shaolin, er konnte die Zeitreise nicht unternehmen. Aber mein Enkel, mit dem er mich zu verwechseln schien. Er war überaus besorgt, ich konnte die Angst in seinen Augen erkennen und die tiefe Liebe, die er für ihn empfindet. Das machte mich - selbst unter diesen widrigen Umständen - sehr glücklich."

*** Flashback ***

Peter half dem stöhnenden alten Mann, sich auf dem Schlafplatz auszustrecken. Dann öffnete er die Jacke und starrte entsetzt auf den riesigen Blutfleck, der sich bereits gebildet hatte. Als Polizist wusste er natürlich, was ihn verursacht hatte. Da musste sofort professionelle Hilfe her!

"Das ist eine Schusswunde, die kann man nicht so einfach mit ein paar Kräutern, die der Ehrwürdige im Glas hat, heilen. Ich werd dich ins Krankenhaus bringen. Jetzt gleich, Paps."

Mit diesen Worten drehte er sich um und wollte zur Telefonzelle eilen, doch Caine ergriff ihn am Handgelenk und hielt ihn fest. Er blickte ihn fast zärtlich an und lächelte; dann fing er mühsam an zu sprechen: "Du liebst deinen Vater, das bedeutet einen großen Trost für mich."

"Wovon redest du überhaupt?" Peter starrte ihn entgeistert an. Seine Haut war von einem feinen Schwei߬film überzogen – war das bereits Wundfieber? Ja, das musste es sein! Umso mehr Grund, jetzt keine Zeit zu vertrödeln und möglichst schnell einen Krankenwagen zu holen.

Caine lächelte immer noch. "Irgendwie erinnerst du... mich... an mich selbst, als ich... so jung war wie du heute."

Dem jungen Cop wurde die Situation langsam unheimlich. "Was du nur redest! Ich telefonier von der Zelle aus." Zu Lo Si gewandt, der hinter ihm stand, fuhr er fort: "Lass ihn ja nicht weggehen."

Dann stürzte er buchstäblich zur Türe hinaus, auf der Suche nach der nächsten Telefonzelle.

*** Ende Flashback ***


Wenn das gar nicht sein Vater, sondern sein Urgroßvater gewesen war, wurde vieles plötzlich verständlich. Was war er nur für ein Trottel gewesen, dass er das nicht bemerkt hatte! Er hatte das seltsame Verhalten seines 'Vaters' auf die schlechte körperliche Verfassung geschoben, in der er gewesen war. Und dabei hatte er in Wirklichkeit mit seinem Urgroßvater gesprochen! Wenn er das nur gewusst hätte!

Er würde sich so gerne noch einmal mit ihm unterhalten, ihm sagen, dass er inzwischen wusste, mit wem er damals gesprochen hatte. Würde ihm so gerne mitteilen, dass die Schande, die er im Affekt über die Familie gebracht hatte, inzwischen getilgt war. Immer wieder wurde sie im Tagebuch erwähnt, zusammen mit heftigen Selbstvorwürfen.

Peter wusste sehr gut, wie peinigend solche Selbstbezichtigungen sein konnten, neigte er doch selbst dazu, sich für alles und jedes die Schuld aufzubürden. Warum konnte er seinen Urgroßvater nicht davon befreien? Es wäre so einfach gewesen, damals. Nun war es zu spät, die Gelegenheit dazu hatte er vor über zwei Jahren verpasst. Und nun konnte er es nicht nachholen!

Aber warum denn nicht? Konnte er es nicht wenigstens versuchen? Er war zwar längst noch nicht so erfahren wie sein Vater, aber er hatte es schon vor dem Annehmen der Brandmale geschafft, mit dem alten Meister Po in Kontakt zu treten. Warum sollte das bei seinem Urgroßvater nicht gelingen?

Es kam auf einen Versuch an. Peter nahm die Lotusposition ein, schloss die Augen und befreite seinen Geist von allen überflüssigen Gedanken. Dann konzentrierte er sich ganz stark auf seinen Urgroßvater. Zuerst geschah nichts, aber dann konnte er spüren, wie er in eine Art Spiralneben gezogen wurde, der sich zuerst langsam, dann immer schneller drehte.

Als das Drehen aufhörte, öffnete Peter vorsichtig die Augen. Ja! Es hatte funktioniert! Erleichterung und Dankbarkeit durchströmten ihn. Nun musste er nur noch den Mann finden, den er treffen wollte, für den er diese Reise unternommen hatte.

Kwai Chang Caine. Seinen Urgroßvater.

Ende


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