Konzentriert mischte Peter Caine Blätter verschiedener Heilpflanzen zusammen für einen Kräutertee. Kurz zuvor war der letzte Patient gegangen, auch Lo Si hatte sich verabschiedet. Feierabend! Jedenfalls fast – zuerst wollte er noch die Teemischung für seine "Mieterin", Susan Barnaby, herstellen und ihr vorbeibringen. Sie hatten am Vormittag miteinander telefoniert; dabei hatte Susan erwähnt, dass sie nicht mehr allzuviel Tee hatte und ihn schüchtern gefragt, ob er in der nächsten Zeit vielleicht eine neue Ration der Mischung für sie herstellen könne. Sie würde den Tee dann in den nächsten Tagen abholen, wenn es Peter recht sei. Da Susan kein Auto hatte und außerdem mit ihrem Gesangsunterricht und ihrer Tätigkeit als Garderobiere (sie arbeitete in einem kleinen Musicaltheater, um ihre Ausbildung zu finanzieren) ziemlich eingespannt war, kam das für Peter natürlich nicht in Frage. Noch leistete er sich seinen Stealth, auch wenn es für einen Shaolin ziemlich ungewöhnlich war, einen Sportwagen zu besitzen; also konnte er ohne weiteres bei Susan vorbeifahren und ihr den frisch hergestellten Tee bringen. Gesagt, getan. Als die Teemischung fertig war, machte Peter sich gleich auf den Weg. Als er an dem Hochhaus ankam, in dem bis vor kurzem noch gewohnt hatte, fuhr er der Einfachheit halber in die Tiefgarage und parkte auf dem Stellplatz, der zu seinem Apartment gehörte. Da Susan den Stellplatz ja nicht brauchte, hatten sie vereinbart, dass Peter ihn jederzeit benutzen konnte, wenn er sie besuchte. Peter nahm den Aufzug nach oben, ging den Gang entlang zu seiner früheren Wohnung und klingelte. Eilige Schritte näherten sich, Susan öffnete die Tür und sagte im selben Atemzug: "Sorry, Nicky, ich bin noch nicht ganz..." Sie unterbrach sich, als ihr bewusst wurde, dass nicht der junge Gerichtsmediziner, sondern Peter vor ihr stand und wurde knallrot. "Oh, hallo, Peter. Entschuldige, ich habe gar nicht mit dir gerechnet, ich habe gedacht, du wärst Nicky. Komm doch bitte herein." "Nein, nein, ich bin gleich wieder weg, ich wollte dir nur deine Teemischung vorbeibringen," widersprach Peter. "Wow, du siehst toll aus! Das Kleid steht dir hervorragend. Nicky ist zu beneiden. Ich wünsche euch einen schönen Abend, viel Spaß!" Bevor Susan etwas entgegnen konnte, hatte er ihr die Tüte mit dem Tee in die Hand gedrückt und sah zu, dass er wegkam, bevor Susan sein amüsiertes Grinsen bemerkte, das er nicht unterdrücken konnte. So, so, Susan und Nicky... Habe ich mich gestern doch nicht getäuscht! Da haben sich ja die beiden richtigen gefunden, einer schüchterner als der andere. Na ja, wenn ich's mir so überlege – warum eigentlich nicht? Die beiden haben sich schließlich bei meiner Party auf Anhieb ausnehmend gut verstanden, und Nick passt bestimmt gut zu Susan. Besser jedenfalls als dieser gewalttätige Typ, dieser Mike, der immer noch von seinem Kind nichts wissen will, aber einen auf beleidigt macht, weil Susan es gewagt hat, ihn deswegen zu verlassen. Immer noch grinsend, stieg Peter in sein Auto und kehrte zu dem alten Backsteingebäude zurück, in dem bis vor wenigen Wochen sein Vater noch gewohnt hatte, und in dem er selbst inzwischen lebte und arbeitete. Während der Fahrt dachte er an sein Erlebnis vom Vortag zurück, als er Nicky in der Eingangshalle der Gerichtsmedizin getroffen hatte. Er hatte einen jungen Mann aus der chinesischen Gemeinde begleitet, der die Leiche seiner vermissten Schwester identifizieren sollte. Glücklicherweise hatte sich herausgestellt, dass die unbekannte Tote nicht seine Schwester war; allerdings folgte der ersten Erleichterung schon bald die Erkenntnis, dass das Warten und damit das Bangen und Hoffen weiterging. Zudem setzte die natürliche Reaktion auf den Anblick einer übel zugerichteten Leiche ein, was zur