Autor: Turandot
 

Kapitel 1

Vollkommen reglos stand Peter Caine am Fenster und blickte hinaus. Er war so sehr in Gedanken versunken, dass er das Schauspiel nur halb bewusst wahrnahm, das sich ihm in der fortschreitenden Dämmerung bot. Fast den ganzen Tag über hatte es leicht vor sich hingeschneit; im Laufe des Nachmittags waren die Flocken immer dichter geworden, und nun war noch auch ein frischer Wind aufgekommen, der die weiße Pracht gehörig herumwirbelte.

Was für ein Durcheinander! Wahnsinn, wie schnell sich ein bisschen Schnee in ein solches Chaos verwandeln kann! – Aber wieso wundert mich das eigentlich? Mir geht's doch gerade genauso, ich habe das Gefühl, ich werde auch so hin- und hergeschubst wie die Flocken im Schneegestöber da draußen, von einem Schlamassel ins nächste...

Er seufzte. War es wirklich noch keine 24 Stunden her, seit er sich dem Initiationsritual der Shaolin unterzogen hatte? Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, so viel war in dieser kurzen Zeit auf ihn eingestürmt. Sein Abschied vom 101. Revier, die plötzliche Abreise seines Vaters, Lo Sis – oder besser Ping Hais – Geständnis... Peter war regelrecht überrollt worden von den Ereignissen dieses Tages.

Sie zu verarbeiten, würde viel länger dauern als das Heilen der frischen Brandwunden an seinen Unterarmen, die ihn bei jeder unvorsichtigen Bewegung schmerzhaft daran erinnerten, dass er in seiner neuen Rolle als Shaolinpriester noch ganz am Anfang stand. Dass er erst herausfinden musste, wie diese Rolle für ihn konkret aussah und dass er dabei nicht auf die Unterstützung seines Vaters zählen konnte, sondern ganz allein auf sich angewiesen war.

Wie sollte er das schaffen? Wie das Vertrauen der Leute hier gewinnen? Bisher kannte man ihn nur als Polizist. Peter Caine, der Shaolin Cop. Einige der tonangebenden Mitglieder in der chinesischen Gemeinde rümpften über seine Arbeit und seinen westlichen Lebensstil die Nase. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie den Priester Peter Caine akzeptierten?

Eins nach dem anderen, Peter!, rief sich der frischgebackene Shaolin zur Ordnung. Zuerst musst du selbst dich an die neue Situation gewöhnen, alles andere ergibt sich dann hoffentlich. Mit der Zeit. Wie kannst du von anderen erwarten, dich als Shaolin zu akzeptieren, wenn du selbst das noch nicht wirklich tust? – Anstatt weiter zu grübeln, überleg dir lieber, ob du nicht doch bei den anderen im Delancey's vorbeischauen willst. Ein bisschen Ablenkung wird dir bestimmt gut tun.

Peter dachte kurz nach. Zwar hatte er es seiner Freundin Jordan versprochen, doch wenn er ehrlich mit sich selbst war, dann wollte er jetzt keinen Menschen sehen. Erst musste er versuchen, das Gefühls-Chaos in seinem Inneren einigermaßen zu ordnen. Vielleicht war ihm dann eher nach einem Besuch im Stammlokal des Reviers zumute und nach Small-Talk mit seinen Kollegen.

Früheren Kollegen, Peter! Du gehörst nicht mehr zu ihnen, korrigierte er sich wehmütig.

Kurzentschlossen ging er ins Schlafzimmer, wo er sich eine kleine Meditationsecke eingerichtet hatte. Er entzündete die Kerzen, ließ sich auf dem Boden nieder und versuchte, sich von allen störenden Gedanken zu befreien und sich nur auf die Entwicklungen der letzten Tage zu konzentrieren. Schon bald füllte ein Strom von Bildern seinen Geist.

***

Er steht auf dem Balkon und blickt seinem Vater nach, bis Caine in der Menge nicht mehr zu erkennen ist. In Peters Kopf hallt es immer noch nach: "Unsere gemeinsame Reise ist zu Ende... zu Ende... zu Ende."

Seine Augen füllen sich mit Tränen, aber er blinkt sie weg. Wenn er sich jetzt nicht beherrscht, bricht er zusammen. Er ringt um Fassung, konzentriert sich auf seine Atmung, Ein... Aus... Ein... Aus...

Allmählich wird es besser, der Eisklumpen in seinem Magen löst sich langsam auf. Sein Gehirn funktioniert wieder, er kann wieder denken. Seine eigene bange Frage fällt ihm ein – "Aber du wirst doch wiederkommen?" – und auch die Antwort: "Das werde ich."

Dieses Versprechen ist wie ein Halteseil über dem Abgrund. Ein Trost, an den er sich klammern kann. Wenn sein Paps etwas verspricht, setzt er alles daran, es zu halten. Das war schon immer so, im Tempel seiner Kindheit genauso wie in den vier Jahren, die sie nach ihrer langen Trennung zusammen erleben durften.

Peter merkt, wie ein Funken Zuversicht in ihm aufglimmt und langsam wächst. In die Stille des Wintermorgen hinein sagt er laut: "Nein, sie ist nicht zu Ende, Paps. Unterbrochen, ja, aber nicht zu Ende. Du hast versprochen, wiederzukommen. Ich weiß, du wirst zurückkommen."

"So ist es, Peter. Eines Tages ist er wieder da."

Überrascht dreht er sich um und sieht Lo Si an der Balkontür stehen, den Blick verständnisvoll auf ihn gerichtet. Er wirkt noch älter und gebrechlicher als sonst. Auch ohne Worte weiß Peter, dass Lo Si ebenfalls Trauer über Caines Abreise verspürt. Der Alte tritt auf Peter zu und nimmt ihn in den Arm, lässt ihn spüren, dass er nicht allein ist.

Zusammen gehen sie in die Wohnung zurück. Lo Si bedeutet Peter mit einer Handbewegung, sich zu setzen, und verschwindet dann in der Küche. Peter hört ihn Tee zubereiten und muss wider Willen lächeln. Ihm steht der Sinn ganz und gar nicht nach einer von Lo Sis Kräutermischungen, doch er versteht, was dahintersteckt. Also wartet er geduldig, bis der Alte mit einem Tablett wieder erscheint und ihm gegenüber Platz nimmt.

Erst als beide eine Tasse des dampfendem Gebräus vor sich haben, sagt Peter: "Er hat mich gebeten, mich um die Wohnung zu kümmern. Das tue ich gerne, aber was mache ich nur mit der Apotheke? Lo Si, ich bin kein Heilkundiger so wie ihr beide, ich bin – war – Polizist. Ich verstehe nichts von traditioneller chinesischer Medizin."

