Autor: Turandot
 

So, fertig. Gerade noch rechtzeitig. Terry warf einen Blick auf die Uhr, gleich musste er aufschließen.

Aber vorher nahm er sich die Zeit, die Dekorationen noch einmal kritisch zu begutachten. Alles war genau so wie er sich das vorgestellt hatte. Der Barmann des "Chandler's" nickte zufrieden; die Schufterei hatte sich gelohnt.

Der Chef hatte der beginnenden Urlaubssaison Rechnung getragen und als Motto für den allmonatlichen Themenabend "Karibik" ausgewählt. Terry und seine Kollegen hatten Unmengen von Sand aufgeschüttet, die Theke in eine tropische Strandbar verwandelt, Liegestühle aufgestellt und sogar ein paar Zwergpalmen und Bananenpflanzen aufgetrieben. Auf dem Tresen standen heute statt der sonst üblichen Knabbereien und Tapas mehrere Schalen mit kunstvoll arrangierten exotischen Früchten; von Ananas und Bananen über Mangos und Papayas bis hin zu Kokosnüssen war so ziemlich alles vertreten, was man mit dem Begriff tropisches Obst in Verbindung bringen konnte. Joe hatte für den heutigen Abend sogar ein paar neue, leichte Cocktailrezepte kreiert, die in der Hauptsache aus vielen Früchten, Eis und Sekt bestanden.

Also, auf in den Kampf! Terry ging zur Tür und schloss auf.

Es dauerte nicht lange, und die ersten Gäste strömten herein. Die meisten waren Stammgäste, darunter war auch ein Sechsergrüppchen vom 101. Revier, das am Tisch direkt vor der Bar Platz nahm. "Wow, das sieht ja toll aus!" bewunderte Jody Powell die Dekoration. Sie drehte sich zu den anderen um und meinte lachend: "Wieso willst du eigentlich in die Karibik fahren, Nicky, wenn du das Ganze hier auch haben kannst?"

Der Angesprochene lachte zurück: "Du bist ja nur neidisch, weil ich die echte Karibik erleben darf statt der nachgemachten hier. Stell dir nur vor, morgen um diese Zeit liege ich am Strand in einer Hängematte, schlürfe einen Drink und blicke aufs Meer hinaus. Und dann werde ich zwei ganze Wochen lang nichts anderes tun als im Meer baden, beim Tauchen Fische und Korallenriffe beobachten, vielleicht sogar ein paar Delphine sehen und mein Leben genießen. Stell dir das mal vor - tropische Früchte, frischer Fisch, Grillfeten am Strand, hübsche Mädels..."

"Ja, aber pass auf, dass du den 'Coroner's Weekly' nicht rumliegen lässt, sonst wird es nichts mit den hübschen Mädels! Die rennen dann schreiend weg, weil sie denken du willst sie sezieren", neckte ihn Jodys Partner Peter Caine. "Aber ich glaube erst, dass du wirklich in Urlaub gehst, wenn der Flieger mit dir an Bord abhebt. Dir kommt doch immer wieder in letzter Minute etwas dazwischen."

Nicky Elder schaute ihn strafend an. "Oh ja, ich weiß, Pete, ich kann mich noch gut an das letzte Mal erinnern, als mich einen Tag vor meiner geplanten Abreise ein gewisser Jemand aus Altamont anrief, um mich zu einem Einbruch anzustiften. Aber daraus habe ich gelernt! Diesmal habe ich meine Flugtickets, die Hotelreservierung und die anderen Reiseunterlagen bereits daheim, der Koffer ist auch schon gepackt, mein Dienst ist seit fast einer halben Stunde vorbei, was soll da noch dazwischenkommen?"

"Beschrei's lieber nicht", warnte Peter. "Aber ich sage ja schon gar nichts mehr. Ich gönne dir deinen Urlaub aus ganzem Herzen, dein letzter ist wirklich schon ziemlich lange her."

Er setzte sein berühmtes schiefes Grinsen auf und frotzelte: "Aber sag bloß nicht, dir hätte unser kleines Abenteuer damals keinen Spaß gemacht! Außerdem hast du entscheidend zur Aufklärung eines Mordes beigetragen, ohne das Mordopfer überhaupt anzufassen, geschweige denn aufzuschlitzen. Das war garantiert eine völlig neue Erfahrung für dich, die hast du nur mir zu verdanken."

