Autor: Turandot
 

Gut gelaunt deckte Susan Barnaby die Kaffeetafel in ihrer neuen Wohnung. Nun ja, streng genommen war es weder eine Kaffeetafel – seit sie schwanger war, vertrug sie nur noch Wasser, säurearme Säfte und Kräutertee – noch ihre eigene Wohnung.

Sie gehörte einem Freund, dem Shaolinpriester Peter Caine, dem Susan drei Wochen zuvor bei einem Schwächeanfall auf offener Straße buchstäblich vor die Füße gefallen war. So peinlich ihr das zuerst gewesen war, im Nachhinein betrachtete sie ihre kurze Ohnmacht als glückliche Fügung des Schicksals.

Denn Peter hatte sich nicht damit begnügt, ihr Erste Hilfe zu leisten, sondern hatte sie kurzerhand als Schützling 'adoptiert'. Er hatte sofort bemerkt, dass es ihr nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ziemlich elend ging, und hatte sie mit sanftem Nachdruck und viel Geduld dazu ermutigt, von sich zu erzählen und ihm ihre verfahrene Situation zu schildern.

Nicht aus Neugier, sondern weil er ihr wirklich helfen wollte.

Susan hatte sich zunächst dagegen gesträubt. Sie wollte nicht dass er um sie solch ein Aufhebens machte, wollte ihn nicht mit ihren Sorgen belasten. Aber dann gab sie nach, denn sie spürte, dass es ihm wirklich ein Bedürfnis war. Der Drang zu helfen und ein starker Beschützerinstinkt waren ebenso ein Teil seiner Persönlichkeit wie seine scharfe Beobachtungsgabe und seine starke Ausstrahlung. So war Peter eben.

Kurz entschlossen überließ der junge Priester ihr sein eigenes Apartment und stand ihr auch gegen ihren rabiaten Ex-Freund Mike bei, der nicht verkraftete, dass Susan ihn verlassen hatte. Als Mike ihr vor Peters Apartment auflauerte und sie massiv bedrohte, halfen Peter und sein früherer Kollege Kermit ihr, beim zuständigen Amtsgericht eine einstweilige Verfügung zu beantragen, die Mike untersagte, sich ihr zu nähern.

Seitdem blühte Susan richtig auf. Erst seitdem sie sich aufgrund des Gerichtsbeschlusses wieder sicher fühlte, wurde ihr bewusst, welche Angst sie vorher ausgestanden hatte. Aber das lag nun hinter ihr; inzwischen konnte sie wieder optimistisch in die Zukunft schauen.

Gewiss, an ihrer Situation hatte sich rein äußerlich wenig geändert. Sie verdiente keinen Cent mehr als früher, hatte immer noch keine bezahlbare Wohnung gefunden und keine Ahnung, wie sie Arbeit, Gesangsausbildung und Familie vereinbaren sollte, war das Kind erst einmal auf der Welt.

Aber sie war nicht mehr allein mit ihren Sorgen, sondern hatte viele neue Freunde gefunden, die ihr – jeder auf seine Art – aus ihrem Tief herausgeholfen hatten.

An erster Stelle natürlich Peter. Ihm hatte sie das alles zu verdanken; sie würde ewig in seiner Schuld stehen, auch wenn er davon überhaupt nichts hören wollte. "Das ist doch selbstverständlich. Deshalb bin ich ja Shaolin geworden, ich freue mich wenn ich helfen kann", war seine einzige Antwort, wenn sie versuchte, ihm zu danken.

Auch Peters Lehrmeister, der Ehrwürdige Lo Si, hatte ihr sehr geholfen. Er hatte für Susan ein pflanzliches Heilmittel hergestellt, das ihre Kreislaufbeschwerden und ihre Schlafstörungen fast vollständig zum Verschwinden brachte. Seit sie abends regelmäßig Tee aus seiner speziell für sie zusammengestellten Kräutermischung zubereitete, schlief sie tief und fest bis zum Morgen. Sie war auch kein einziges Mal mehr ohnmächtig geworden, und ihre ständige Übelkeit war inzwischen auf ein erträgliches Maß zurückgegangen.

Mit ihrer Wohnungsnachbarin, einer netten älteren Dame, hatte sich Susan auf Anhieb gut verstanden. Rachel kam öfter mal auf ein Plauderstündchen vorbei, wenn Susan dienstfrei hatte. Sie gab offen zu, dass sie es genoss, Susan ein wenig unter die Arme zu greifen und sie hin und wieder auch ein bisschen zu bemuttern, denn Rachels eigene Tochter war vor kurzem aus beruflichen Gründen nach Florida gezogen. Dabei war sie jedoch so zurückhaltend und verständnisvoll, dass Susan sich nicht bevormundet fühlte, sondern liebevoll umsorgt wusste.

Und vor einer Woche hatte sie nun endlich Peters Familie und Freunde kennengelernt. Susan lächelte, als sie an diesen Abend dachte, der ganz anders verlaufen war als Peter sich das vorgestellt hatte. Eine kleine gemütliche Einweihungsparty hatte es werden sollen, bei der jeder Gast statt eines Geschenks eine Kleinigkeit zu essen oder trinken mitbringen würde.

