Prolog "So, hier sind wir. – Wahnsinn, hier ist ja fast alles schon voll, da muss ja ganz schön was los sein in der Aula. Ich hätte nicht gedacht, dass soviele Leute zu diesem Treffen kommen." Ob sich einer von denen auch so unwohl fühlt wie ich gerade? Oder finden die es alle toll, an ihre Kindheit hier im Waisenhaus erinnert zu werden? Na ja, es hilft nichts, jetzt kann ich nicht mehr kneifen, also bringe ich's am besten einfach hinter mich. Wenigstens bin ich dieses Mal von Mordvisionen verschont geblieben, das ist ja immerhin schon ein Fortschritt. Kopfschüttelnd lenkte Peter Caine seinen Stealth in eine der letzten freien Parklücken und stellte den Motor ab. Er atmete tief durch, stieg aus und umrundete schnell das Fahrzeug, um seiner Verlobten Kendra Waters galant die Tür zu öffnen und ihr aus dem Auto zu helfen. Kendra kletterte mühevoll aus dem Sportwagen. Sie seufzte. "Wieso denken Auto-Entwickler nicht daran, dass es für Schwangere von Woche zu schwerer wird, aus einem tiefergelegten Wagen wieder herauszukommen? Jedesmal wenn ich aus diesem Auto aussteige, komme ich mir so dick vor wie eine Elefantenkuh." "Meinst du? Dann bist du aber mit Abstand die graziöseste Elefantenkuh, die ich je gesehen habe", neckte Peter sie. Er nahm sie liebevoll in den Arm und küsste sie. "Ich liebe dich. Und deinen hübschen kleinen Babybauch auch." Sanft strich er über ihren gewölbten Bauch. Unwillkürlich musste Kendra lächeln. "Du bist ein Süßholzraspler. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du einen umwerfenden Charme hast?" "Hm, ja, ich glaube das hab ich schon ab und zu von meiner angehenden Ehefrau gehört. Und da sie immer recht hat, muss es ja wohl stimmen", grinste Peter. Arm in Arm schlenderten sie zu dem langgestreckten Gebäude hinüber, das neben der Aula auch die Turnhalle, einige Trainings- und Lagerräume sowie ein kleines Fotolabor beherbergte. Die Aula selbst war für das Treffen mit gedeckten Sechser-Tischen statt der sonst üblichen Stuhlreihen bestückt worden. Am Rand war ein kaltes Buffet aufgebaut, und in der Mitte war ein wenig freier Platz zum Tanzen. Ein Laptop war mit der Lautsprecheranlage verbunden worden und diente als Juke-Box. Da sich alle Schlafsäle im Hauptbau befanden, bestand keine Gefahr, dass die hier lebenden Kinder und Jugendlichen gestört wurden. Die Erwachsenen konnten also unbesorgt feiern. Sofern ihnen danach zumute war. "Peter! Hey, Peter!" Ein junger Mann erhob sich von einem Tisch in der Nähe des Eingangs und kam zu den beiden herüber. "Kyle! Wie geht's dir? Schön dich zu sehen!" Die beiden umarmten sich herzlich, dann machte Peter Kyle und Kendra miteinander bekannt und fragte: "Ist Jenny auch mitgekommen?" "Ja, wir haben die Gelegenheit schamlos ausgenutzt und die Zwillinge einfach bei Jennys Eltern abgeliefert. Auf diese Weise haben wir uns ein ganzes freies Wochenende verschafft. – An unserem Tisch sind noch zwei Plätze frei, wollt ihr mit zu uns kommen?" "Ja, gerne." Kyle führte sie an einen Tisch, an dem sich drei junge Frauen lebhaft miteinander unterhielten. Eine davon war Kyles Frau Jenny. Peter hatte sie vor wenigen Jahren kennengelernt, als sie von einer Schar marodierender Gangster entführt worden war. Kyle hatte Peter um Hilfe gebeten, weil die örtliche Polizei absolut nichts unternommen hatte, um Jenny zu befreien und die Gangster zu fassen. Seit dieser Zeit hatten Kyle und sie den Kontakt zu Peter nicht wieder abreißen lassen. Peter begrüßte sie und stellte ihr Kendra vor. Dann wandte er sich der gutaussehenden, elegant gekleideten jungen Frau zu, die neben Jenny saß. Ihre Gesichtszüge kamen Peter bekannt vor, jedoch konnte er sich im ersten Moment nicht erinnern, wer sie sein mochte. Sie bemerkte, dass er in seinem Gedächtnis kramte, und lachte verschmitzt. "Peter! Ich freue mich so, dich nach so langer Zeit einmal wiederzusehen! Wie geht es dir?" Der Klang ihrer Stimme brachte die Erinnerung zurück, und Peter platzte heraus: "Natalie? Natalie Miller?" Die junge Dame nickte lächelnd. "Mein Gott, ich glaube es nicht, Natalie! Wie lange ist das jetzt her, dass du aus Sloanville weggezogen bist? 17, 18 Jahre? Was hat dich wieder herher verschlagen – oder bist du extra für das Treffen angereist? Bleibst du länger hier?" Er merkte gerade noch rechtzeitig, dass er in seinem Überschwang drauf und dran war, seine frühere Leidensgenossin verbal 'niederzuwalzen' und schluckte alle weiteren Fragen, die ihm auf der Zunge lagen, hinunter. Statt dessen besann er sich auf seine gute Erziehung und machte Natalie mit seiner Verlobten bekannt. Natalie ihrerseits stellte Peter und Kendra ihre Lebensgefährtin Ruth Thompson vor. Die beiden Neuankömmlinge setzten sich, und Peter erklärte, an Kendra gewandt: "Natalie und ich waren in derselben Klasse. Sie hat mich damals gerettet, als ich Extra-Stunden bei unserem Mathelehrer schieben musste, weil ich so schlecht war. Wenn sie sich nicht meiner erbarmt und mir jeden Abend Nachhilfe gegeben hätte, dann hätte ich das nie kapiert, trotz der täglichen Sonderschichten beim alten Perkins. Als ich dann langsam wieder besser wurde, hat sie sich sogar bei ihm für mich eingesetzt und erreicht, dass ich nachmittags statt zum Extra-Unterricht wieder zum Basketballtraining durfte. Du glaubst gar nicht, wie glücklich ich war, als ich endlich wieder in der Mannschaft trainieren konnte!" Natalie widersprach verlegen: "Übertreib doch nicht so, Peter. Erstens vergisst du zu erwähnen, dass du mich vorher vor den Nachstellungen eines Idioten gerettet hast, und zweitens ist so ein bisschen Nachhilfe nicht der Rede wert. Du tust ja geradezu so als ob es dein Leben verändert hätte, dabei war es nur ein bisschen Mathe, mehr nicht. Du hingegen hast mich schwer beeindruckt, weil du die Extra-Arbeit so eisern durchgezogen hast. Schließlich hast du das Fach abgrundtief gehasst, und plötzlich hattest du jeden Tag dreimal damit zu tun, mit den Hausaufgaben sogar