"Du kannst es lernen, Peter. Ich werde dich unterrichten. Kräuterkunde, Medizin, alles was du brauchst, um ein Heiler zu werden. Auch die chinesische Schrift, denn du musst imstande sein, die alten Bücher und Schriftrollen zu lesen. – Für den Anfang werde ich Kwai Chang Caines Apotheke übernehmen, bis du selbst so weit bist."

Peter nickt dankbar. Eine Weile sitzen sie schweigend vor ihrem Tee, bis es aus Peter herausbricht: "Warum, Lo Si? Warum? Er ist unterwegs nach Frankreich, um meine Mutter zu suchen. Nur wegen eines Photos. Als er mir das Bild gezeigt hat, habe ich gespürt, dass er selbst nicht recht daran glaubt, dass das wirklich meine Mutter ist. Warum muss er dann gleich Hals über Kopf weggehen? Warum kann er nicht ein bisschen warten? Ein paar Wochen, oder wenigstens ein paar Tage? Warum?"

"Was würde das ändern?" Lo Si hat die Hände in seiner typischen Geste zusammengelegt und sieht ihn abwartend an.

"Alles." Peter fährt sich ratlos durchs Haar. "Ich fühle mich so... so hilflos. Ich kam heute her, um gemeinsam mit meinem Vater zu überlegen, wie ich die Pflichten eines Shaolin am besten erfüllen kann. Doch jetzt ist er weg. Einfach so. Ich... ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll. Wovon ich ab jetzt leben soll. Wenn du mir Unterricht gibst, dann ist das schön und gut, und ich bin dir sehr dankbar dafür – aber das nutzt den Leuten, die HEUTE Hilfe brauchen, überhaupt nichts. Es wird Jahre dauern, bis ich das Nötigste gelernt habe. Wie kann ich da... "

Lo Si fällt ihm ins Wort. "Du vergisst, dass du jetzt ein Shaolin bist. Du hast eine höhere Bewusstseinsebene erreicht, die dir hilft, neues Wissen leichter zu verinnerlichen als früher. Du wirst schnell in deine Aufgaben hineinwachsen. Und mach dir keine Sorgen, niemand erwartet von dir, dass du sofort alles kannst. Höchstens du selbst."

Zweifelnd sieht Peter ihn an. "Meinst du?"

Lächelnd nickt der Alte und legt ihm bekräftigend die Hand auf den Arm. "Ich weiß es. Ich habe deine Shaolinausbildung miterlebt."

Er zieht seine Hand wieder zurück und senkt den Blick. "Peter, ich muss dir etwas sagen. Etwas, was ich dir schon vor langer Zeit hätte gestehen sollen, doch ich wollte warten, bis du bereit dafür bist."

Peter zieht fragend eine Augenbraue hoch, bleibt aber still. Er spürt, dass es Lo Si schwerfällt, weiterzusprechen.

Dieser betrachtet angelegentlich seine im Schoß gefalteten Hände. Dann blickt er auf und sieht Peter direkt ins Gesicht. "Peter, ich kenne dich viel länger als du meinst. Schon seit deiner Kindheit. Ich... ich habe lange Jahre im Tempel deines Vaters gelebt. Nicht als Lo Si... sondern... unter dem Namen... Ping Hai."

Peter starrt ihn an, über alle Maßen geschockt. Er weigert sich, zu glauben, was er gerade gehört hat.

Lo Si – Ping Hai? – fährt fort: "Ich weiß, dass ich dir und deinem Vater unbeschreibliches Leid zugefügt habe, als ich euch nach der Zerstörung des Tempels voneinander getrennt habe. Besonders dir, du warst ein Kind und deshalb noch viel verletzlicher als dein Vater. Glaube mir, ich habe das nicht leichtfertig getan. Ich wusste mir keinen anderen Rat, um euch beide zu schützen, denn der abtrünnige Priester, der den Tempel zerstören ließ, hatte mächtige Verbündete. Wenn er erfahren hätte, dass ihr noch am Leben wart, hätte er nichts unversucht gelassen, um euch aufzuspüren und zu töten. Ihr wärt in ständiger Gefahr gewesen. Vor allem du. – Ich kann dich nicht bitten, mir zu verzeihen, was ich dir angetan habe. Ich bitte dich nur, denke über das nach, was ich dir gerade gesagt habe."

"Du... du bist... Ping Hai?" Peter fällt es schwer, das Undenkbare auszusprechen. Ausgerechnet Lo Si! Lo Si, in dem Peter immer so etwas wie einen Großvater gesehen hat, Lo Si, der ihm und seinem Vater immer beigestanden hat, der beiden ein sehr guter Freund geworden ist, entpuppt sich nun als Lügner und Verräter! Er war es, der Peter ins Waisenhaus gesteckt, ihm damit die Hölle auf Erden bereitet hat!

"Ich... ich muss hier raus!" Peter springt auf. "Das ist jetzt gerade zu viel für mich, ich muss..."

Er findet keine Worte für das, was in ihm vorgeht, stürzt nur an Lo Si vorbei aus der Wohnung und aus dem Haus. Er wird stundenlang ziellos durch Chinatown streifen, bis er irgendwann erschöpft in seine eigene Wohnung zurückkehrt.

***

Kapitel 2

Auf dem 101. Polizeirevier herrschte die übliche hektische Betriebsamkeit. Gut gelaunt hielt Vice Cop Jordan McGuire die Eingangstür für ihre Kollegin, Detective Morgan, auf. Diese stieß unsanft einen heftig schimpfenden und fluchenden, mit Handschellen gefesselten, älteren Mann mit dicker schwarzer Hornbrille über die Türschwelle und bugsierte ihn in Richtung Empfangschef, wie Sergeant Broderick scherzhaft genannt wurde.

"Was habt ihr mir da denn Schreckliches mitgebracht?", begrüßte dieser seine Kolleginnen und sah den zeternden Gefangenen so streng an, dass dieser erschrocken verstummte.

"Ein kleines nachträgliches Weihnachtsgeschenk, das heißt, wenn du auf Wüstlinge stehst. Den Brillenschlangen-Stalker. Er hat versucht, Jordy zu überfallen, das ist ihm aber schlecht bekommen", grinste Morgan. "Der vermöbelt so schnell keine Nutte mehr."