Doch da hatte Peter die Rechnung ohne den Wirt – sprich Lo Si und Kermit – gemacht. Die beiden hatten sich abgesprochen und die Gäste vorab 'geimpft', so dass alle eine Überraschung für Peter dabei hatten, die sie mit einer kleinen Darbietung oder einer Anekdote überreichten.

Dabei war durchaus nicht immer klar, was sehenswerter war – die Präsentation des Geschenks oder Peters verblüffte Miene, dem ein ums andere Mal die Kinnlade herunterfiel...

*** Flashback ***

Wahre Lachsalven erzeugte Jodys Auftritt. Sie hatte Peter ein Lotterielos und eine Packung Wäscheklammern mitgebracht und erzählte der gespannt lauschenden Gesellschaft, wie ein Dieb drei Jahre zuvor Peters Brieftasche gestohlen, das Bargeld entnommen und die Brieftasche dann in einer Mülltonne entsorgt hatte. Da sich in besagter Brieftasche ein Lotterielos befunden hatte, das der Ehrwürdige Lo Si Peter zur sicheren Aufbewahrung anvertraut hatte, war dem jungen Cop nichts anderes übriggeblieben, als schimpfend und fluchend in die Mülltonne zu klettern und sie zu durchsuchen, bis er seine Brieftasche mit dem Los wiedergefunden hatte.

"Na, ihr könnt euch sicher vorstellen, welche Duftwolken er hinterher verströmt hat! Und deshalb, mein lieber Peter, bekommst du gleich ein paar Wäscheklammern dazu, dann kannst du beim nächsten Mal nach Belieben im Müll wühlen, und deiner Umgebung bleibt die Geruchsbelästigung erspart", schloss Jody ihre Erzählung und tat so, als würde sie sich eine Klammer auf die Nase setzen.

Peter stimmte in das allgemeine Gelächter mit ein, dann entgegnete er grinsend: "Wenn ich mit diesem Los nur halb so viel gewinne wie Lo Si damals, dann springe ich freiwillig vor Euch allen in die Mülltonne."

Susan fragte Mary-Margaret, die neben ihr stand: "Wieviel hat der Ehrwürdige denn damals gewonnen?"

Diese entgegnete achselzuckend: "Keine Ahnung. Ein Vermögen war's wohl nicht, denn Lo Si lebt sehr zurückgezogen und bescheiden."

Eine leicht nervös wirkende Stimme in ihrem Rücken sagte: "Da täuscht du dich aber, Skalany. Es waren 38 Millionen Dollar."

"Waaaas?!" Die beiden schnappten buchstäblich nach Luft und drehten sich gleichzeitig um.

"Erzähl keinen Unsinn, Nicky!", rügte Mary-Margaret ihren Bekannten und blickte ihn strafend an.

"Ach ja, sorry, ihr kennt euch ja noch nicht. Susan, das ist Nicky Elder, Gerichtsmediziner hier in Sloanville. Nicky, das ist Susan Barnaby, sie hat Peters Apartment gemietet."

Der junge Pathologe warf Mary-Margaret einen bitterbösen Blick zu: "Musst du immer gleich alle Leute verschrecken, noch bevor ich eine Chance habe sie kennen zu lernen?"

Susan warf lächelnd ein: "Keine Sorge, Mr. Elder, so leicht bin ich nicht zu verschrecken. Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen." Sie reichte ihm die Hand, die er nur zu gern ergriff und drückte.

"Ja?" Er sah so verwundert drein, dass Susan Mühe hatte, nicht laut aufzulachen. Nicky schien es trotzdem zu bemerken, denn er errötete und erklärte verlegen: "Äh, sehr erfreut... Bitte entschuldigen Sie... na ja, die meisten Leute finden meinen Beruf fürchterlich gruselig, weil ich halt viel mit Leichen zu tun habe... Äh, ich meine... ähem... Sind Sie auch Ärztin, Ms Barnaby? Ich meine, weil.. weil mein Beruf Sie anscheinend nicht stört?"

Er schien zu merken, dass er sich in seiner Verlegenheit immer weiter verrannte, und verstummte.

Susan erbarmte sich seiner. "Nein, ich bin keine Medizinerin. Meine Mutter war Tierärztin, aber ich habe ihre Vorliebe für diesen Beruf nicht geerbt. Ich bin – je nachdem wie man's sieht – hoffnungsvolle Gesangsstudentin, unterbezahlte Garderobiere oder alleinerziehende Mutter in spe. Suchen Sie sich einfach aus, was Ihnen am besten gefällt."

"Oh, das tut mir leid. Äh, ich meine..."

Bevor der junge Mann sich wieder verhaspeln konnte, schaltete sich Mary-Margaret ein. "Wie kommst du auf die Idee, dass der Ehrwürdige solch eine Riesensumme im Lotto gewonnen haben könnte? Wenn das ein Scherz war, dann ist der nicht sehr lustig."