viermal. Aber du hast kein einziges Mal versucht, dich zu drücken." "Das war ja wohl klar. Schließlich hast du für mich deine spärliche Freizeit geopfert, obwohl du ganz andere Sorgen hattest. Und dann bist du auch noch zu Mr. Perkins gegangen und hat ihn gebeten, mich wieder zum Training zu lassen. Du weißt gar nicht was das für mich bedeutet hat." Natalie wollte etwas entgegnen, doch Peter bat sie ernst: "Nein, bitte, lass mich ausreden. Genau an dem Tag, als Mr. Perkins mir die Extrastunden erlassen hat, habe ich hier nebenan in der Turnhalle meinen Pflegevater kennengelernt. Er sollte nämlich einen Vortrag über Polizeiarbeit halten, und er hat mich während des Trainings angesprochen. Ohne dieses Gespräch und den Vortrag wäre ich weder aus dem Waisenhaus herausgekommen noch Polizist geworden. Du siehst, ich übertreibe kein bisschen, sondern ich habe dir und Mr. Perkins unendlich viel zu verdanken." * Die sechs verstanden sich großartig. Im Nu kam eine angeregte Unterhaltung in Gang. Peter spürte, wie die Anspannung, unter der er anfangs gestanden hatte, nach und nach von ihm abfiel. Wie gut, dass ich auf Kendra gehört und nicht abgesagt habe! Wenn sie mir nicht so zugeredet hätte, wäre ich wieder einmal feige meinen Erinnerungen an die schreckliche Zeit hier ausgewichen anstatt mich ihnen zu stellen. Manchmal frage ich mich, wer von uns beiden hier der Shaolinpriestser ist... Als Kendra und er sich schließlich verabschiedeten, weil Kendra müde wurde und Rückenschmerzen bekam, gestand er sich ein, dass seine Befürchtungen grundlos gewesen waren. Er hatte nicht nur einen sehr vergnügten Abend verbracht, sondern auch Gelegenheit bekommen, sich bei Natalie und seinem alten Lehrer zu bedanken. Ohne Kendra hätte er das alles verpasst. "Danke", flüsterte er ihr beim Hinausgehen zu. Er küsste sie leicht auf die Wange. "Was täte ich nur ohne dich?" "Vermutlich würdest du immer noch ganz un-shaolinhaft deine Erinnerungen verdrängen. Statt dessen musst du mir jetzt helfen, mich wieder in diese Schuhschachtel von Auto zu zwängen." * * *
"Nein!!! Ich hab keinen Bock auf Überraschungen! Ich bleibe solange sitzen, bis du mir sagst, warum du mich hierher geschleift hast!" Tanya Leyland verschränkte die Arme vor der Brust, um ihre Entschlossenheit zu unterstreichen. Sie sah ihren Großvater herausfordernd an und fügte hinzu: "Und damit du's weißt – ich hab gehört, wie du dich gestern mit Mom unterhalten hast. Du willst mich doch bloß wieder zu 'nem Psychofritzen schleifen, gib's zu! Aber mach ich nicht mit, ich geh zu keinem solchen Heini mehr, ich bin nicht balla-balla! Mit mir ist alles in Ordnung, ich will nur meine Ruhe, wann kapiert ihr das endlich?!!!" Theo Perkins seufzte. Soviel zu seinem Plan, Tanya möglichst unauffällig ins Jugendzentrum mitzunehmen und mit einer Stunde KungFu-Training zu überraschen, um sie damit von den meist gewalttätigen Computerspielen und den Kampfsportfilmen wegzubringen, mit denen sie seit neuestem ihre Zeit vergeudete. "Mr. Caine ist kein Psychofritze, sondern ein ehemaliger Schüler von mir, der hier im Jugendzentrum KungFu-Kurse gibt. Ich habe ihm erzählt, dass du dich seit einiger Zeit für Kampfsport interessierst, und er hat angeboten, dir ein bisschen was beizubringen." "Wirklich? So richtig wie Jackie Chan? Wow, das ist ja cool!" Tanyas Miene hellte sich kurz auf, um sich gleich wieder zu verfinstern. "Na und? Er bringt mir ein paar Tricks bei, und was kommt dann? Wo ist der Haken bei der Sache? Und überhaupt, was ist er denn, wenn er kein Psychofritze ist? Etwa einer von diesen Sozialheinis, die sich um arme kleine vernachlässigte Kinderchen kümmern und sie von der Straße fernhalten?" "Er ist Sozialarbeiter hier in Chinatown." "Na toll, wahrscheinlich so'n Softie der mir einreden will, dass alles gut wird wenn ich nur will. Darauf kann ich verzichten! Und warum macht er das überhaupt? Weil du früher ein so toller Lehrer warst und er dir immer dankbar sein wird?" Diese Vorstellung brachte Theo zum Schmunzeln. Er schüttelte den Kopf. "Nein, ich glaube nicht dass er meinen Unterricht gut fand. Und Mathematik war auch nicht gerade sein Lieblingsfach, im Gegenteil. Ich hatte immer den Eindruck, dass er es hasste. Er konnte nach dem Ende der Stunde gar nicht schnell genug verschwinden." "Warum macht er das dann? Was hat er davon?" Der misstrauische Ausdruck in Tanyas Augen tat ihrem Großvater weh. Doch im Grunde konnte er sie sehr gut verstehen. Seine Enkelin hatte in den letzten Monaten zu viele schlechte Erfahrungen machen müssen, und nun misstraute sie allem und jedem. Sie ließ niemanden an sich heran und schlug (nicht nur) verbal um sich, wenn ihr jemand zu nahe kam. Ihr ganzes Verhalten war ein einziger Hilferuf – doch leider weigerte sie sich, Hilfsangebote anzunehmen, ganz gleich woher sie kamen. Als Theo auf dem Ehemaligen-Treffen im Waisenhaus mit seinem früheren Schüler Peter Caine ins Gespräch gekommen war und dieser ihm von seiner Arbeit als Sozialarbeiter und seinem Anti-Aggressionsprogramm erzählt hatte, war ihm das vorgekommen wie der buchstäblich allerletzte Ausweg. Nur zu gern hatte er sein Angebot angenommen, Tanya in das Programm aufzunehmen. Wie erwartet, war auch Tanyas Mutter sofort einverstanden gewesen. Doch nun saß das Mädchen hier in Theos Wagen und weigerte sich, auszusteigen. Wie um Himmels willen sollte er sie nur in das Jugendzentrum bekommen? Er hoffte, dass sie der Verlockung nicht widerstehen konnte, 'echtes' KungFu zu machen wie ihr neues Idol Jackie Chan. Wenn, ja wenn sie erst einmal aus dem Auto stieg und mit ihm in den Trainingsraum kam. Am liebsten hätte er kurzen Prozess gemacht und sie aus dem Wagen gezerrt. Statt dessen antwortete er, so ruhig er konnte: "Warum? Nun, das fragst du Mr. Caine am besten selbst, wenn du ihn triffst. – Wenn du keine Lust hast mitzukommen, dann bleib ruhig hier sitzen, ich gehe aber jetzt hinein. Ich will nämlich beim Training zusehen." Er stieg aus und wandte sich der Eingangstür zu. Enttäuscht registrierte er, dass Tanya keinerlei Anstalten machte, ihm zu folgen. Schlechter konnte es ja kaum anfangen! Nun, vielleicht wusste der junge Sozialarbeiter einen Rat. Er hatte immerhin ständig mit aggressiven Kindern und Jugendlichen zu tun, und als Theo ihm von Tanya erzählt hatte, hatte er nur genickt und leise gesagt: "Das erinnert mich sehr an mein Verhalten damals, ich habe mich auch eingeigelt und niemanden an mich herangelassen. Allen, die mir helfen wollten, habe ich misstraut und ihnen unterstellt, sie würden sich nur aus Mitleid mit mir abgeben oder weil sie sich davon einen Vorteil versprachen. – Meinen Sie, Tanya würde gerne KungFu lernen? Ich könnte ihr Unterricht geben, und vielleicht bekomme ich darüber Kontakt zu ihr. Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber ich würde es gerne versuchen." * Eine gute halbe Stunde später saß Theo immer noch alleine neben der Tür des Trainingsraums und beobachtete sechs Teenager dabei, wie sie unter Anleitung ihres Lehrers Bewegungsabläufe einstudierten. Plötzlich hörte er, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Ein paar leise Schritte, dann setzte sich Tanya auf den Boden, möglichst weit von ihrem Großvater entfernt. Sie vermied jeden Blickkontakt mit ihm. Theo fiel ein Stein vom Herzen. Sie war doch hereingekommen! Ob sich ihre Neugierde auf den KungFu-Unterricht durchgesetzt hatte oder es ihr schlicht und ergreifend zu langweilig geworden war im Auto, war ihm egal. Hauptsache, Tanya war überhaupt hier und sah zu. Aus dem Augenwinkel sah er immer wieder zu seiner Enkelin hinüber. Sie schien durchaus interessiert und wirkte enttäuscht, als 'Sifu Peter' die Stunde für beendet erklärte. Doch als die Jugendlichen den Raum verlassen hatten und Peter Caine auf Tanya zuging, nahm ihr Gesicht sofort wieder einen abweisenden Ausdruck an. Theo bemerkte, wie sie sich versteifte, und konnte einen leisen Seufzer nicht unterdrücken. Tanya war wieder voll im 'Abwehr-Modus', genauso wie zuvor im Auto. * Gleichzeitig konnte Peter jedoch große Unsicherheit spüren, ja sogar Furcht. Angst davor, etwas von sich preiszugeben. Ihre abweisende Haltung war wie ein Schutzschild für sie, der mögliche Angreifer abwehren sollte. Solange die KungFu-Stunde dauerte, war der Schutzschild heruntergelassen. Kaum hatte Peter jedoch seine Schüler entlassen, war die abweisende Miene wieder da. Er tat so, als bemerke er nicht, dass ihr Gesicht überdeutlich 'komm mir nicht zu nahe' ausdrückte, sondern ging zu ihr hinüber und begrüßte sie freundlich: "Hallo, ich bin Peter Caine. Du bist Tanya, nicht wahr? Dein Großvater hat mir erzählt, du interessierst dich für KungFu. Hattest du schon einmal Unterricht?" "Nein." "Möchtest du es denn lernen?" Diese Frage schien sie zu überraschen. Sie runzelte die Stirn und entgegnete argwöhnisch: "Wieso fragen Sie das? Ich denke, Sie haben doch ohnehin schon mit meinem Großvater abgemacht, dass ich bei Ihnen Stunden nehmen soll!" Peter schüttelte den Kopf. "Nein. Ich habe ihm angeboten, dich zu unterrichten. Aber das geht nur, wenn du das auch selbst möchtest. Gegen deinen Willen kann und will ich dir keine Stunden geben. Also überleg es dir. Wenn du keine Lust hast, regelmäßig zu kommen und intensiv mitzuarbeiten, oder wenn du dir nur ein paar coole Tricks abschauen willst, um damit angeben zu können, dann brauchen wir gar nicht erst anzufangen, wir vergeuden nur deine und meine Zeit. Aber wenn du wirklich etwas lernen möchtest, dann wird es mir eine Ehre sein, dich zu unterrichten." Sie sah stumm vor sich hin. Offensichtlich dachte sie nach. Als sie nach einer Weile wieder aufblickte, konnte Peter ein vorsichtiges Entgegenkommen in ihren Augen erkennen. "Ja. Ja, ich möchte etwas lernen." "Schön. Dann komm, wir fangen gleich an." Er nickte ihr zu, wandte sich um und ging wieder auf die Mitte des Raumes zu. Tanya jedoch blieb wie angewurzelt stehen. "Jetzt? Aber... aber... ich hab doch gar keine Sportsachen dabei." Peter drehte sich wieder zu ihr. "Das macht nichts. Du trägst weite Kleidung, für heute geht das auch. Ab dem nächsten Mal bringst du lockere Trainingskleidung und leichte Turnschuhe mit. Nun komm, lass uns beginnen. – Dein Großvater kann dich in etwa einer halben Stunde wieder hier abholen." * * * Kapitel 2 Als Peter an diesem Abend nach Hause kam, empfing ihn eine stille, leere Wohnung. Im ersten Moment erschrak er. War Kendra etwas passiert? Hatte sie womöglich, wie schon in der Woche zuvor, vorzeitige Wehen bekommen und war im Krankenhaus? Doch dann schaltete sich seine Vernunft ein. Großer Gott, Peter, reiß dich zusammen! Bloß weil Kendra nicht da ist, muss ihr noch lange nichts passiert sein. Wenn irgendwas mit ihr oder dem Baby wäre, hätte sie dich doch auf dem Handy angerufen. Also beruhige dich, wahrscheinlich ist sie ganz einfach bei einer Nachbarin oder beim Einkaufen. Du weißt doch, dass sie es ganz und gar nicht mag, wenn dein Beschützerinstinkt überreagiert. Er atmete tief durch und sammelte sich. Schon besser. Und jetzt schau mal in die Küche. Vielleicht hat Kendra dir ja einen Zettel geschrieben und ans schwarze Brett gehängt. Wieder ruhiger geworden, sah er in der Küche nach. Ja, da war es schon – ein großer farbiger Zettel mit einer Nachricht von Kendra: Hallo mein Schatz, Erleichtert warf er einen Blick auf die Wanduhr. Zehn Minuten vor sechs. Damit blieb ihm genug Zeit, das Abendessen vorzubereiten, bevor Kendra nach Hause kam. Flink machte er sich ans Werk, richtete Sandwiches her sowie eine große Rohkostplatte, schließlich brauchten Mutter und Kind jede Menge Vitamine. Er deckte den Tisch ein wenig festlicher als sonst, mit Blumendekoration und Kerzen. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Dann ging er in den kleinen Nebenraum, der ursprünglich als zweites Kinderzimmer vorgesehen war und der ihm als Meditationsraum diente. Er entzündete die Kerzen und ließ sich mit einer fließenden Bewegung in den Lotussitz sinken. Er wollte sich eine kurze Ruhepause gönnen, um die Ereignisse des vergangenen Tages besser verarbeiten zu können und dadurch Kopf und Sinne freizubekommen für den Abend mit Kendra. Als erstes kam ihm die Begegnung mit Tanya in den Sinn. Sie hatte ihr Bestes getan, um möglichst gleichgültig zu wirken, während sie Peter und seinen Schülern beim Training zugesehen hatte. Zwar konnte sie Peter damit nicht täuschen – er hatte ganz genau bemerkt, wie aufmerksam sie jede seiner Bewegungen beobachtet hatte – doch allein die Tatsache, dass sie sich solche Mühe gab, jede Gefühlsregung zu unterdrücken, ließ auf eine Riesenangst vor (weiteren) Verletzungen schließen. Was hatte ihr Großvater bei dem Treffen im Waisenhaus erzählt? Tanya sei bis vor etwa einem Jahr ein freundliches, natürliches Mädchen gewesen, das durchaus innerhalb der Familie Temperament gezeigt habe, jedoch Fremden gegenüber sehr zurückhaltend und scheu gewesen sei. Sie habe schon immer Schwierigkeiten gehabt, mit fremden Leuten oder ungewohnten Situationen umzugehen; aber nach einer gewissen 'Aufwärmphase' sei sie im Großen und Ganzen auch mit Veränderungen klargekommen. * * * Flashback * * * Theo Perkins seufzte. "Seit letztem Jahr hat sich unser Leben gravierend geändert. Das hat besonders Tanya sehr hart getroffen, sie ist ja die Jüngste und tut sich obendrein schwer mit allem Neuen." "Was ist passiert?" "Alles fing an mit der Trennung ihrer Eltern, vor gut zehn Monaten. Für Außenstehende muss das Leben meiner Tochter ausgesehen haben wie aus dem Bilderbuch – attraktiver, erfolgreicher Ehemann, zwei Kinder, ein kleines fast schuldenfreies Häuschen in einer guten Wohngegend, keine finanziellen Sorge, Sie kennen das ja. Doch in der Ehe hatte es schon seit längerer Zeit gekriselt; als Tony plötzlich immer mehr 'Überstunden' machte, kam Edith der Verdacht, dass er sie betrog. Sie hat ihn darauf angesprochen, doch er hat es vehement geleugnet. Es war für uns alle ein ziemlicher Schock, als er kurz nach Tanyas zwölftem Geburtstag plötzlich seine Sachen gepackt hat und ausgezogen ist. Es stellte sich heraus, dass er schon seit Monaten eine Geliebte hatte und dass diese Frau ein Kind von ihm erwartete. Ich vermute, Tony hätte wohl weiterhin den braven Ehemann und Familienvater gespielt, wenn sein Betthäschen ihm nicht die Pistole auf die Brust gesetzt hätte. Da kam diese Schwangerschaft wie gerufen..." Er brach ab, fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann atmete er tief durch und sah Peter beschämt an. "Bitte entschuldigen Sie, da ist meine Verbitterung mal wieder mit mir durchgegangen. Es ist nur so – ich hätte Tony dieses Verhalten nie zugetraut. Er hat sich nicht einmal von seinen Kindern verabschiedet, der Feigling, sondern hat es Edith überlassen, die Situation zu erklären. Zwei Tage nach seinem fluchtartigen Auszug hat er die Scheidung eingereicht. Bald darauf sind die beiden Turteltäubchen ans andere Ende des Landes gezogen, zu Verwandten von Tonys Freundin. Für Tanya brach eine Welt zusammen. Sie hatte eine sehr enge Beziehung zu ihrem Vater, hing unheimlich an Tony. Und auf einmal war er weg. Von jetzt auf gleich. Ohne Abschied. Sie leidet immer noch darunter, dass ihr Vater die Familie für seine Freundin und 'das neue Kind' abserviert hat. Dass er sich jeglicher Auseinandersetzung entzieht, macht die Sache nicht gerade leichter. Tanya war vollkommen überfordert mit der Situation, sie hat das bis heute noch nicht weggesteckt und weigert sich, über das Thema zu sprechen. Sie gibt abwechselnd sich selbst und ihrer Mutter die Schuld an seinem Weggang." "Wie äußert sich das?" "Manchmal ist sie total in sich gekehrt und lethargisch, meist aber ungeheuer aggressiv, vor allem Edith gegenüber. Doch auch andere bekommen das zu spüren, besonders ihre Lehrer und Mitschüler. Sie können sich sicher lebhaft vorstellen, dass sie sich mit diesem Verhalten keine Freunde macht." Peter nickte. Er konnte sich sehr gut in Tanyas Lage versetzen. Mr. Perkins' Schilderung erinnerte ihn schmerzhaft an seine eigene Verzweiflung nach dem vermeintlichen Tod seines Vaters. Er hatte sich damals völlig in sich selbst zurückgezogen, um nur ja nicht weiter verletzt zu werden. Es hatte aber auch Phasen gegeben, in denen er sich ausgesprochen aggressiv verhielt, weil er meinte, an seiner ohnmächtigen Wut auf alles und jeden, vor allem auf sich selbst, zu ersticken. "Leider ist das noch nicht alles", fuhr Theo Perkins fort. "Wäre sonst nichts mehr passiert, hätte sich Tanya bestimmt mit der Zeit wieder gefangen. Aber weil Tonys Unterhaltszahlungen sehr unregelmäßig kommen, muss Edith seit der Trennung erheblich mehr arbeiten als früher, um sich und die Kinder durchzubringen. Dem Großen, Mark, machte das nicht allzuviel aus – er war ja auch schon in der Abschlussklasse und geistig schon halb ausgezogen – aber Tanya hat das sehr getroffen. Erst verschwindet der Vater, und nun ist auch ihre Mutter den ganzen Tag über nicht da. Ich versuche zwar, so gut wie möglich zu helfen, aber ich kann ihr die Eltern natürlich nicht ersetzen. So richtig schlimm wurde es dann im Herbst, als Mark ans College ging. In den ersten Tagen nach seinem Auszug war Tanya völlig lethargisch und hat kaum ein Wort gesprochen. Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen oder sich in Marks Zimmer geschlichen und die Lieblingsfilme ihres Bruders angesehen. Daher kommt wohl auch ihre neue Vorliebe für Kampfsport; ihr Bruder steht nämlich darauf. Aber inzwischen ist sie meist frech und aufsässig, und wenn ihr etwas nicht passt, wird sie sofort aggressiv. Sie interessiert sich für nichts außer Jackie Chan und diese verflixten Ballerspiele. Wir haben ihr zwar den Nintendo weggenommen, aber Sie wissen ja, wie das ist. Irgendwie kommen die Kids trotzdem an Gelegenheiten zum Spielen, vor allem wenn sie einen Großteil des Nachmittags alleine sind. Wir wissen uns keinen Rat mehr. Wie soll das nur weitergehen? Wir möchten Tanya so gerne helfen, aber sie igelt sich vollkommen ein und fährt uns gegenüber immer ihre Stacheln aus. Auch auf den Schulpsychologen und die Helfer vom Jugendamt reagiert sie mit Wutanfällen und Verweigerung. Sie hat eine Mauer um sich errichtet, an der alles und jeder abprallt." * * * Ende Flashback * * * Zu Tanya durchgedrungen war Peter auch noch nicht, das war nach einer einzigen Lektion auch nicht zu erwarten. Doch sie zeigte ehrliches Interesse an KungFu und hatte nach anfänglichem Zögern bereitwillig mitgemacht. Am Ende der Stunde war sie fast ein wenig enttäuscht gewesen, dass sie 'nur' zweimal pro Woche kommen durfte. Das war ein gutes Zeichen. Dass Tanya ihm gegenüber ihre Abwehrhaltung so schnell abgelegt hatte, war ermutigend. Es war fast so etwas wie ein kleiner Vertrauensvorschuss. Vielleicht konnte Peter wirklich ihr Vertrauen gewinnen. Aber dafür musste er sehr, sehr viel Geduld haben. Wenn er zu schnell vorging, verschreckte er sie nur. Als ob Geduld deine starke Seite wäre, Peter Caine! Halt dich bloß zurück und sei vorsichtig, lass Tanya genügend Zeit. Sie wird sich dir schon öffnen, wenn sie erst merkt, dass sie dir vertrauen kann. * Kaum hatte Peter sich geduscht und umgezogen, als er auch schon hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Kendra kam nach Hause und begrüßte ihn voller Freude; sie war ein wenig müde, aber glänzender Laune. Als sie den liebevoll gedeckten Tisch bemerkte, fingen ihre Augen zu strahlen an. Sie fiel ihm um den Hals. "Du bist wundervoll. Vielen Dank für die tolle Überraschung!" Sie kicherte. "Ich komme mir ein bisschen vor wie bei einem Rendezvous." Während des Essens berichtete jeder von seinem Tag. Kendra erzählte begeistert von ihrem Ausflug mit Natalie und Ruth. Als sie es sich später auf dem Sofa gemütlich machten, sagte Peter bedauernd: "Zu schade, dass Natalie und Ruth bald wieder zurückfahren müssen. Ich hätte sie gerne noch einmal gesehen." "Ja, schade. Ich mag die beiden sehr. – Aber vielleicht können wir uns doch noch einmal treffen. Wir laden sie einfach zu uns nach Hause ein, sozusagen zum Abschiedsessen. Ich koche eine Kleinigkeit, und wir machen uns einen gemütlichen Abend zu viert. Was meinst du?" "Das ist eine gute Idee! Wenn es dir nicht zuviel wird? Sonst gehen wir halt einfach hier in Chinatown zum Essen und lassen den Abend danach bei uns ausklingen." Eine Augenbraue hob sich missbilligend. "Peter Matthew Caine, ich bin schwanger, nicht krank. Ich bin sehr wohl in der Lage, etwas für unsere Gäste zu kochen, ohne mich zu überanstrengen." "Ja, ja, schon kapiert, ich übertreibe es wieder mal. – Es tut mir leid, ich wollte dich nicht ärgern, bitte sei mir nicht böse." Peter nahm Kendra in den Arm und sah ihr um Verzeihung bittend in die Augen. "Wenn du dich so lieb entschuldigst, kann ich dir doch gar nicht böse sein", erwiderte sie lächelnd und küsste ihn zärtlich. Peter erwiderte den Kuss nur zu gerne, zunächst zurückhaltend, dann, als er fühlte, dass es Kendra erregte, immer leidenschaftlicher. Er fing an, ihren Rücken zu streicheln; gleichzeitig fuhr er mit der Zunge an ihrem Hals entlang und knabberte schließlich zärtlich an ihren Ohrläppchen, was sie erschauern ließ. Sie stöhnte lustvoll. Ihre Erregung zu spüren, steigerte sein eigenes Verlangen immens. Als Kendra begann, ihre Hände über seinen Körper wandern zu lassen, und über die gewaltige Ausbuchtung in seiner Hose rieb, war es um seine Beherrschung fast geschehen. "Komm, lass uns rüber gehen", raunte er ihr ins Ohr, heiser vor Verlangen. Kendra nickte nur. Sie gingen ins Schlafzimmer und beendeten dort den Tag auf ihre eigene, lustvolle Weise. * * * Kapitel 3 Drei Wochen später Peter kam abgehetzt aus der Mittagspause zurück ins Jugendzentrum. Er war enttäuscht und verärgert, weil er sich an diesem Tag extra etwas länger frei genommen hatte, um Kendra zu ihrer Vorsorgeuntersuchung zu begleiten, und dann nach schier endlosem Warten doch wieder gehen musste, bevor Kendra drankam. Reg dich ab, Peter! Die Ärztin kann nichts dafür, dass ihr ein dringender Notfall dazwischengekommen ist. Und dafür, dass du jetzt einen Termin hast, kann sie auch nichts. Vielleicht kommt Kendra ja nachher vorbei und zeigt dir die Ultraschallbilder. Beim Gedanken an seine Verlobte regte sich Peters schlechtes Gewissen. Kendra war enttäuscht gewesen, als er ging. Natürlich verstand sie, dass er keine Möglichkeit hatte, seine Termine so kurzfristig zu verschieben – viele seiner 'Klienten' waren ja in der Schule, also bis zum Nachmittag nicht erreichbar – aber traurig war sie trotzdem, das hatte er genau gespürt, auch wenn sie versucht hatte, es sich nicht anmerken zu lassen. Warum nur hatte er Tanya beim letzten Mal nicht gebeten, eine halbe Stunde später zu kommen oder hier auf ihn zu warten? Wo blieb sie überhaupt? Peter sah auf die Uhr. Schon fünf Minuten über der Zeit. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Sie war bisher immer pünktlich gekommen und hatte begeistert mitgemacht. Peter merkte, wieviel Freude ihr das Training bereitete, obwohl er sehr viel von ihr verlangte. In der letzten Woche hatte sie gelöst, ja fast fröhlich während des Unterrichts gewirkt, so als ob sie in dieser knappen Stunde ihre Sorgen einfach ausblendete. Das bestätigte auch ihr Großvater, der sie häufig abholte. Während das Mädchen im Umkleideraum war, nutzte er die Gelegenheit, ungestört ein paar Minuten mit Peter zu sprechen. Er erzählte, dass Tanya sich immer auf das Training freue und an den Tagen mit KungFu-Lektionen um einiges umgänglicher sei als sonst. Sie gehe auch nicht mehr so schnell in die Luft. Aber warum kam sie nun zu spät? Peter begann sich Sorgen zu machen. War ihr etwas passiert? Er wollte gerade bei ihr zuhause anrufen, als das Mädchen endlich kam, mit mehr als zehn Minuten Verspätung. Sie