Liebste Granny, es tut mir sehr leid, dass ich so lange nichts von mir hören habe lassen. Bitte verzeih mir! Dafür wird dieser Brief auch ziemlich lange, denn ich habe Dir viel zu erzählen. Aber davon später mehr. Wie geht es Dir? Hast Du Dich schon an die neue Lesebrille gewöhnt? Sind die Kopfschmerzen und der Schwindel verschwunden, die Du anfangs hattest? Was machen Deine Beine, helfen Dir die neuen Gymnastikübungen? Gefallen Dir die CDs, die ich Dir geschickt habe? Ich war mir nicht ganz sicher, ob Du dieses Musical magst, aber ich hoffe es sehr. Ich singe besonders das erste Lied immer sehr gerne, vor allem, wenn ich traurig oder mutlos bin. Es ist so schwungvoll, und die Melodie ist so fröhlich, dass all meine Trübsal fast von selbst vergeht. Leider gab es vor einiger Zeit mehr als genügend Anlässe für mich, das Lied als Therapie einzusetzen. Das ist auch der Grund, weshalb ich Dir nicht geschrieben habe; mir ging's ziemlich elend, und ich wusste nicht, wie ich Dir das Gefühlschaos, in dem ich mich befand, hätte beschreiben sollen. Mach Dir aber jetzt bitte keine Sorgen! Inzwischen geht es mir wieder gut, sehr gut sogar. Besser als vorher. Aber bevor Du weiterliest, liebste Granny, setz Dich bitte hin, schnauf einmal richtig durch, und versuch bitte, Dich nicht allzu sehr aufzuregen. Nachdenklich machte Susan eine Pause. Wie sollte sie ihrer Großmutter am besten beibringen, dass sie ein Kind erwartete und der Vater nicht im Traum daran dachte, sie zu heiraten? Dass auch Susan selbst inzwischen nicht mehr bereit war, eine Partnerschaft oder gar Ehe mit Mike überhaupt in Betracht zu ziehen? Granny war für ihre gut 80 Jahre recht modern, aber in einigen Punkten hatte sie sehr dezidierte Ansichten. Sex vor der Ehe gab es schon immer; auch dafür, dass so manches Paar sehr plötzlich heiraten musste, hatte Granny durchaus Verständnis. So war das Leben halt. Aber ein Kind zu bekommen ohne verheiratet zu sein, war für sie undenkbar, genauso wie die Vorstellung, dass ein junger Mann sich weigerte, das Mädchen zu heiraten, das er 'in Schande' gebracht hatte. Ihrer Meinung nach hatten beide Eltern zu ihrer Verantwortung für das Kind zu stehen, alles andere hatte zurückzutreten. Für Männer, die sich dieser Verantwortung entzogen, fand Granny oft genug harsche Worte. Susan seufzte. Alles Grübeln half nichts, sie musste jetzt Farbe bekennen. Ihre Großmutter hatte ein Recht darauf, alles zu erfahren. Angefangen hat alles vor kurz vor meinem letzten Brief an Dich, als ich mir langsam klar wurde, dass ich ein Kind erwarte. Ja, Granny, Du wirst Uroma! In knapp sechs Monaten ist es soweit. Bitte verzeih mir, dass ich das erst jetzt schreibe, aber ich fand, Mike sollte es als erster erfahren, schließlich ist es ja sein Kind. Ich habe ein paar Tage Zeit gebraucht, um den Schock zu verdauen, war hin- und hergerissen zwischen Freude auf das Baby und Angst vor der Zukunft. Aber inzwischen überwiegt das Glück darüber, dass in mir ein kleiner Mensch heranwächst. Als ich mir darüber klar war, konnte ich es auch Mike sagen. Ich hatte gehofft, dass er sich nach dem ersten Schreck ebenfalls freuen würde, aber er will von dem Baby nichts wissen. Wir haben uns fürchterlich gestritten, und jetzt ist es aus. Ich will ihn nie wiedersehen!!! Ich weiß, dass das für Dich schrecklich sein muss, wenn Deine eigene Enkelin ein uneheliches Kind bekommt, aber bitte versuch mich zu verstehen. Mike hat mich beschimpft