Folge hatte, dass Peter längere Zeit in der Eingangshalle darauf warten musste, dass sein Schützling den Waschraum wieder verließ. * * * Flashback * * * Um sich die Zeit zu vertreiben, betrachtete sich Peter die Bilder, die in der Halle aufgehängt waren. Solange er auf dem 101. gearbeitet hatte, hatte er es immer eilig gehabt und nie wirklich darauf geachtet, wie die Halle genau aussah. Doch nun hatte er genügend Zeit dafür. Gerade fragte er sich kopfschüttelnd, was der Sinn eines 'Gemäldes' aus lauter bunten Klecksen sein sollte, als er hörte, wie hinter ihm die Drehtür am Eingang ging. Er drehte sich um und sah, wie Nicky Elder das Gebäude betrat, mit leicht entrücktem Gesichtsausdruck und einem seligen Lächeln auf den Lippen. Peter glaubte, eine Frau die Treppe zur Straße hinuntergehen zu sehen. Er konnte gerade noch einen Blick auf rotblonde Locken und einen Mantel erhaschen – der so ähnlich aussah wie Susans selbstgenähter Wintermantel – als die Unbekannte auch schon aus seinem Blickfeld verschwunden war. Er ging auf Nicky zu, der ihn überschwenglich begrüßte: "Hey, Pete, schön dich mal wieder zu sehen, wie geht's dir? Was machst du denn hier? Wolltest du mich besuchen kommen? Oder – sag bloß, du hast dem Apothekerdasein schon den Rücken zugekehrt und bist wieder beim 101.?" "Nein, das ist endgültig vorbei. Ich habe nur einen Bekannten begleitet." Er deutete auf den Waschraum. "Ah, verstehe." Nicky nickte wissend. "Dumme Sache, wenn man's nicht gewohnt ist, so wie unsereins. Schlägt den meisten voll auf den Magen. Gerade beim ersten Mal. Äh, ich meine..." Er verstummte, ein wenig verlegen. "Ja, ich weiß was du meinst. – Hast du heute Spätschicht?" "Nein, wieso? Ach so, weil ich jetzt erst komme? Nein, ich hatte nur gerade Mittagspause und bin ein bisschen rausgegangen, du weißt schon, eine Kleinigkeit essen und einen Spaziergang um den Block. George hat solange die Stellung gehalten." Peter glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. "DU machst Mittagspause? Und gehst auch noch raus? Das kann nicht sein, du sitzt doch immer nur in deinem Kabuff und schreibst Autopsieberichte oder schnippelst an Leichen rum..." Empört entgegnete Nicky: "Ja, ja, mach nur Witze über mich – wer will denn immer den vorläufigen Bericht am besten noch bevor die Leiche eingeliefert wird? Du und deine Kollegen, oder halt Ex-Kollegen jetzt. Aber dass ein armer Gerichtsmediziner auch mal ein bisschen frische Luft und Erholung braucht, auf den Gedanken kommt ihr wohl nicht." Noch während er das sagte, fiel Peter ein kleiner, ein wenig verwischter roter Fleck an Nickys hellem Schal auf, der verdächtig nach einer frischen Lippenstiftspur aussah. Fast so, als hätte sich jemand an Nickys Schulter gelehnt und dabei versehentlich den Schal berührt. Nanu – sollte Nicky etwa gerade ein Rendezvous gehabt haben? Das würde die Mittagspause außer Haus erklären. Auf der anderen Seite käme es einem Wunder gleich, denn seit Peter den jungen Gerichtsmediziner kannte, versuchte dieser erfolglos, bei einer Frau zu "landen", wie er es ausdrückte. Doch selbst wenn sein Beruf die Damenwelt nicht in die Flucht schlug, schaffte es todsicher seine Nervosität, die er meist durch viel zuviel Reden zu überspielen versuchte. Er redete sich buchstäblich um Kopf und Kragen, jedenfalls was seine Chancen beim weiblichen Geschlecht anging. Nun, sollte es diesmal wirklich anders sein, würde Peter es ihm von Herzen gönnen. "Tut mir leid, ich wollte dich nicht ärgern, du hast ja vollkommen recht." Glücklicherweise war Nicky schnell wieder besänftigt. Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis Peter seinen Schützling auftauchen sah und sich verabschiedete. * * * Ende Flashback * * * Nach einem Einkaufsbummel in Chinatown und einem guten Abendessen machte Peter es sich auf dem Bett bequem und schaltete den Fernseher ein, eines der wenigen elektrischen Geräte, das er sich aus seiner alten Wohnung mitgebracht und nicht im Stockwerk unter der Apotheke eingelagert hatte. Doch heute wollte sich die ersehnte Entspannung partout nicht einstellen. Er zappte durch die Programme, konnte sich aber nicht für eines entscheiden. Nicht einmal die Sportsendung interessierte ihn, auf die er beim Herumschalten gestoßen war. Eine unerklärliche innere Unruhe machte sich in ihm breit und hinderte ihn daran, sich auf die Übertragung des Eishockeyspiels zu konzentrieren. Nach kurzer Zeit gab er entnervt auf und schaltete den Fernseher wieder aus. Vielleicht fand er heraus, was ihn so beunruhigte, wenn er ein wenig meditierte? Kurz entschlossen stand er auf, ging in den Meditationsraum hinüber und ließ sich dort auf dem Boden nieder. Er befreite seinen Geist von allen störenden Gedanken und versuchte seine Mitte zu finden. Wider Erwarten gelang es ihm sofort. Nur wenig später keuchte er entsetzt und sprang auf. Er wurde dringend gebraucht – jetzt gleich, in diesem Moment! Er musste sich beeilen, sonst war es zu spät! Hoffentlich kam er noch rechtzeitig! * * * Nicky und Susan verbrachten einen wunderschönen Abend in einem neu eröffneten indischen Lokal. Keiner von beiden hatte bisher schon einmal indisch gegessen, die indische Küche stellte also komplettes Neuland dar. Begeistert stellten sie fest, dass das Restaurant ein kaltes und warmes Buffet anbot, so dass sie also viele verschiedene Gerichte probieren konnten. Sie taten es ausgiebig und mit Genuss, doch irgendwann waren sie satt, und Nicky brachte Susan heim. Wie immer parkte er in der Nähe und brachte sie bis zur Haustür. An diesem Abend musste er ein wenig wei¬ter entfernt parken, doch das machte ihm überhaupt nichts aus. Er genoss es unsagbar, schweigend mit Susan durch die kalte, sternklare Winternacht zu spazieren und ihre Hand in seiner zu fühlen. Seine sonstige Nervosität war in ihrer Gegenwart wie weggefegt (außer wenn er sich wieder einmal fragte, ob er es wagen konnte, Susan ein wenig näher zu kommen – da brach ihm schnell wieder der Angstschweiß aus, weil er sie auf der einen Seite nicht verschrecken wollte, auf der anderen jedoch liebend gerne ein bisschen "mehr" von ihr haben würde.) Er hätte stundenlang weitergehen mögen, doch viel zu schnell waren sie am Ziel angelangt. Nun musste er sich wohl oder übel verabschieden. Er nahm sie in die Arme und sagte schweren Herzens: "Da wären wir also. Auf Wiedersehen, Susan. Vielen Dank für den wunderbaren Abend. Ich bin so gern mit dir zusammen, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich das genieße. Und heute war es ganz besonders schön. Ich... ich bin sehr, sehr glücklich, wenn du bei mir bist." Er sah tief in ihre strahlenden blauen Augen und meinte (nicht zum ersten Mal), darin weit mehr als Zunei¬gung erkennen zu können sowie die Bereitschaft, in ihrer Beziehung wieder einen kleinen Schritt weiter¬zugehen. Konnte er es wagen, ihr endlich zu sagen, wie sehr sie ihn verzauberte, dass er sich nichts sehnlicher wünschte und und erträumte, als dass sie ein Paar wurden? Oder war es doch noch zu früh? Um nichts in der Welt wollte er Susan durch zu forsches Vorgehen verschrecken. Und doch... O Gott, Nicky, du bist ein solcher Idiot! Warum um Himmels willen sagst du jetzt nichts??? Susan hat doch beim letzten Mal deinen Abschiedskuss bereitwillig erwidert, bevor du so fluchtartig davongerannt bist, sie schien es doch zu genießen. Und heute bekommst du Stoffel den Mund wieder nicht auf. Wieviel Ermutigung brauchst du eigentlich noch, du Esel? Eine sanfte Berührung an seiner Wange brachte ihn wieder zurück in die Wirklichkeit. Susan sah ihn mit einem wissenden, etwas