Jordan nickte stolz. "Tja, man sollte sich halt nicht mit dem neuen Dream-Team unter den Lockvögeln anlegen. Das ist schon der zweite Sittenstrolch diese Woche, den wir aus dem Verkehr gezogen haben. – Kannst du uns einen Gefallen tun? Sperr ihn eine Zeitlang nach hinten zu den anderen Psychos. Bis wir ihn vernehmen können, wird's wohl eine Weile dauern. Ich muss jedenfalls erstmal auftauen, es ist saukalt draußen."

"Kann ich mir denken. Wenn ich bei dieser Kälte im Miniröckchen draußen herumstolzieren müsste, würde ich auch zum Eiszapfen erstarren. Geht nur, ich mach das schon", gab Broderick gutmütig zurück und winkte zwei uniformierte Beamte heran, die den Verhafteten in die Arrestzelle bringen sollten. Geflissentlich ignorierte er Morgans laut geflüsterte Bemerkung an Jordan, sie würde gerne wissen, was denn da bei Broderick unter dem Rock starr und steif werden würde. Morgan war bekannt für ihre Anzüglichkeiten und ihr oftmals unangebrachtes freches Benehmen.

Die beiden jungen Frauen bedienten sich gerade an der Kaffeemaschine, als T.J. Kincaid auf sie zukam. "Hallo, ihr beiden. Jordy, Captain Simms hat vorhin nach dir gefragt. Sie möchte dich sofort in ihrem Büro sehen. – Wow, supergeiles Outfit. Du siehst klasse aus." Er pfiff anerkennend durch die Zähne.

"Ja, bis auf die blau gefrorenen Beine, die passen farblich nicht so gut zum Rock. Und das Zähneklappern stört auch ganz schön, wenn du dem Verbrecher, den du gerade verhaftest, seine Rechte vorlesen willst. Manchmal frag ich mich, warum ich so blöd bin, gerade im Winter freiwillig den Lockvogel zu spielen."

"Ja, ja, alles für die Karriere", frotzelte T.J. und verzog sich schleunigst wieder an seinen Schreibtisch.

Jordan zuckte mit den Schultern und sagte zu Morgan: "Nicht jeder hat einen Commissioner zum Vater. – Na ja, ich schau mal lieber ins Büro des Captains. Muss ja ganz schön dringend sein, wenn sie mich sofort sehen will."

In diesem Moment steckte Captain Simms den Kopf durch die Tür. "Ah, Jordan, Sie sind zurück. Gut. Kommen Sie rein", sagte sie und winkte Jordan zu sich ins Büro.

"Bitte nehmen Sie Platz. – Sie hatten sich vor einiger Zeit für einen einjährigen Lehrgang in Washington beworben, nicht wahr?"

"Ja. Leider habe ich eine Absage bekommen", erwiderte Jordan. "Man hat mich zwar auf die Warteliste gesetzt, aber das hat auch nichts genutzt." Sie seufzte. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie niedergeschlagen sie gewesen war, als sie den Bescheid bekommen hatte, hatte sie doch gehofft, der Kurs würde ihr zu einem Karrieresprung verhelfen. Einen Vorteil hatte die Absage allerdings gehabt: Peter hatte es mitbekommen und versucht, sie ein wenig aufzuheitern. Jordan hatte sich natürlich liebend gerne von ihrem gutaussehenden, umschwärmten Kollegen trösten lassen. Seitdem waren sie ein Paar.

"Nun, ich habe vor einer halben Stunde die Nachricht erhalten, dass einer der Teilnehmer im letzten Moment abgesagt hat. Somit ist ein Platz für Sie freigeworden. Es ist zwar momentan sehr ungünstig, weil wir dann gleich zwei neue Leute brauchen, um Sie und Peter zu ersetzen. Aber das soll nicht Ihr Problem sein. Wenn Sie immer noch Interesse an dieser Fortbildung haben, haben Sie meine Erlaubnis, daran teilzunehmen."

Jordan glaubte, sich verhört zu haben. "Wie bitte? Ist das Ihr Ernst? Das glaub ich jetzt nicht... Ist das wirklich wahr?"

Ihre Chefin nickte. "Ja. Sie müssen allerdings heute verbindlich zusagen und spätestens Ende nächster Woche in Washington eintreffen, denn der Lehrgang beginnt bereits in zehn Tagen."

Ein Strahlen ging über Jordans Gesicht. "Ja, natürlich will ich! Das ist super! Wow, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Danke!"

*

Jordan schwebte richtiggehend aus Captain Simms' Büro, ein glückliches Lächeln auf den Lippen und in Gedanken schon bei der Umzugsplanung. Das muss ich sofort Peter erzählen, der wird staunen!

Sie griff gerade zum Telefon, als der Apparat zu klingeln begann. Seufzend meldete sie sich: "101. Revier, McGuire." So was Blödes, gerade wenn ich selbst telefonieren will.

"Hi, Jordy, ich bin's, Peter."

Sofort strahlte sie wieder. "Peter! Das muss Gedankenübertragung sein, ich wollte dich gerade anrufen. Wann kommst du? Ich muss dir unbedingt etwas Tolles erzählen."

"Was gibt's denn? Du klingst ja richtig aufgekratzt", fragte Peter neugierig.

"Das kann ich nicht so gut am Telefon sagen, außerdem müssen wir das mit einem Glas Sekt begießen. Ich erzähl's dir im Delancey's."

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, dann erklang es zögerlich. "Äh, hm, Honey, es tut mir wahnsinnig leid... aber... ich kann heute abend nicht ins Delancey's kommen."

"Was? Aber du hattest es doch versprochen!" Im ersten Moment war sie wie vor den Kopf gestoßen. Sie wollte Peter etwas Wichtiges mitteilen und er sagte ihr einfach ab. Unerhört! Was denkt er sich dabei?

Doch Peter war niemand, der leichtfertig eine Verabredung absagte. Er hatte bestimmt einen triftigen Grund. Jordans Ärger wich leichter Besorgnis. "Was ist denn los? Ist etwas passiert, geht's dir nicht gut?"

Wieder ein kurzes Zögern. "Nn...nein. Alles ok, jedenfalls bin ich nicht krank oder so. Aber ich hatte einen Scheißtag. Ich bin total erledigt und nicht in der Stimmung für ein Treffen mit dem halben Revier. Jedenfalls nicht gerade heute."

"Höre ich da etwa sowas wie Bedauern über deinen Abgang heraus?"

Diese Frage war heraus, bevor es ihr recht bewusst geworden war. Sofort war ihr klar, dass sie zu weit gegangen war und es möglichst schnell wieder einrenken musste. "Entschuldige bitte, das war unangebracht. Ich... ich verstehe halt einfach nicht, warum du gleich deinen Job aufgeben musst nur weil du jetzt ein Shaolin bist. Wir alle vermissen dich jetzt schon. Ich..."