und bedroht, und er wollte mich sogar verprügeln. So einen Vater will ich für mein Kind nicht. Dann soll es lieber bei mir allein leben. Geschafft, jetzt war es heraus. Der schlimmste Teil ihrer Beichte war überstanden. Nun musste Susan versuchen, ihre Großmutter so gut wie möglich über ihre Zukunft zu beruhigen. Bevor Du Dir jetzt gleich wieder Sorgen machst – dem Baby und mir geht es gut. In der ersten Zeit war ich natürlich unglücklich, aber das ist inzwischen vorbei. Ich habe eine neue Wohnung gefunden und verstehe mich sehr gut mit meinen Nachbarn. Vor allem meine direkte Nachbarin, Rachel, hat mir von Anfang an sehr geholfen. Sie sagt immer mit einem Augenzwinkern, ich sei ihre Ersatztochter; ihre eigene Tochter ist nämlich vor kurzem nach Florida gezogen, und jetzt hat sie niemanden mehr, den sie umsorgen kann. Also hat sie mich gewissermaßen adoptiert. Sie hat auch schon angeboten, auf das Kind aufzupassen, wenn es denn erstmal da ist. Das alles habe ich einem netten jungen Shaolinpriester zu verdanken, der mir nicht nur die Wohnung vermittelt, sondern mich auch gerettet hat, als Mike mich zusammenschlagen wollte. Er heißt Peter Caine und lebt in Chinatown als Apotheker. Na ja, ich sollte besser sagen Apothekerlehrling, denn er muss noch vieles lernen. Er ist nämlich noch nicht lange Priester, sondern war früher Polizist. Peters Vater ist Shaolin, ebenso sein Mentor, der Ehrwürdige Lo Si – dessen Alter eins der bestgehüteten Geheimnisse in Chinatown ist, ich denke, er ist mindestens 80 Jahre alt – bei dem Peter jetzt alles lernt, was er als Apotheker so wissen muss. Über Peter habe ich inzwischen auch sehr gute Kontakte zur Polizei; er hat mich mit seinen früheren Kolleginnen und Kollegen bekannt gemacht, und wir unternehmen öfter etwas zusammen. Sie sind alle sehr nett. Sogar seine frühere Chefin, Captain Simms. Sie wirkt überaus streng, und im Dienst ist sie das wohl auch. Aber privat ist sie sehr freundlich. Sie hat gleich bemerkt, dass ich schrecklich verlegen war und mich ein wenig gefürchtet habe (Du weißt ja wie schüchtern ich fremden Leuten gegenüber bin), und sie hat mir ganz rücksichtsvoll darüber hinweg geholfen. Dank Peters Freundeskreis komme ich jetzt viel mehr unter Menschen als früher. Mike wollte mich ja immer für sich alleine haben und war sehr eifersüchtig, so dass ich ganz selten etwas ohne ihn unternommen habe. Aber nun habe ich nicht nur viele neue Freunde, die mich sehr unterstützen; nein, auch mein Selbstbewusstsein ist gewachsen. Wenigstens ein bisschen. Na ja, als angehende Mutter brauche ich das auch; ich bin immerhin jetzt für einen anderen Menschen verantwortlich, da darf ich nicht mehr so schüchtern sein und muss lernen, mich durchzusetzen. Gestern bin ich ganz alleine ins Kino gegangen und habe mir danach noch Stück Kuchen im Café nebenan gegönnt. Das war gar nicht so schwer, und ich habe es sehr genossen. Früher hätte ich mich entweder nicht getraut oder mir ständig überlegt, ob Mike deswegen einen Streit mit mir anfängt. Aber jetzt brauche ich keine Angst mehr vor seiner Missbilligung zu haben, und auf einmal macht es mir Spaß, unter die Leute zu gehen. Neulich war ich sogar... Susan hielt inne. Eigentlich hatte sie von ihrer Verabredung mit Nicky erzählen wollen, als sie zuerst essen waren (zur Abwechslung einmal ohne dass der vermaledeite Piepser sich meldete) und Nicky sie dann nach Hause gebracht hatte. Doch plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, vorerst noch nichts über ihre Freundschaft mit dem liebenswerten, manchmal etwas unbeholfenen Gerichtsmediziner zu schreiben. Dass aus der vorsichtigen Annäherung zweier schüchterner junger Menschen inzwischen mehr geworden war als reine Freundschaft, hätte sie ohnehin noch nicht erwähnt. Erst recht nicht, dass Nicky sie zum Abschied geküsst hatte – richtig geküsst, nicht nur ein braves Küsschen wie sonst – und dass es ihr sehr gefallen hatte. Das war ihr kleines Geheimnis, und außerdem wollte sie ihre Großmutter auf keinen Fall unnötig schockieren. Die Nachricht von dem Baby war schon aufregend genug. Wie sollte sie jetzt den angefangenen Satz zu Ende führen? Nach kurzem Überlegen schrieb Susan weiter: … mit Peter und seinem Patenkind Jamie beim Schlittenfahren, als Jamies Mutter ausnahmsweise mal am Samstag vormittag arbeiten musste. Mary arbeitet bei einem Rechtsanwalt, und alle paar Monate kann es vorkommen, dass Terminsachen auch am Samstag erledigt werden müssen. Aber Jamie ist erst drei, er kann also noch nicht alleine zuhause bleiben. Wir hatten viel Spaß zusammen. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr beim Schlittenfahren gewesen, ich wusste gar nicht mehr, wie lustig das sein kann! Wir haben sogar eine Schneeballschlacht gemacht und einen kleinen Schneemann gebaut. Jamie war einfach goldig in seinem Eifer! Wenn ich mir dann vorstelle, dass ich in ein paar Jahren auch mit einem solchen Knirps einen Schneemann bauen kann, dann wird mir ganz anders... Liebste Granny, ich hoffe, Du hast beim Lesen keinen allzugroßen Schock bekommen. Bitte versuch, mich zu verstehen und mach Dir keine Sorgen um mich. Ich lasse sobald wie möglich wieder etwas von mir hören. Ich hab Dich lieb. Deine Susan Mit einem tiefen Seufzer beendete Susan den Brief, las ihn noch einmal durch und steckte ihn in den Umschlag. Ihre Gedanken gingen noch einmal zum letzten Wochenende zurück, als sie mit Peter und Jamie unterwegs gewesen war. Es stimmte, sie hatte einen ausgesprochen vergnügten Vormittag erlebt. Doch in ihr kam immer wieder ein wenig Wehmut auf, wenn sie Peter und Jamie zusammen beobachtete. Es war klar zu sehen, dass Peter den kleinen Schelm genauso liebte wie der Junge ihn. Wer die beiden nicht kannte, hätte sie sofort für Vater und Sohn gehalten; dabei waren sie nicht verwandt miteinander. Wie sehr wünschte Susan sich, dass auch ihr Kind einen liebevollen Ersatzvater hätte, wie Peter es war! Wenn sie ehrlich war, kam ihr dabei immer das Bild eines überbeschäftigten, leicht schusseligen Gerichtsmediziners in den Sinn. Ob Nicky Kinder mochte? Langsam, Susan, mach nicht den zweiten Schritt schon vor dem ersten!, ermahnte sie sich. Du weißt doch noch nicht einmal, ob sich aus eurem gegenseitigen Interesse wirklich eine tiefere Beziehung 'mit allem Drum und Dran' entwickelt. Lass es langsam angehen, du hast gerade ein katastrophales Verhältnis beendet, sei erstmal froh, dass du jetzt dein Leben halbwegs wieder auf die Reihe gebracht hast, und stürz dich nicht Hals über Kopf in eine neue Beziehung. Und vor allem, gib Nicky Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass du nur im Doppelpack zu haben bist oder gar nicht. Nicht jeder Mann mag das Kind eines Anderen als "Zugabe". Und dennoch – das Bild wollte nicht mehr aus Susans Kopf. Ein wenig träumen war schließlich erlaubt, oder nicht? Ende
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