traurigen Lächeln an. "Ich bin auch sehr glücklich, wenn ich mit dir zusammen bin. Ich möchte dich am liebsten dauernd um mich haben. Aber ich möchte jetzt nichts überstürzen und es lieber langsam angehen lassen. Ich bin dir sehr dankbar, dass du so geduldig bist. Ich... ich... es tut mir leid, ich muss die Zeit mit Mike erst vollständig hinter mir lassen, bevor ich wirklich bereit für eine neue Beziehung bin. Sonst... sonst ist das unfair dir gegenüber. Verstehst du das?" Eine Welle der Erleichterung schwappte über Nicky. Er hatte es doch nicht ruiniert! Wie gut, dass er doch den Mund gehalten und seine Liebeserklärung nicht vom Stapel gelassen hatte! Hastig versuchte er, Susan zu beruhigen. "Ja, ja, natürlich. Nimm dir alle Zeit der Welt! Ich... ich möchte ungeheuer gerne mit dir zusammen sein, aber ich will dich nicht bedrängen, keinesfalls, äh, ich meine, natürlich möchte ich so schnell wie möglich eine richtige Beziehung mit dir, mit allem Drum und Dran, aber ich verstehe sehr gut, dass..." Susans Lippen auf den seinen brachten ihn zum Schweigen, bevor er weiteren Unsinn von sich geben konnte. * Er wollte gerade um die Ecke biegen, als sich ein Schatten aus einem Hauseingang löste. Ein massiger, finster dreinschauender Mann kam auf ihn zu und versperrte ihm den Weg. Nicky wurde nervös. Er versuchte, um den Unbekannten herum zu gehen, doch der lachte nur höhnisch und baute sich direkt vor dem viel schmächtigeren Nicky auf. Damit war klar, dass der Riese es auf ihn abgesehen hatte. Wollte er ihn ausrauben? Oder hatte er gar Schlimmeres vor? Er versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken und sah sich möglichst unauffällig um. Die Straße war menschenleer. Nicky schluckte. Jetzt wären Kenntnisse in Selbstverteidigung hilfreich. Oder wenigstens ein Shambhalameister, der als Deus ex machina erschien, um ihm beizustehen und den bösen Buben zu vertreiben. Wie oft hatte Peter sich darüber beschwert, dass sein Vater immer versuchte, seinem Sohn alle Steine aus dem Weg zu räumen und ihm so das Gefühl gab, nichts alleine tun zu können. Da hätte ich jetzt absolut überhaupt nichts dagegen, von mir aus dürfte er mir gerne diesen Stein, äh Typen, hier aus dem Weg räumen. Aber Caine ist ja dummerweise nicht im Land, sondern irgendwo in Europa unterwegs! Was mache ich jetzt nur??? Sein Gegenüber lachte höhnisch. "Schau dich nur um. Da ist niemand, wir zwei sind ganz ungestört und können uns in aller Ruhe unterhalten. Lass dir das gesagt sein, du Zwerg: niemand nimmt mir ungestraft meine Freundin weg!!! Ich hab euch beide beim Knutschen beobachtet, und jetzt bekommst du die Quittung dafür! Ich mach dich fertig!" Lähmende Eiseskälte machte sich in Nicky breit. Das musste Susans Ex-Freund sein, dieser Mike, von dessen Brutalität er schon so einiges gehört hatte! "Hören Sie, wir können doch..." Weiter kam er nicht, denn Mike versetzte ihm einen Fausthieb ins Gesicht, der ihn taumeln ließ. Gefolgt von einem zweiten. Einem dritten, diesmal in den Bauch. Er knickte ein. Ein weiterer Schlag ließ ihn zu Boden gehen. Während der rasende Ex-Liebhaber weiter auf ihn einprügelte, versuchte er sich einzurollen und so gut wie möglich zu schützen. Doch ihm war schmerzhaft klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er das Bewusstsein verlor und dann entweder im Krankenhaus wieder aufwachte oder bei seinen Kollegen auf dem Seziertisch landete. Wie durch Watte nahm er wahr, dass die Tritte und Schläge plötzlich aufhörten. Hatte der Wahnsinnige jetzt genug? Inzwischen war ihm das fast schon egal, er wollte eigentlich nur noch in Ruhe ohnmächtig werden, ein seltsames Gefühl der Wurstigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Da spürte er, wie ihn zwei Hände sanft auf den Rücken rollten, ihn abtasteten, über