Peter unterbrach sie: "Schon gut, Jordy, ist ok. Ich weiß, was du meinst. Es kam für uns alle recht plötzlich, es wird Zeit brauchen, bis wir uns daran gewöhnt haben." Das klang vernünftig – warum nur hatte sie das Gefühl, Peter versuchte nicht sie, sondern sich selbst davon zu überzeugen?

Um von diesem heiklen Thema abzulenken, sagte sie schnell: "Soll ich nachher bei dir vorbeikommen und dich auf andere Gedanken bringen? Ich bringe eine Flasche Schampus mit und wir feiern daheim."

"Das ist lieb von dir, aber ich glaube nicht, dass das heute eine gute Idee ist. Hast du nicht morgen Spätschicht? Wie wär's wenn du vorher zu mir kommst? Ich mach uns ein besonders festliches Frühstück, du erzählst mir deine Neuigkeiten und wir feiern eben bei mir statt im Delancey's."

Frühstückseinladung statt gemeinsam verbrachter Nacht? Das war wohl nicht sein Ernst! Jordan erwiderte, leicht schmollend: "Nein, das geht nicht, ich muss morgen früher ins Büro, ich muss die Übergabe... "

Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie, was sie im Begriff war zu verraten, und schlug erschrocken die Hand vor den Mund. "Ups, da hätte ich mich beinahe verplappert... Ach was soll's, sag ich's dir eben gleich, ich kann's ohnehin nicht so lange für mich behalten..."

Sie machte eine kleine Pause, um Peters Neugier zu steigern. Doch dann konnte sie nicht mehr an sich halten und platzte glücksstrahlend heraus: "Halt dich fest – Captain Simms hat mir gerade mitgeteilt, dass ich doch einen Platz für den Lehrgang in Washington bekommen habe, auf den ich mich im Sommer beworben habe. Auf die allerletzte Minute sozusagen. Ist das nicht großartig? Und jetzt habe ich natürlich jede Menge zu tun, der Kurs beginnt ja schon in einer guten Woche, ich muss hier im Büro die Übergabe machen und den Umzug vorbereiten. Ach, ich bin so aufgeregt!"

Eine Weile blieb es seltsam still in der Leitung, dann sagte Peter leise: "Gratuliere." Seine Stimme war merkwürdig flach und tonlos.

Angesichts dieses offenkundigen Mangels an Begeisterung verpuffte Jordans Freude augenblicklich und machte herber Enttäuschung Platz. Scharf fragte sie: "Sag mal, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Du bist eine richtige Spaßbremse heute. Freust du dich denn kein bisschen mit mir? Oder ist das für den großen Shaolin womöglich unter seiner neuen Würde?"

"Nein, der große Shaolin findet es einfach nicht besonders toll, von heute auf morgen abserviert zu werden. Er hätte gerne ein wenig Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, anstatt einfach so damit überfallen zu werden."

Jordan war verblüfft. "Abservieren? Wie kommst du auf die Idee? Bloß weil ich ein paar Monate woanders arbeite? Du tust ja geradezu so, als würde ich ans andere Ende der Welt ziehen! Stell dich nicht so an, Babe, Washington ist nur eine gute Flugstunde von hier, da können wir uns ganz oft sehen. Mach nicht gleich aus einer Mücke einen Elefanten, du verdirbst mir damit die ganze Freude."

"Ha, ha, ha..." Peter klang jetzt ausgesprochen wütend. "Schon mal daran gedacht, dass du vielleicht nicht einfach nach Belieben wegkannst? Und dass ich es mir gar nicht leisten kann, alle naselang nach Washington zu fliegen? Falls du's schon vergessen hast: ich bin jetzt kein Polizist mit regelmäßigem Gehalt mehr, sondern ein Shaolin. Die nehmen gewöhnlich für ihre Dienste kein Geld. Also komm mir nicht mit 'ganz oft sehen', das wird ohnehin nicht klappen. Und da wunderst du dich auch noch, dass ich das erstmal verdauen muss... Aber wozu reg ich mich überhaupt auf? Fahr zu deinem Lehrgang – viel Spaß in Washington und amüsier dich schön, ich komm schon irgendwie klar hier, auch ohne dich."

Klick – die Verbindung war unterbrochen.

***

Verärgert und tief verletzt knallte Peter den Telefonhörer auf die Gabel. Am liebsten hätte er ihn quer durchs Zimmer geworfen.

Was um alles in der Welt ist nur heute los? Erst Paps, dann Lo Si, und jetzt auch noch Jordy! Was soll das werden, ist das eine Art Härtetest – haut nur alle auf Peter ein, mal sehen, wieviel er verträgt? Und dann hat sie auch noch den Nerv, mir Vorwürfe zu machen, dass ich nicht gleich vor Glück in die Luft springe, wenn sie von einem Tag auf den anderen verschwindet! Das ist ja wohl der Oberhammer!

Wutentbrannt trat er gegen den Türrahmen.

"Autsch!" Der Schmerz brachte ihn wieder zur Besinnung; sein Zorn verrauchte ebenso schnell wie er aufgeflammt war. Nervös fuhr er sich durchs Haar und übers Gesicht.

Toll gemacht, Peter! Hättest du nicht wenigstens einmal deinen vorlauten Mund halten können? Du weißt doch, wieviel Jordy dieser Lehrgang bedeutet und wie traurig sie war, als sie die Absage bekam. Anstatt dich jetzt mit ihr darüber zu freuen, dass es doch noch geklappt hat, spielst du die beleidigte Leberwurst. Bloß weil der Zeitpunkt total beschissen ist. Dafür kann Jordy doch nichts, schalt er sich selbst. Los, ruf sie an und bring es wieder in Ordnung.

Reuevoll griff er zum Telefon und wählte ihre Nummer im Revier. Zuerst ertönte nur das Freizeichen – Peter wurde mit jedem erneuten "Tuuut Tuuut" nervöser – doch dann wurde der Hörer abgehoben.

"101. Revier, Blake", ertönte die Stimme seiner früheren Freundin Kelly Blake.

"Hi, Kel, hier ist Peter. Ist Jordy in der Nähe?"

"Nein, tut mir leid, sie ist nicht da. Ihre Tasche liegt aber noch da, ich denke sie kommt bald wieder. Wahrscheinlich braucht sie einfach ein bisschen frische Luft, sie ist vorhin wie eine Wilde an mir vorbei nach draußen gestürmt. Sie sah ziemlich sauer aus. – Soll ich ihr etwas ausrichten?", fragte Kelly.