Bevor Nicky dieser Sicht der Dinge widersprechen konnte, fuhr Peter fort: "Schon gut, schon gut. Zur Erinnerung und als nochmaliges Dankeschön für deine Hilfe gebe ich eine Runde Cocktails aus." Er winkte den Barkeeper herbei. "Hey, Terry, komm doch bitte mal rüber. Was kannst du uns denn von deinen selbstgepanschten Giftmischungen empfehlen?"

"Seit wann trinkst du denn Cocktails? Ich seh dich doch immer nur Bier trinken", warf Mary-Margaret Skalany ein. "Oh yeah!", bestätigte Kermit Griffin, während alle anderen, einschließlich Chief Frank Strenlich, lachten.

"Sonst schon, aber bei der Kulisse traue ich mich gar nicht, ein Bier zu bestellen. Hier und jetzt sind Cocktails angesagt", gab Peter zurück. "Also, Terry, was hast du so auf Lager?"

"Die üblichen Drinks und Fruchtcocktails, die jeder gute Barkeeper mixen kann. Und zusätzlich ein paar Cocktails mit Fruchteis. Wie wär's mit einem einem ’Hawaii Sorbet'? Ananaseis, Maraschino, Chartreuse und Weißwein. Oder ’Sauer macht lustig' – Zitroneneis, Limoncello und Sekt, habe ich selbst kreiert."

Es dauerte eine Weile, bis alle unter viel Gelächter und Frotzeleien ihre Bestellung aufgegeben hatten. Als die Drinks kamen, prosteten sie sich zu: "Auf Nicky und seinen Urlaub – dass ihn weder ein Sonnenstich treffe noch eine Lebensmittelvergiftung!"

Als alle von ihren Cocktails genippt hatten, meinte Mary-Margaret: "Na ich weiß nicht, ob das wirklich der geeignete Trinkspruch war. Sowas passiert doch nur normalen Touristen. Unser Nicky gibt sich gar nicht erst mit solchen Kleinigkeiten ab, der langt gleich richtig hin. Wir sollten lieber darauf trinken, dass ihn beim Tauchen keine Barracudas oder Haie anfallen..."

"...dass ihn kein giftiges Insekt sticht..."

"...dass er nicht von wilden Affen gebissen wird..."

"...oder von einer Giftschlange...

"...dass ihn kein Raubtier zum Frühstück verspeist..."

"...ja, ja, und dass mir keine Kokosnuss auf den Kopf fällt und mich keine Dattelpalme erschlägt. Ich weiß – die Witzchen habe ich alle schon mal gehört", unterbrach Nicky, aber er lachte gutmütig dabei. "Ihr wollt mir ja bloß den Urlaub madig machen, weil ihr nicht wisst, wie ihr zwei ganze Wochen lang ohne mich und mein forensisches Genie auskommen sollt, gebt's doch zu."

Mit solch freundschaftlichem Geplänkel verging die Zeit wie im Flug. Zwei Stunden (und doppelt so viele Cocktails) später sah Nicky auf die Uhr und rief entsetzt aus: "Ach du Schreck, schon so spät! Ich muss los, Kinder. So long, und versucht mich nicht allzu sehr zu vermissen."

Er verabschiedete sich und wollte noch kurz den Waschraum im Untergeschoß aufsuchen, um sich frischzumachen. Dabei übersah er eine Stufe und geriet aus dem Gleichgewicht. Da er schon ein wenig angeheitert war, reagierte er etwas zu langsam und konnte sich nicht mehr festhalten, sondern purzelte mit Mordskaracho die ganze Treppe hinunter bis zum Fuß der Treppe, wo er mit dem Kopf aufschlug und ohnmächtig liegen blieb.

Vom Lärm alarmiert, sprangen seine Kollegen auf und eilten ihm zu Hilfe.

"Um Gottes Willen, Nicky!" Mary-Margaret war als erste bei ihm. Mit einem einzigen Blick hatte sie die Situation erfasst und rief: "Er ist ohnmächtig und hat eine Platzwunde am Hinterkopf. Peter, ruf einen Krankenwagen, und du Terry, bring mir Verbandszeug!"