"Doch, doch, das stimmt schon. Der Alte hat über 38 Millionen Dollar gewonnen und dann alles verschenkt an Leute, die dringend Geld brauchten. Das war tagelang DAS Gesprächsthema in Chinatown. Du warst damals im Urlaub, deshalb hast du nichts mitbekommen. Und als du zurückgekommen bist, war das Geld schon verteilt."

"Wow!" Mary-Margaret stieß einen bewundernden Pfiff aus.

"Bloody marvellous", ergänzte Nicky. Alle drei brachen in Gelächter aus.

Als sie sich wieder beruhigt hatten, fragte Susan: "Was haben Sie denn für Peter mitgebracht, Mr. Elder?"

Der junge Mann antwortete: "Bitte nennen Sie mich Nick. Oder Nicky."

"Gern, Nicky. - Dann nennen Sie mich bitte Susan, ja? – Also, was haben Sie dabei? Bitte entschuldigen Sie meine Neugier, aber Sie alle kennen Peter schon jahrelang, und ich gerade erst einmal zwei Wochen."

"Schon gut. Ich habe ihm einen Dietrich aus Marzipan mitgebracht, in Erinnerung an unseren gemeinsamen Einbruch in ein Archiv mit Autopsieakten. Übrigens mein erster und letzter, das möchte ich betonen."

Auf Susans fragenden Blick hin erklärte er: "Stellen Sie sich vor, unser Peter besaß die Frechheit, mich unmittelbar vor meinem Urlaub aus Altamont anzurufen, weil er vermutete, dass dort ein Mord vertuscht und als tragischer Unglücksfall ausgegeben worden war. Und weil er die Autopsieakten nicht einsehen durfte, hat er mich dazu überredet, nach Altamont zu fahren und sie mit ihm zusammen zu stehlen. Na ja, erst habe ich sie an Ort und Stelle durchgesehen – deswegen hat er mich überhaupt gebraucht, weil er davon ja keine Ahnung hat – und als ich den Beweis für den Mord gefunden hatte, haben wir die Akten kurzerhand mitgenommen und ein paar wichtigen Leuten unter die Nase gehalten."

Er machte eine Kunstpause.

"Und haben Sie dann den Mörder gefasst?"

"Ja, natürlich. Peter hat soviel Wind um die Akten veranstaltet, dass der Mörder – übrigens ein Polizist - und sein Auftraggeber nervös wurden und einen Fehler begangen haben. Na ja, und der Teil der örtlichen Polizei, der nichts mit dem Mord zu tun hatte, durfte dann die Übeltäter verhaften."

Mary-Margaret fiel ein: "Dass ein Cop darin verwickelt war, dürfte Peter ganz und gar nicht gefallen haben. Du weißt, wie er immer reagiert, wenn ein Polizist sein Amt oder seine Macht missbraucht. Denk an Leola. Oder an die Geschichte mit Rawlston neulich."

Nun gesellte sich Kermit zu den dreien. "Susan, sind Sie soweit? T.J. schließt gerade sein Keyboard an."

Sie nickte. "Ja, okay, ich komme. – Bitte entschuldigen Sie mich, ich bin gleich dran."

"Oh, singen Sie etwas für Peter?", fragte Nicky voll Bewunderung.

Susan nickte verschämt. "Ja. Ich kenne ihn ja nicht so gut, und Singen ist das einzige, was ich kann. Kermit meinte, es würde Peter sicher gefallen, und so haben T.J. und ich 'New York, New York' zusammen geprobt."

Sie lachte ein wenig unsicher. "Ich kann es zwar nicht so gut wie Frank Sinatra oder Liza Minelli, aber ich hoffe, es gefällt Ihnen trotzdem."

*** Ende Flashback ***

Ein Klopfen an der Wohnungstür riss Susan aus ihren Erinnerungen. Automatisch warf sie einen Blick auf die Armbanduhr und erschrak. Schon drei Uhr, und sie hatte den Tisch noch nicht fertig gedeckt!

Ein Glück, dass sie sich wenigstens schon umgezogen hatte! Schließlich wollte sie möglichst vorteilhaft aussehen für ihren Besuch. Ein kurzer Blick in den Spiegel im Flur bestätigte ihr, dass sie zumindest in dieser Hinsicht nicht mehr 'nachbessern' musste. Trotzdem merkte sie, wie sich die Schmetterlinge in ihrem Bauch rasend schnell vermehrten.

*Mein Gott, ich komme mir vor wie ein Teenager beim ersten Rendez-vous... Ich hoffe nur, ihm gefällt mein neues Kleid, und er sieht mich wieder so an wie auf Peters Party, als ich das Lied gesungen habe! Das wäre zu schön...*

Schwungvoll öffnete sie die Tür und begrüßte ihren Gast mit einem strahlenden Lächeln. "Schön dass du da bist! Komm doch bitte herein!"

Während ihr Besuch eintrat und seine Jacke ablegte, schickte Susan ein Stoßgebet zum Himmel, dass der verflixte Piepser diesmal stumm bleiben würde. Hoffentlich tauchte heute keine Leiche mehr in Sloanville auf, deren ungeklärte Todesart dringend Nickys Anwesenheit erforderte...

Ende?

 

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