"Nein, nein, danke, Kel. Das ist nett von dir, aber das geht nicht", erwiderte Peter verlegen. "Ich... wir haben uns vorhin gezankt, und ich wollte mich bei ihr entschuldigen. Ich versuche es einfach auf ihrem Handy, vielleicht hat sie das ja dabei. Danke nochmal und schönen Abend noch."

"Oh, ach so. Na dann viel Glück. Tschüss, bis bald."

Peter legte auf und wählte die Handynummer seiner Freundin. Nach dem dritten Klingeln erklang ein sehr reserviertes "Ja? Was willst du?"

Augenscheinlich war Jordy noch immer sehr verletzt. Peter schluckte.

"Jordy, ich... ich...", stotterte er zerknirscht, "entschuldige bitte, es tut mir leid, dass ich so negativ reagiert habe und dir die Freude an deiner Überraschung verdorben habe. Ich war ein Idiot. Kannst du mir verzeihen?"

Ein paar bange Sekunden lang waren nur tiefe Atemzüge zu hören, dann sagte sie ungewohnt sanft: "Ja."

Peter fiel eine ganze Felslandschaft vom Herzen. Er seufzte erleichtert, was Jordy ein leises Lachen entlockte. Doch sie wurde schnell wieder ernst. "Mir tut es auch leid. Ich hab dich einfach so mit der Nachricht überfallen und gar nicht daran gedacht, dass es für dich ja überhaupt nicht schön ist, wenn ich für so lange Zeit nach Washington gehe, noch dazu so kurzfristig. Das war taktlos von mir, bitte entschuldige."

Der Frieden war wieder hergestellt.

***

Kapitel 3

Eine halbe Stunde später saß Peter mit hochgekrempelten Ärmeln auf dem Sofa. Sorgfältig trug er die Tinktur, die Lo Si ihm am Abend zuvor gegeben hatte, auf seine Unterarme auf und und wartete darauf, dass sie einzog. Nachdenklich betrachtete er seine Brandmale. Der Drache und der Tiger zeichneten sich klar ab. Die Haut um die Tätowierungen war noch leicht gerötet und sehr empfindlich, doch es hatten sich wider Erwarten keine Brandblasen gebildet. Peter war überrascht, wie schnell die Wunden verheilten; schließlich war gerade mal ein einziger Tag vergangen, seit er die Male angenommen hatte. Hatte das womöglich mit der erweiterten Bewusstseinsebene und dem erneuerten Chi zu tun, von dem Lo Si gesprochen hatte?

Als er das Tinkturfläschchen verschloss, fing das Telefon zu klingeln an. Automatisch wollte er rangehen, doch dann zögerte er. Will ich das wirklich? Noch so eine 'großartige' Nachricht wie die von Jordy verkrafte ich jetzt nicht. – Ach was, wem's wirklich wichtig ist, der ruft nochmal an. Ich bin nicht da.

Kurzerhand ignorierte er das Bimmeln und stellte die Tinktur zurück in sein Medizinschränkchen im Bad. Als er wieder ins Wohnzimmer kam, sprang der Anrufbeantworter an. "Hi Leute, Peter ist gerade nicht da, ich richte ihm aber gerne etwas aus." Piep.

"Peter, hier ist Danielle. Danielle Jansen. Wenn Sie bis etwa halb sieben nach Hause kommen, könnten Sie mich bitte zurückrufen? Ich bin gerade mit Heather im County General, Sie erreichen mich unter..."

Mit einem Satz war Peter beim Telefon. "Danielle? Ich bin's, Peter. Was ist passiert, wie geht's Heather?"

Danielle klang erleichtert. "Oh Peter, gut dass Sie doch da sind! Es tut mir leid, dass ich Sie einfach so überfalle..." Sie zögerte.

"Kein Problem, was ist mit Heather?"

"Nichts wirklich Schlimmes. Als ich sie abholen kam, ist sie auf dem Schulhof ausgerutscht und übel gestürzt. Dabei hat sie sich ein Bein gebrochen. Ein paar Prellungen und blaue Flecken hat sie auch abbekommen. Aber es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Wir warten gerade darauf, dass das Bein eingegipst wird, dann darf sie vielleicht sogar gleich wieder nach Hause. Ansonsten muss sie eine Nacht zur Beobachtung hierbleiben."

"Gut, dass ihr nichts Gefährlicheres passiert ist!" Peter atmete auf. "Wie kann ich helfen?"

"Könnten Sie vielleicht heute abend für mich einspringen und meinen KungFu-Kurs abhalten? Bis das Eingipsen vorbei ist und klar ist, ob Heather nach Hause kann oder hierbleiben muss, dauert es noch einige Zeit, ich komme nie und nimmer rechtzeitig ins Studio... Ich weiß, dass das ziemlich unverschämt von mir ist, aber..."

"…nein, nein, das ist o.k., ich helfe gerne aus, machen Sie sich keine Gedanken", fiel ihr Peter ins Wort. Ich würde sonst ohnehin nur hier rumsitzen und Trübsal blasen. "Wie komme ich an den Schlüssel fürs Studio?"

"Ich habe einen Zweitschlüssel im Restaurant neben dem Studio deponiert, für alle Fälle. Ich rufe die Besitzerin an und gebe ihr Bescheid, dass Sie den Schlüssel holen. Vielen, vielen Dank, Peter! Sie sind meine Rettung, ich weiß gar nicht, was ich ohne Sie tun würde."

*

Eine Viertelstunde vor Kursbeginn schloss Peter Danielles kleines KungFu-Studio auf. Er trat ein, ging in den Nebenraum und zog seine Trainingskleidung an. Zurück im Trainingsraum, machte er probeweise einige Aufwärmübungen. Vor allem bei schnellen Armbewegungen musste er sich sehr konzentrieren, um den Schmerz durch seine Brandmale ausblenden zu können; aber das war er inzwischen gewohnt. Auch tat die schmerzlindernde Tinktur ihre Wirkung. Trotzdem hoffte Peter, während des Unterrichts möglichst wenig Treffer an den Unterarmen abzubekommen.

Wenig später öffnete sich die Tür. Stacy, Anita und Claudia betraten gemeinsam das Studio und begrüßten Peter erfreut. Kurz darauf waren alle Schülerinnen anwesend. Peter erklärte kurz, weshalb Danielle nicht da sein konnte und begann mit dem Training. Wie immer machte es ihm großen Spaß, mit den jungen Frauen zu arbeiten. Zum ersten Mal seit dem Abschied von seinem Vater fühlte er sich richtig gut.