Sie fühlte seinen Puls. "Gott sei Dank, der ist kräftig. Hoffen wir, dass die Wunde am Kopf nicht so schlimm ist wie sie aussieht. Sonst scheint nichts passiert zu sein."

Nickys Augenlider begannen zu flattern, und schon kam er leise stöhnend wieder zu sich. "Autsch, mein Kopf! Was ist..."

"Schsch, ganz ruhig, du bist die Treppe hinuntergefallen, bleib ruhig liegen, der Krankenwagen ist schon unterwegs."

"Krankenwagen? Nein, ich kann jetzt..."

"Doch, du kannst und musst jetzt ins Krankenhaus", unterbrach ihn Jody. "Du hast warst kurze Zeit bewusstlos, das muss eingehend untersucht werden."

"Aber mein Urlaub..."

"Der Flieger geht doch erst morgen Mittag. Lass dich erstmal gründlich durchchecken, damit wir sichergehen, dass dir außer einem Brummschädel nichts weiter passiert ist! Hast Du sonst noch irgendwo Schmerzen?", fragte Jody.

"Nein, mir ist nur fürchterlich schwindlig."

Peter war nach draußen gegangen, um dort auf den Notarztwagen zu warten. Jetzt kam er mit zwei Männern herein und zeigte ihnen, wo der Unglücksrabe lag. Der wurde kurz untersucht und dann ohne viel Federlesen trotz seiner Proteste auf die Trage gehoben, zum Krankenwagen gebracht und eingeladen.

Der Notarzt erklärte noch kurz, der Patient würde ins County General gebracht, dann stieg er ein und schloss die Tür. Der Wagen fuhr los. Die Detectives bezahlten ihre Zeche und machten sich in gedrückter Stimmung zusammen auf den Weg ins Krankenhaus. Das konnte aber auch nur Nicky Elder passieren, sich kurz vor dem Urlaub noch eine Kopfverletzung zu holen!

***

Etwa eine Stunde später kam im Wartebereich der Notaufnahme ein junger Arzt auf sie zu. "Sind Sie Dr. Elders Kollegen?"

"Ja. Wie geht es ihm?", fragten sie wie aus einem Mund.

"Den Umständen entsprechend gut. Die Platzwunde haben wir versorgt, und sonst hat er keine Verletzung. Er hat Glück im Unglück gehabt, denn er hat keine Gehirnerschütterung. Trotzdem möchte ich ihn gerne über Nacht zur Beobachtung dabehalten, nur zur Sicherheit. Denn mit Kopfverletzungen soll man nie leichtfertig sein, und er hat ja auch etwas getrunken.

Wenn heute Nacht nichts mehr passiert, kann er morgen früh entlassen werden. Er muss sich allerdings in den nächsten Tagen noch schonen, und Autofahren oder Arbeiten kann er auf keinen Fall."

Alle atmeten erleichtert auf. Peter meinte: "Zum Flughafen muss er ja nicht selber fahren, ich kann ihn hinbringen. Wie früh kann er morgen das Krankenhaus verlassen, ich meine wenn heute Nacht alles gutgeht?"

"Sobald die Verwaltung aufmacht, also gegen 8 Uhr. Wenn Sie möchten, können Sie das mit ihm selber besprechen, aber bitte nur ganz kurz, er soll sich ja ausruhen. Alle anderen muss ich bitten, zu gehen, so viele Besucher wären zuviel für ihn."

Während Peter dem Arzt folgte, machten sich die anderen auf den Heimweg. Sie waren sehr erleichtert, dass Nicky anscheinend mit dem Schrecken davongekommen war.

***

Am nächsten Tag holte Peter Nicky pünktlich um 8 Uhr ab und brachte ihn nach Hause, wo Nicky sich erst einmal umzog. Dann fuhren sie gemeinsam zum Flughafen.

Am Check-In-Schalter verabschiedeten sie sich. Peter wünschte ihm einen schönen Urlaub und ermahnte ihn: "Und pass gut auf dich auf, so einen Stunt brauchst du nicht mehr hinzulegen! Gestern hat wohl dein Glücksstern über dich gewacht, aber das geht nicht jedes Mal so gut aus!"

Und er blieb so lange im Besucherbereich, bis das Flugzeug abhob. Mit Nicky an Bord.

Ende


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