sein Gesicht strichen. Schließlich fasste jemand seine rechte Hand und hielt sie fest. Wohltuende, belebende Wärme breitete sich in seinem ganzen Körper aus, ausgehend von seiner Hand, die immer noch festgehalten wurde. "Nicky! Nicky, komm schon, Junge, mach die Augen auf!" Die Stimme kam ihm bekannt vor. Sie war seltsam drängend. Hypnotisch. Unwiderstehlich. Wie von selbst hoben sich seine Lider, er blickte in ein verschwommenes Gesicht, dessen Konturen nach und nach schärfer wurden. Haselnussbaune Augen musterten ihn besorgt. "Peter! Was...?" "Gott sei Dank, du bist wieder da! Ich hatte schon Angst, du driftest noch weiter ab. Bleib ruhig liegen, Polizei und Notarzt sind schon unterwegs, du wirst gleich anständig versorgt werden." "Danke." Nicky versuchte, sich aufzusetzen, doch ein plötzlicher stechender Schmerz ließ ihn sofort wieder innehalten. "Autsch!... Wieso... wieso bist du hier?" Peter zuckte mit den Schultern, fast so wie sein Vater es immer tat. "Shaolininstinkt... Ich war dummerweise nicht schnell genug, das tut mir sehr leid." "Keine Ursache... Was... was ist mit...?" "… deinem Angreifer? Den hab ich schlafen geschickt, der wird erst in der Zelle wieder zu sich kommen." "Gut." "Er hat sich Susan wieder genähert, obwohl es ihm durch eine richterliche Verfügung verboten worden war. Damit bleibt er jetzt wohl eine ganze Weile hinter Gittern." "Gut... Also ist Susan...", er stöhnte, "… jetzt wirklich sicher vor ihm? Dann... dann war... es das wert." Er versuchte zu grinsen, doch das misslang kläglich. Peter mahnte sanft: "Sch... nicht reden. Streng dich nicht zu sehr an." In der Ferne waren die Sirenen des Rettungswagens und der Polizei zu hören. Nicky meinte, noch nie ein so angenehmes Geräusch vernommen zu haben. Doch fing die Welt an, sich zu drehen und es wurde schwarz um ihn. Als der Notarztwagen endlich eintraf, war er bereits wieder ohnmächtig. * * * Er erwachte, weil jemand vorsichtig seine Hand ergriff und festhielt. Dann strich etwas behutsam über seine Stirn, leise, zart, wie ein Frühlingshauch. Susan? Mit einiger Mühe schaffte er es schließlich, seine Lider zu heben, und er sah direkt in Susans blaue Augen, in denen Tränen schwammen und die mit einem undefinierbaren Ausdruck auf ihn herabblickten. "Hallo Nicky, wie geht es dir? – O mein Gott, das ist alles meine Schuld, es tut mir so unsagbar leid!", brach es aus ihr heraus. "Wie fühlst du dich?" "Wenn du hier bei mir bist, blendend", versuchte er zu scherzen. Sogar ein schiefes Grinsen brachte er zustande, obwohl er das Gefühl hatte, es gebe keine einzige Stelle an seinem Körper, die ihn nicht schmerzte. Doch dann drang in sein etwas vernebeltes Bewusstsein, was Susan gerade gesagt hatte, und er runzelte verständnislos die Stirn. "Was soll deine Schuld sein?" "Ach du dummer, lieber Nick, das ist doch wohl klar. Wenn ich nicht mit dir befreundet wäre, hätte Mike dich nie und nimmer zusammengeschlagen, sondern dich in Ruhe gelassen. Also bin ich daran schuld, dass du hier im Krankenhaus liegst." Sie wandte den Blick ab, betrachtete angelegentlich ihre Hände, die seine losgelassen hatten und nun nervös an der Bettdecke herumfingerten. "Und wer weiß, was sonst noch passiert wäre, wenn Peter nicht rechtzeitig dazwischen gegangen wäre. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie schlimm Mike dich verletzen hätte können. Und alles bloß meinetwegen! Kannst du mir das jemals verzeihen?" "Hey", er nahm ihre Hand in die seine. "Bitte schau mich an, Susan." Er wartete, bis sie sich ihm wieder zugewandt hatte, dann fuhr er fort: "Es gibt nichts zu verzeihen. Du kannst absolut nichts dafür, dass dein Ex eine Schlägertype ist, das ist ganz allein seine Schuld. Bitte mach dir keine Vorwürfe deswegen." "Das sagst du so leicht! Mike ist schließlich mein Ex-Freund, nicht deiner." Eine verlegene Pause trat ein. Nicky wusste ausnahmsweise einmal nicht, was er darauf erwidern sollte, und wartete darauf, dass Susan fortfuhr. "Als Peter mir heute früh erzählt hat, was passiert ist, dachte ich im ersten Moment, ich sterbe. Dass du verletzt bist, hat mir erst so richtig bewusst gemacht, wieviel du mir jetzt schon bedeutest. Obwohl wir uns erst seit kurzem kennen. Und die Vorstellung, dass ich es war, die dich erst in diese Lage gebracht hat – das war schrecklich." Sie sah ihm ernst in die Augen. "Wenn du mich nach gestern Nacht überhaupt noch haben willst, dann... dann... ich glaube, ich würde das mit dem 'langsam angehen lassen' doch lieber sein lassen..." Was war das? Hatte er sich da verhört? Ungläubig und mit offenem Mund starrte er Susan an, bis ihm bewusst wurde, welch komischen Anblick er da bieten musste. Er klappte den Mund wieder zu, um gleich darauf überglücklich hervorzusprudeln: "Meinst... meinst du das ernst? Oh Susan, natürlich will ich dich, heute genauso wie gestern, nein, mehr denn je! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich dir das schon sagen wollte, aber ich hab mich nie getraut, weil ich dich nicht verschrecken wollte, und dabei hat es mich fast umgebracht, den Mund halten zu müssen. O Mann, du bietest mir die Erfüllung all meiner Träume an und fragst auch noch, ob ich das wirklich will, ach Susan..." Sie legte ihm lachend den Finger auf die Lippen. "Nicky." Er brach ab und errötete beschämt. Verflixt! Konnte er das nervöse Dauerfaseln nicht endlich lassen? Seltsamerweise schien es Susan gar nicht zu stören; sie verstand, was er in Wirklichkeit sagen wollte. "Doch. Ich hab es dir angesehen; du wolltest mir schon mehrmals etwas sagen und hast dann doch geschwiegen. Auch gestern abend, nicht wahr?" "Ja. Ich hab mich einfach nicht getraut – aber jetzt traue ich mich." Er zog sie zu sich und küsste sie. Sie schmusten und turtelten, so gut es Nickys zahlreiche Blutergüsse und Schwellungen zuließen, und flüsterten sich all den zärtlichen Unsinn ins Ohr, den frisch Verliebte gerne von sich geben, bis Nicky plötzlich zu lachen anfing. Auf Susans verwunderten Blick hin erklärte er: "Ich glaube, wenn dein Ex mir gestern nicht aufgelauert hätte, dann wären wir in unserer Schüchternheit noch bis in alle Ewigkeit umeinander herumgeschlichen. So gesehen, muss ich ihm glatt dafür dankbar sein, dass er mich verprügelt hat. – Was meinst du, sollen wir ihm einen Dankesbrief ins Kittchen schicken?" Die Vorstellung erheiterte beide, doch dann wurde Susan schnell wieder ernst. "Der einzige, bei dem wir uns bedanken müssen, ist Peter. Schließlich hat er dich gerettet. – Und er hat meinen hysterischen Anfall überlebt, der Arme. Er hat mir so schonend wie möglich beigebracht, dass du hier im Krankenhaus bist und dass du hauptsächlich Prellungen und Blutergüsse hast und keine wirklich schlimmen Verletzungen, aber ich bin fast ausgeflippt. Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist. Das müssen wohl die Hormone sein, angeblich sollen schwangere Frauen ja sehr nah am Wasser gebaut sein. Es war mir jedenfalls nachher schrecklich peinlich." Sie errötete. "Ach, das wird er überleben, sowas ist er gewohnt. Als Cop hat er ganz andere Sachen mitgemacht", stellte Nicky herzlos fest. Er gähnte verstohlen, doch Susans aufmerksamen Augen entging nichts. "Ich glaube, ich sollte mich jetzt besser verabschieden und dir etwas Ruhe gönnen. Ich komme heute Nachmittag wieder, nach der Gesangsstunde. Da hab ich ein bisschen Zeit, bevor ich zur Arbeit muss." Sie küsste ihn ein letztes Mal und wandte sich dann zum Gehen. "Bis später also. Ich hab dich lieb." "Ich dich auch." War das Leben nicht schön? Ende
|
zurück zum Autoren Index zurück zum Story Index
|