Das sollte ich öfter machen. Ich glaube, unterrichten liegt mir... Hm, Danielle hat mal angedeutet, sie würde ihr Studio gerne erweitern, und wenn ich Interesse hätte, könnte ich einen eigenen Kurs abhalten. Bisher kam das nicht in Frage, schon allein wegen meiner vielen Sondereinsätze und Nachtschichten. Aber jetzt sieht das anders aus. Vielleicht sollte ich nochmal mit ihr darüber sprechen.

*

Nach dem Ende der Stunde gab Peter den Schlüssel wieder bei der Restaurantbesitzerin ab und fuhr anschließend ins County General. So wie er das Prozedere in Krankenhäusern kannte, waren Danielle und ihre Tochter bestimmt noch nicht entlassen worden. Er hatte recht; Heather musste über Nacht zur Beobachtung bleiben und war gerade auf die Kinderstation gebracht worden.

Er fragte sich durch und stand bald vor Heathers Zimmer. Leise klopfte er an, zog die Tür vorsichtig ein wenig auf und sah hinein. Im Zimmer waren zwei Betten, doch nur eines, das am Fenster, war belegt. Dr. Sabourin und Danielle standen davor und sprachen mit Heather, deren rechtes Bein eingegipst und hochgelagert war. Sie sah reichlich blass und erschöpft aus.

Alle drei blickten zur Tür. Heather rief erfreut: "Peter! Toll dass du vorbeikommst!"

Peter trat zum Bett, begrüßte die Erwachsenen kurz und umarmte dann Heather vorsichtig. "Wie geht's dir, Prinzessin? Was macht dein Bein?"

"Ach, dem geht’s schon wieder einigermaßen. Es hat zuerst ganz scheußlich weh getan, aber jetzt ist es besser. Außerdem habe ich einen ganz schicken Gips. Schreibst du mir da was drauf?"

"Aber klar doch. Was hättest du denn gern?"

"Das können Sie gerne morgen besprechen, für heute ist die Besuchszeit vorüber. Heather braucht Ruhe", unterbrach ihn Dr. Sabourin streng, doch Peter sah ein kleines Lächeln um ihre Mundwinkel spielen.

"Kommst du morgen wieder? Und bringst du Kermit mit? Vielleicht malt er mir ja einen Frosch mit Sonnenbrille auf den Gips", fragte Heather hoffnungsvoll.

"Bestimmt macht er das. Ich sag ihm, dass du im Krankenhaus bist, dann kommt er mit fliegenden Fahnen herbeigeeilt. Gute Nacht, schlaf gut, und bis morgen."

*

Während sich Danielle Jansen von ihrer Tochter verabschiedete, verließ Ellen Sabourin mit Peter Caine das Zimmer. Die Ärztin rang mit sich – sollte sie die Gelegenheit beim Schopf packen und den jungen Mann nach seinem Vater fragen? Es ging sie ja eigentlich überhaupt nichts an, aber der Ehrwürdige war heute so merkwürdig ausweichend gewesen. Irgendetwas war da seltsam. Den ganzen Nachmittag war ihr das nicht aus dem Kopf gegangen. Sollte sie nun etwas sagen oder nicht?

Als wüsste er, was sie beschäftigte, blickte Peter sie forschend an und fragte: "Verzeihen Sie mir die Bemerkung, Doc, Sie wirken besorgt. Geht es um Heathers Unfall oder um etwas anderes? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?"

Kann er Gedanken lesen? Seit wann ist er denn genauso 'allwissend' wie sein Vater?... Nun gut, wenn er mich schon darauf anspricht, dann frage ich ihn nach Caine.

Ellen nickte. "Ja, das können Sie, Peter. Ich weiß nicht so recht wie ich es ausdrücken soll, aber den ganzen Nachmittag schon habe ich so ein komisches Gefühl... Wie Sie wissen, kommt Ihr Vater einmal pro Woche hierher und macht zusammen mit den Ärzten Krankenbesuche. Aber heute kam statt seiner der Ehrwürdige Lo Si zu unserer Besuchsrunde."

Verwundert bemerkte sie, dass sich Peters Gesichtsausdruck urplötzlich veränderte. Er runzelte die Stirn, seine Augen bekamen einen harten Ausdruck und er ballte die Faust. Er machte einen ungeheuer wütenden Eindruck. Doch im nächsten Augenblick hatte er sich wieder entspannt und wirkte so, als sei nichts gewesen.

Hatte sie sich diese merkwürdige Reaktion nur eingebildet? Sah sie etwa schon Gespenster?

Sie fuhr fort: "Als ich ihn nach Ihrem Vater fragte, meinte er nur, die nächsten Male werde er dabei sein, denn Caine habe etwas zu erledigen. Ich hatte das Gefühl, dass er mir auswich, dass da mehr war, als er mir sagte. Peter, ist etwas mit Ihrem Vater? Geht es ihm nicht gut?"

Offensichtlich hatte sie doch einen wunden Punkt berührt, denn Peter wendete den Blick ab und fuhr sich durch die Haare, ein sicheres Zeichen dafür, dass er nervös oder aufgeregt war. Hastig entschuldigte sie sich: "Ich wollte nicht neugierig sein, Peter. Es tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen."

Was mochte da nur geschehen sein, dass ihn ihre eigentlich harmlose Frage so traf?

Einen Moment lang starrte er vor sich hin, dann sah er Ellen wieder an und lächelte etwas gezwungen. "Es gibt nichts, wofür Sie sich entschuldigen müssten, Doc. Ganz im Gegenteil. Es ehrt Sie, wenn Sie sich Gedanken machen. – Ich... ich schätze, ich kann schon mal anfangen, mich an diese Frage zu gewöhnen, sie wird noch oft genug auf mich zukommen."

Er seufzte. "Meinem Vater geht es gut. Ich würde spüren, wenn es anders wäre. Aber er... er ist heute abgereist. Er ist unterwegs nach Frankreich, und leider habe ich keine Ahnung, wann er wieder in der Stadt ist. Er wird zurückkommen, aber es wird wohl einige Zeit dauern... Ich fürchte, momentan bin ich der einzige Caine in Chinatown."

Vorsichtig, als sei ihm die Bewegung unangenehm, schob er die Ärmel seiner Lederjacke nach oben, krempelte das Hemd hoch und zeigte ihr seine Unterarme. Überrascht bemerkte Ellen die eingebrannten Symbole. Tiger und Drache. Sie hatte sie oft genug an Caine und Lo Si gesehen, um sofort zu wissen, was geschehen sein musste. "Sie sind jetzt auch Shaolinpriester?"

Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Peter sich intensiver mit den Lehren der Shaolin befasste, als es sein enges Verhältnis zu Caine naturgemäß mit sich brachte.

"Ja. Es war an der Zeit." Er grinste ein wenig schief. "Allerdings bin ich vermutlich der einzige Shaolin, der von Heilkunst nicht die geringste Ahnung hat."

***

Kapitel 4

"O mein Gott!"

Der erschreckte Ausruf ließ Peter und Dr. Sabourin aufschauen. Beide hatten nicht gehört, dass Danielle inzwischen ebenfalls aus dem Zimmer gekommen war. Sie starrte entsetzt auf Peters Arme.

"Um Himmels willen, Peter! Wieso haben Sie am Telefon nichts von Ihren Brandmalen gesagt? Ich hatte ja keine Ahnung... Ich hätte Sie doch nie gebeten, mich beim Unterricht zu vertreten, wenn ich das gewusst hätte. Das muss Ihnen große Schmerzen bereitet haben. Es tut mir so leid! Ich..."

Peter unterbrach sie verlegen. "Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Danielle! Die Schmerzen bin ich inzwischen gewohnt, das ist halb so schlimm. Und Sie wissen doch, ich trainiere sehr gern mit Ihren Schülerinnen. Gerade heute hat mir das sehr gut getan. Sie haben mir damit einen großen Gefallen getan."

Danielle sah ihn an, als sei er von allen guten Geistern verlassen.

Unwillkürlich musste er lachen. "Doch, doch, das können Sie mir schon glauben."

Um vom Thema abzulenken, erkundigte er sich: "Sind Sie mit dem Auto hier? Oder kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?"
"Ich bin mit dem Krankenwagen mitgefahren, mein Wagen steht noch an der Schule."

"Dann bringe ich Sie dorthin."

Sie verabschiedeten sich von Dr. Sabourin und verließen zusammen das Krankenhaus.

*

"Bitte sehr!" Schwungvoll öffnete Peter die Beifahrertür seines Sportwagens für Danielle, ihr dabei einen besorgten Blick zuwerfend.

Sie lächelte ihm dankbar zu und stieg ein. Den ganzen Weg bis zum Besucherparkplatz war sie ungewöhnlich schweigsam gewesen. Dies war angesichts der Situation nur allzu verständlich, denn nun, da Sorge und Anspannung nachließen, merkte sie, wie sehr Heathers Unfall und das nervenaufreibende Warten im Krankenhaus sie mitgenommen hatten. Sie war vollkommen ausgelaugt.

Peter nahm ihre Erschöpfung sehr deutlich wahr. Bildete er es sich nur ein, oder fiel es ihm leichter als sonst, Gefühle und Stimmungen seiner Umgebung wahrzunehmen? Dass Danielle total erledigt war, war offensichtlich; man brauchte kein Shaolin sein, um das zu bemerken. Doch Peter hatte den Eindruck, dass ihn Danielles Erschöpfung geradezu ansprang, genauso wie vorher Dr. Sabourins Unbehagen. Die Ärztin hatte nach außen hin genauso gewirkt wie sonst auch – warum Peter sofort gespürt hatte, dass sie sich Sorgen machte, war ihm selbst ein Rätsel. Doch er hatte es gewusst, hatte es ganz klar gefühlt.

Nun, darüber konnte er später nachdenken, wenn er allein war. Momentan hatte er wichtigeres zu tun.

Er ging um sein Auto herum, öffnete die Tür und stieg ein. Danielle hatte die Augen geschlossen, öffnete sie aber mühsam, als er den Wagen startete. "Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit, Peter. Ich habe mich noch gar nicht richtig bei Ihnen bedankt. Es tut mir leid."

"Nein, nein, ich habe Ihnen zu danken. Sie haben mir einen großen Gefallen erwiesen. Das habe ich vorhin nicht nur so dahin gesagt. Mir ist in der Trainingsstunde heute abend einiges klar geworden, und ich würde gerne mit Ihnen gelegentlich mal darüber sprechen. Aber nicht jetzt, Sie sind müde und haben außerdem im Moment genug anderes am Hals. Ruhen Sie sich erstmal aus."

"Wenn Sie meinen..." Danielle schloss die Augen, lehnte sich wieder zurück und genoss es, einmal ausnahmsweise nicht alles selbst machen zu müssen.

Routiniert lenkte Peter den Wagen durch den abendlichen Verkehr. Sie waren schon einige Minuten unterwegs, als Danielle die Augen wieder öffnete. Verwirrt stellte sie fest: "Das ist gar nicht der Weg zu Heathers Schule. Wir sind nur ein paar Straßen von unserem Haus entfernt, die Schule liegt in einer ganz anderen Richtung."

Peter antwortete, leicht verlegen: "Sorry. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, aber ich denke, es ist besser, wenn Sie heute nicht mehr Auto fahren. Wenn es Ihnen recht ist, bringe ich Sie lieber gleich heim, damit Sie sich erholen können. Sie hatten einen schweren Tag. Morgen fahre ich Sie zu Ihrem Wagen; Sagen Sie mir einfach, wann ich Sie abholen soll."

"Ach, Peter, machen Sie sich doch nicht soviel Umstände meinetwegen. Die paar Minuten von der Schule nach Hause schaffe ich schon noch, so müde bin ich auch wieder nicht", widersprach Danielle. "Ihre Arbeit ist stressig genug, da brauchen Sie nicht auch noch mich durch die Gegend kutschieren. Sie haben schon genug Zeit für mich geopfert."

"Das sind keine Umstände, ich tue es gern", versicherte Peter. "Außerdem habe ich momentan mehr freie Zeit als mir lieb ist; ich bin froh, wenn ich sie sinnvoll nutzen kann", fügte er bitter hinzu. Die Worte waren heraus, bevor er es verhindern konnte. Im nächsten Augenblick hätte er sich am liebsten für seine Gedankenlosigkeit geohrfeigt. Was hatte Danielle mit seinen Sorgen zu schaffen? Sie hatte genügend eigene, da musste er nicht auch noch anfangen, ihr etwas vorzujammern.

Ein toller Shaolin bist du! Du sollst anderen helfen, nicht umgekehrt!

Doch für Reue war es zu spät. Danielle warf ihm einen erschrockenen Blick zu. "Was wollen Sie damit sagen, Peter? Ist etwas mit Ihrer Arbeit, haben Sie Probleme?"

Er bemühte sich, halbwegs erfolgreich, um einen leichten Tonfall. "Ich habe gekündigt. Ein Beruf, der mich zwingt, ständig eine Waffe zu tragen, ist unvereinbar mit den Lehren der Shaolin."

"Aber Sie waren doch mit Leib und Seele Polizist!" Danielle schüttelte verständnislos den Kopf. "Was wollen Sie jetzt machen?"

Mittlerweile waren sie bei Danielles Haus angekommen. Erleichtert parkte Peter den Stealth und hoffte, Danielle würde aussteigen, so dass er um die Beantwortung ihrer Fragen herumkäme. Doch sie machte keine Anstalten, sich zu verabschieden, sondern sah ihn einfach mitfühlend und ehrlich interessiert an.

Peter seufzte. "Ehrlich gesagt, ich weiß nicht so recht. Noch nicht. Es ist alles einfach viel zu schnell gegangen... Seit ich fünfzehn bin, hatte ich nur ein Ziel: Polizist zu werden, um anderen helfen zu können. Mehr als mein halbes Leben also. Es wird wohl eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe, nun kein Polizist mehr zu sein. – Aber andererseits wollte ich in erster Linie deshalb zur Polizei, weil ich nach der Zerstörung unseres Tempels glaubte, niemals Shaolinpriester werden zu können. Polizeiarbeit war gewissermaßen nur der bestmögliche Ersatz für ein Leben als Shaolin. Jetzt bin ich einfach nur zu meinen ursprünglichen Plänen zurückgekehrt. Ich muss allerdings noch herausfinden, wie das nun konkret aussehen soll, wie ich als Shaolin anderen am besten helfen kann."

Er zuckte mit den Schultern, fast so wie Caine es immer machte. "Eine erste Herausforderung habe ich jedenfalls schon: mein Vater ist heute nach Frankreich abgereist, ich werde versuchen, ihn so gut wie möglich zu vertreten, solange er in Europa ist."

"Komm nach Chinatown, frag nach Caine, er wird dir helfen", zitierte Danielle.

"Genau. Nur dass es jetzt Peter Caine ist, nicht Kwai Chang Caine."

Danielle sah ihn bewundernd an. "Vom Shaolin Cop zum Shaolinpriester... Alle Achtung – ich weiß nicht, ob ich den Mut aufbrächte, von heute auf morgen auszusteigen und ein völlig neues Leben anzufangen. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, sagen Sie es bitte. Ich würde mich freuen."

"Nun, es gibt schon etwas...", erwiderte Peter spontan und verstummte. Was war nur heute mit ihm los? Jetzt war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, Danielle mit der Idee zu überfallen, die ihm während der KungFu-Stunde gekommen war.

"Ja?"

Als Danielle ihn auffordernd anblickte, blieb ihm nichts anderes übrig, als Farbe zu bekennen. "Sie wissen, dass ich gerne mit Ihren Schülerinnen arbeite. Wenn Sie also mal eine Vertretung brauchen, würden Sie da an mich denken? Heute abend, während des Trainings, wurde mir klar, dass ich auf alle Fälle in dieser Richtung etwas machen möchte. Dass ich KungFu nicht nur für mich allein praktizieren möchte, sondern meine Kenntnisse an andere weitergeben möchte. Ich glaube, mit etwas mehr Erfahrung kann ich ein guter Lehrer werden."

"Ich denke, Sie sind bereits ein recht guter Lehrer. Wenn Sie's mir nicht glauben, fragen Sie meine Klasse."

Danielle strahlte ihn jetzt geradezu an. "Möchten Sie eventuell gleich in dieser Woche meine Stunden übernehmen? Damit wäre uns beiden geholfen. Sie können unterrichten und ich kann mich um Heather kümmern, bis es ihr wieder etwas besser geht. Dr. Sabourin sagte, Heather soll in den nächsten paar Tagen möglichst ihr Bein noch nicht belasten, da möchte ich sie abends nur ungern allein lassen. – Über die Einzelheiten, vor allem das Finanzielle, können wir uns ja in aller Ruhe in den nächsten Tagen unterhalten."

Peter schüttelte den Kopf. "Vergessen Sie das Finanzielle erst einmal. Ich bin froh, wenn ich eine Aufgabe habe. Und außerdem...", fügte er verschmitzt grinsend hinzu, "bieten Shaolin ihre Hilfe stets kostenlos an. Ich mag zwar als Shaolin ein blutiger Anfänger sein, aber das weiß ich."

Danielle wollte protestieren, aber Peter bat sie mit einer Handbewegung, ihn nicht zu unterbrechen. "Nein, nein, Danielle. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr Sie mir heute geholfen haben. Um ehrlich zu sein, ging's mir nicht besonders, ich hatte einen ziemlich bescheidenen Tag. Kennen Sie das Gefühl, vor einem Riesenberg zu stehen und nicht zu wissen, wie Sie ihn bewältigen sollen? So ging's mir heute.

Doch dann haben Sie angerufen, und auf einmal hatte ich etwas Sinnvolles zu tun. Ich wurde gebraucht, wenn auch nur für eine einzige KungFu-Stunde. Das hat mir sehr gut getan. Wenn ich also in den nächsten Tagen Ihre Kurse übernehmen darf, dann will ich auf keinen Fall dafür Geld annehmen, ich käme mir schäbig vor. – Aber ich denke, darüber sollten wir uns in Ruhe unterhalten, nicht gerade jetzt und hier im Auto. Erholen Sie sich erst einmal. Wir sehen uns dann morgen."

"Ok, ich gebe mich geschlagen. Ich muss gestehen, ich bin doch recht müde", gestand Danielle.

Sie verabredeten sich für den nächsten Tag, und Danielle stieg aus. Peter wartete noch so lange, bis sie im Haus verschwunden war, dann drehte er den Zündschlüssel um, startete den Motor und fuhr los.

Auf einmal war er glänzender Laune und hätte die ganze Welt umarmen können.

Was für ein Tag! Erst ein Schlag nach dem anderen, ich habe keine Idee, wie's weitergehen soll – und plötzlich habe ich doch eine neue Aufgabe gefunden, wenn auch nur als Aushilfs-KungFu-Lehrer auf Zeit. Aber es ist ein Anfang. Ein sehr guter sogar. Alles andere wird sich bestimmt auch noch finden...

Vielleicht sollte er doch noch im Delancey's vorbeischauen und mit Jordy den überraschend versöhnlichen Abschluss dieses verrückten Tages feiern?

Ende

 

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