rannte mit einem wie nebenbei hingeworfenen "Sorry" an ihm vorbei in die Umkleide und betrat kurz darauf den Trainingsraum, als sei nichts vorgefallen. In diesem Moment war Peter war sehr dankbar für seine geschärften Shaolin-Sinne. Normalerweise hätte er sie für ihr Verhalten gerügt – er hatte Kendra im Stich gelassen, weil er pünktlich zu Tanyas Stunde kommen wollte, und seine Schülerin hatte es nicht einmal nötig, sich anständig für ihre Verspätung zu entschuldigen – doch er konnte spüren, dass Tanya wieder ihren Schutzschild hochgefahren hatte. Irgendetwas bedrückte und ängstigte sie ungemein, das fühlte Peter sehr deutlich. Also ließ er ihre Unpünktlichkeit erst einmal auf sich beruhen und begann mit den Aufwärmübungen, in der Hoffnung, dass Tanya sich bei den mittlerweile bekannten Bewegungen etwas entspannte. Doch das funktionierte nicht. Das Mädchen war missmutig, unkonzentriert und ungeduldig. Peter sah sich das ein paar Minuten lang an, doch als sie nach dem wiederholten vergeblichen Versuch, eine Übung richtig durchzuführen, auch noch frustriert mit dem Fuß aufstampfte, hatte er genug. Jetzt wollte er wissen, was seine Schülerin so durcheinander gebracht hatte, dass er sie kaum mehr wiedererkannte. Eindringlich ermahnte er sie: "Deine Wut hilft dir nichts, sie verhindert nur, dass du Fortschritte machst. Du musst dich davon befreien, bevor du die Übung noch einmal versuchst." Diese Bemerkung war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Tanya explodierte. "Sie haben ja keine Ahnung!!! Was wissen Sie denn schon von meiner Wut?", brach es aus ihr heraus. Die Hände zu Fäusten geballt, stand sie schwer atmend vor Peter. Ihre Augen sprühten Blitze. Doch Peter ließ sich nicht provozieren, sondern erwiderte ruhig: "Was ist los mit dir? Ich spüre ganz deutlich, dass dich etwas bedrückt. Möchtest du darüber reden?" Seine Gelassenheit wirkte besänftigend auf das aufgebrachte Mädchen. Sie senkte den Blick, öffnete die Fäuste und atmete ein paar Mal langsam, tief durch. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch sie drehte sich schnell weg, damit Peter es nicht sah. "Was soll schon los sein? Ich hab halt einen schlechten Tag und bin genervt, weiter nichts", erwiderte sie mürrisch. Doch natürlich ließ sich Peter davon nicht täuschen. Er trat zu ihr und hob sanft ihr Kinn an, bis er in ihre Augen sehen konnte. "Tanya, ich merke doch, dass du Kummer hast. Dein ganzes Wesen strahlt eine Traurigkeit aus, die einen fast umwirft. Lass mich dir helfen." Ängstliche grüne Augen blickten forschend in besorgte haselnussbraune. Plötzlich fielen Tanyas Barrieren, sie warf sich schluchzend in Peters Arme. Er hielt sie einfach umfangen und wartete geduldig, bis die Tränenflut etwas abebbte. Es dauerte eine ganze Weile, bis Tanya sich soweit gefangen hatte, dass sie sprechen konnte. Zwischen erneuten Schluchzern stieß sie hervor: "Ich.. ich habe nächste Woche... Geburtstag, und... und D-daddy... er hat Mom ein großes Paket geschickt mit einem Geschenk für mich, und da..." Ihre Stimme zitterte. "… d-da war ein Brief dabei. Mit... mit den Sch-scheidungs... p-papieren." Erneut flossen die Tränen. "Jetzt ist er wirklich weg! Endgültig, für immer!... Er wird mich vergessen über seinem anderen Kind!... Und ich vermisse ihn so!... Warum ist er denn nur weggegangen???" Peters Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen angesichts ihrer Verzweiflung. Er konnte es ihr so gut nachfühlen, hatte er doch dasselbe durchgemacht. Wie sehr wünschte er sich, ihr helfen zu können! Doch er konnte ihr weder den Vater zurückbringen noch den Schmerz wegzaubern. Aber eines konnte er für sie tun: sie tröstend im Arm halten und weinen lassen, ihr zeigen, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein fertig werden musste. Sie brauchte ihre Gefühle nicht in sich hineinzufressen. Sie hatte Menschen, die für sie da waren und sich um sie sorgten. Ihre Mutter. Ihren Großvater. Und mich. * * * Kapitel 4 Als Theo Perkins ins Jugendzentrum kam, um seine Enkelin abzuholen, hatte Tanya sich bereits halbwegs wieder gefasst. Peter und sie saßen auf dem Boden; Tanya erzählte von der Zeit vor dem Auszug ihres Vaters, und Peter hörte aufmerksam zu. Die Erinnerungen waren schmerzhaft, und immer wieder füllten sich Tanyas Augen mit Tränen; doch nun wurden sie nicht mehr unterdrückt, sondern durften frei fließen. Das war ein gewaltiger Fortschritt. "Ich will doch nur, dass alles wieder so wird wie damals. Warum musste er denn unbedingt ausziehen und ein neues Kind haben? Warum nur?... Hat er mich denn gar nicht mehr lieb? Was habe ich denn falsch gemacht?... Es tut so weh, ich vermisse ihn so sehr." "Ja, es tut verdammt weh. Ich kenne das, ich habe es selbst erlebt. Deshalb weiß ich auch, dass der Schmerz noch eine ganze Weile lang bleibt und erst nach und nach weniger wird. Aber wenn du versuchst, den Schmerz zu ignorieren, wird er nur noch größer. Lass ihn nicht weiter wachsen. Wenn es dir schlecht geht, das sag das auch. Sprich mit deiner Familie, komm zu mir oder erzähle es einer Freundin. Dein Kummer verschwindet zwar nicht, bloß weil du ihn mit anderen teilst. Aber er ist leichter auszuhalten." Wider Willen musste Tanya lächeln. "So wie heute?" "So wie heute", bestätigte Peter. * Während der Fahrt nach Hause sprach Tanya kein Wort. Sie wirkte ungewöhnlich nachdenklich. Theo fragte sich, was zwischen seiner Enkelin und ihrem Lehrer vorgefallen war. Dass Tanya geweint hatte, sah ein Blinder, und auch Peter Caine schien nicht ganz so ruhig und gelassen wie sonst. Auf Theos Frage hatte er jedoch nur gelächelt und eine äußerst unbefriedigende Antwort gegeben: "Tanya hat heute einen großen Fortschritt gemacht, sie hat ihrem Schmerz Raum gegeben. Das ist ein gutes Zeichen." Kryptisch, sehr kryptisch. "Grandpa?" Tanyas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. "Ja, m..Tanya?" Beinahe hätte er ganz automatisch "mein Kind" gesagt – eine sichere Methode, seine Enkelin zu verärgern. Mit ihren fast dreizehn Jahren empfand sie die Bezeichnung 'Kind' als Beleidigung. Nun ja, sie war sie auch kein reines Kind mehr, sondern schon in der Pubertät. Sie schien den Lapsus nicht bemerkt zu haben und fragte: "Wie gut kennst du Mr. Caine?" "Warum?" "Weil er heute eine Bemerkung gemacht hat, die mir nicht aus dem Kopf geht... da wüsste ich gerne mehr, und ich dachte, vielleicht kannst du mir was dazu sagen?" Theo erwiderte: "Tut mir leid, ich weiß nicht, ob ich dir da helfen kann. Ich hatte ihn nur ein einziges Jahr als Schüler, das war vor... lass mich nachrechnen... hm, es muss so an die siebzehn, achtzehn Jahre her sein. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen bis vor gut drei Wochen. – Was hat er denn zu dir gesagt?" Er bekam lange keine Antwort. Gerade als er die Frage wiederholen wollte, sagte Tanya: "Er sagte mir, der Schmerz darüber, dass Daddy weg ist, wird noch lange bleiben, und es wird eine Zeit dauern, bis er weniger wird. Und er sagte 'ich habe das selbst erlebt'. Ich frage mich... " Sie versank wieder in Grübeln. Als sie in die Einfahrt zu ihrem Zuhause bogen und Theo anhielt, um Tanya aussteigen zu lassen, fragte sie: "Meinst du, seine Eltern sind auch geschieden?" Theo schüttelte den Kopf. "Nein. Als er mein Schüler war, lebte er im Waisenhaus. Seine Eltern sind also tot. – Warum fragst du ihn nicht selbst?" Ihre Augen weiteten sich. "Tot? Oooh... Das ist ja noch schlimmer als geschieden." Doch dann runzelte sie die Stirn. "Nein, das kann nicht sein. Sein Vater ist nicht tot, er ist Apotheker in Chinatown. Letzte Woche kam er nämlich kurz im Jugendzentrum vorbei, und Mr. Caine hat ihn mir vorgestellt." "Meinst du vielleicht seinen Pflegevater? Er hat mir bei unserem Treffen von seinem Pflegevater erzählt." "Nein, nein, er hat bestimmt Vater gesagt, nicht Pflegevater." Tanya war sich ihrer Sache sehr sicher. "Komisch... Warum sagt er sowas, wenn sein Vater in Wirklichkeit tot ist?" Täuschte er sich, oder klang sie schon wieder ein bisschen argwöhnisch? Misstrauen zwischen ihr und ihrem Lehrer zu säen, war das letzte, das Theo wollte. Vor allem, da ihr die Stunden so gut taten. "Frag ihn am besten selbst. Wir hatten bei dem Treffen im Waisenhaus nicht so viel Zeit, uns darüber zu unterhalten, vielleicht habe ich da was falsch verstanden." Wir haben ja auch nicht groß über Peter Caine, sondern hauptsächlich über dich und deine Probleme gesprochen. Aber das muss ich dir nicht auf die Nase binden, mein Kind. Tanya schnaubte. "Ja, klar, ich gehe einfach zu ihm und frage ihn, wie er dazu kommt, mir jemand als seinen Vater vorzustellen, wo er doch im Waisenhaus aufgewachsen ist, und warum er mich angelogen hat. Nichts leichter als das." "Du brauchst gar nicht so sarkastisch zu sein, junge Dame. Ich meine das ernst. Du weißt doch gar nicht, ob er wirklich gelogen hat, und der einfachste Weg, um das herauszufinden, ist, ihn danach zu fragen." "Hm, ja, mal sehen." Nach dieser wenig aussagekräftigen Bemerkung öffnete Tanya die Tür und stieg aus. "Danke fürs Abholen, Grandpa. Schönen Abend noch, und bis morgen." Theo sah ihr nach, wie sie langsam zum Haus ging. Er wünschte ihr so sehr, dass der heutige Tag wirklich den großen Fortschritt für Tanya gebracht hatte, von dem der junge Sozialarbeiter gesprochen hatte. * * * Kapitel 5 Am nächsten Tag hatte Peter einiges an Papierkram zu erledigen. Behördengänge, Anträge, Berichte – all das hatte er schon als Polizist schrecklich gefunden und immer so lange wie möglich vor sich her geschoben. Mehr als einmal hatte er sich deswegen Ärger mit Chief Strenlich oder Captain Simms eingehandelt. Als Sozialarbeiter hatte er keinen Chef mehr, der ihn an ausstehende Berichte oder Anträge mehr erinnerte. Doch wenn er eine Abgabefrist verpasste, drohten schlimmere Folgen als Extra-Nachtschichten oder Dienst am Wochenende. Vor allem trafen sie nicht Peter, sondern seine Schützlinge. Deshalb hatte er sich wohl oder übel angewöhnt, die ungeliebte Büroarbeit regelmäßig und zuverlässig zu erledigen. Schließlich wollte er keinesfalls daran schuld sein, dass ein Projekt abgelehnt wurde oder einem Jugendlichen dringend benötigte Unterstützung versagt blieb, nur weil Peter den erforderlichen Antrag zu spät abgegeben hatte. Als Ansporn, die Arbeit möglichst zügig hinter sich zu bringen, genehmigte er sich meist danach einen Ausflug zu Caps Hot Dog-Stand. Shaolin hin, gesunde Ernährung her, er liebte Fast Food einfach. Da er, seit Kendra schwanger war, in ihrer Gegenwart selbstverständlich darauf verzichtete, freute er sich umso mehr, wenn er sich mit einem Hot Dog und einem ausführlichen Schwatz mit Cap dafür belohnen konnte, dass er einen Aktenstapel abgearbeitet hatte. Uff, fast geschafft! Nur noch einen Bericht an die Stadt, und dann muss ich nochmal versuchen, Chiangs Bewährungshelfer endlich an die Strippe zu bekommen. Dann habe ich mir meinen Hot Dog aber redlich verdient! Ich habe schon einen Riesenhunger. – Wie spät ist es eigentlich? Was, schon fast zwei Uhr? Da muss ich aber jetzt schnell sein, sonst schaff ich es nicht bis zu Cap und von dort aus zum 101., mein Termin bei Captain Simms ist ja bereits um drei. Peter hatte gerade mit dem Bericht begonnen, als er ein Klopfen an der Bürotür vernahm. "Herein." Die Tür wurde langsam geöffnet, und Tanya trat zögernd über die Schwelle. "Hallo, Mr. Caine." Nanu? Sie hatte doch erst am nächsten Tag wieder eine Stunde. Was war da los? "Hallo, Tanya. Komm herein, setz dich. Ist etwas passiert?" Sie wand sich verlegen. "N..nein, es ist nichts passiert. Aber Sie haben gestern etwas gesagt, das mich beschäftigt. Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, und... und außerdem... mein Großvater hat gesagt, Ihre Eltern sind tot, aber ich habe doch neulich Ihren Vater getroffen, und da... da möchte ich gerne..." Sie brach ab, schien nicht zu wissen, wie sie ihr Anliegen am besten formulieren sollte. "Du möchtest gerne wissen, wie das zusammenpasst, nicht wahr?" "Ja." Sie nickte, ganz offensichtlich erleichtert dass Peter ihr nicht böse war. "Ich meine, es geht mich ja nichts an, aber ich... mich hat das halt interessiert." Das ist ja wohl schamlos untertrieben, meine Liebe. Wenn du nicht einmal bis zu deiner nächsten Unterrichtsstunde morgen Nachmittag warten kannst, um mir diese Frage zu stellen, dann muss sie dir aber sehr stark unter den Nägeln brennen. Peter warf ihr einen prüfenden Blick zu. "Hast du schon zu Mittag gegessen?" "Nein, ich bin direkt nach der Schule hergekommen. Wieso?" "Hier um die Ecke ist eine kleine Garküche, wie wär's, wenn wir dort hingehen und uns beim Essen weiter unterhalten? Ich habe einen Bärenhunger." "Oh ja, ich auch! Ich esse sonst immer in der Schule, aber heute wollte ich lieber gleich hierherkommen", gestand sie mit einem kleinen, verlegenen Grinsen. "Worauf warten wir dann noch? Nichts wie los, ich lade dich ein." * In der Garküche half Peter Tanya beim Bestellen. Er fragte sie nach ihren Wünschen und übersetzte dann für sie, denn die Besitzerin sprach nur Chinesisch. Tanya war sichtlich beeindruckt. Sie flüsterte ihm zu: "Wow! Ich wusste gar nicht, dass Sie Chinesisch sprechen." Peter grinste. "Glücklicherweise habe ich das schon als Kind gelernt. Ohne Chinesischkenntnisse könnte ich als Sozialarbeiter nämlich einpacken, weil viele Leute keinem vertrauen, der ihre Sprache und Gebräuche nicht versteht." Sie bekamen ihr Essen und setzten sich in eine ruhige Ecke. Während sie den ersten Hunger stillten, schwiegen sie. Dann legte Tanya los: "Also, wie war das mit Ihren Eltern? Wieso waren Sie im Waisenhaus, wo Ihr Vater doch gar nicht tot ist?" "Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ein kleines Kind war. Ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern. Nach ihrem Tod zog mein Vater mit mir in einen Shaolintempel, wo wir zusammen lebten, bis ich zwölf Jahre alt war und der Tempel bei einem Brandanschlag zerstört wurde. Mein Vater und ich wurden voneinander getrennt, und man sagte mir später, mein Vater sei tot. Ein alter Mönch hat sich meiner angenommen, bis er angeblich schwer krank wurde und sich nicht mehr um mich kümmern konnte. Aber das stimmte nicht, in Wirklichkeit wollte er mich an einem Ort unterbringen, wo ich sicher war vor den Leuten, die den Tempel zerstört hatten. Und weil ich sonst keine Verwandten mehr hatte, hat er mich halt ins Waisenhaus gebracht. Die drei Jahre dort waren die schlimmsten meines Lebens. Ich habe lange gebraucht, bis ich ihm das verziehen habe." "Aber was war mit Ihrem Vater? Warum hat der sich nicht um Sie gekümmert?" "Er hielt mich für tot, genauso wie ich ihn. Deshalb wollte er nur noch weg und ist auf Wanderschaft gegangen." "Wanderschaft? Sie meinen, wie ein Landstreicher?" Peter musste grinsen. "Nicht ganz, aber so ähnlich. Er ist ganz schön weit herumgekommen, hat mal hier gearbeitet, mal dort. Und nach einer Weile hat es ihn fortgetrieben, dann ist er wieder weitergezogen an einen anderen Ort." "Cool! Das war bestimmt aufregend! – Und wie haben Sie sich wiedergefunden?" "Er kam hierher nach Chinatown, weil er hier etwas erledigen wollte. Schon bald nach seiner Ankunft wurde er in den Kampf gegen einen Gangsterboss hineingezogen, der die kleinen Ladenbesitzer hier erpresste. Ich war damals Polizist auf dem 101. Revier und habe als verdeckter Ermittler versucht, an den Gangsterboss, er hieß Tan, heranzukommen. Dabei sind mein Vater und ich uns quasi über den Weg gelaufen." "Hammerhart!", war alles, was Tanya dazu einfiel. Sie war überwältigt, brauchte erst einmal Zeit, die vielen Informationen zu verarbeiten. Peters Gedanken wanderten zurück zu jenem Abend, an dem er seinen Vater zum erstenmal kurz gesehen hatte, ohne ihn zu erkennen. * * * Flashback * * * Zwei von Tans Gorillas haben ihn gerade zu einem Treffen mit ihrem Boss 'eingeladen'. Sie sind auf dem Weg zu ihren Autos, als ein loderndes Feuer ihre Aufmerksamkeit erregt. Flammen schlagen aus dem Fenster eines mehrstöckigen Backsteinhauses. Qualm und Ruß überall. Schaulustige stehen herum, die Feuerwehr ist gerade angekommen. Peter kann seinen Pflegevater Paul Blaisdell sehen, der sich kurz mit dem Kommandeur des Löschzugs unterhält und dann die Löscharbeiten beobachtet. Wie gern wäre er jetzt zu ihm hinübergegangen, um ihm von seiner 'Eintrittskarte' in die Höhle des Löwen zu berichten! Aber in der Öffentlichkeit muss er natürlich so tun, als kenne er ihn überhaupt nicht. Mehr als einen kurzen Blickkontakt aus dem Augenwinkel heraus gestattet er sich nicht. Doch er ist sich sicher, dass Paul ihn verstanden hat. Ein kaum merkliches Nicken bestätigt ihm das. Plötzlich kommt Bewegung in die Herumstehenden. Jemand deutet auf den Eingang des Hauses. Als Peter genauer hinsieht, kann er erkennen, dass ein Mann durch den Qualm auf sie zukommt. Er trägt einen reglosen Menschen auf den Armen, als sei das gar nichts. Als Sanitäter zu ihm laufen und ihm helfen, seine kostbare Last auf eine fahrbaren Krankentrage zu betten, sieht Peter die Brandmale. Ein Drache und ein Tiger – der Retter ist Shaolinpriester! Peter muss seinen ersten Impuls, zu dem Unbekannten hinzulaufen, gewaltsam unterdrücken. Er ist schließlich als verdeckter Ermittler hier und hat sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Persönliches muss zurückstehen. Verdammt! Verdammt! Verdammt! Dabei möchte er in diesem Augenblick nichts sehnlicher als hinüberlaufen und den Priester fragen, ob er vielleicht einmal einem anderen Shaolin begegnet ist. Kwai Chang Caine. Peters Vater, der ihm vor nunmehr fünfzehn Jahren so grausam entrissen wurde. Plötzlich geben die Knie des Unbekannten nach, und er bricht ohnmächtig zusammen. Die Rettungskräfte hieven ihn auf eine schnell herbeigebrachte Trage und laden diese in den Krankenwagen. Gut. Wenn er ins Krankenhaus gebracht wird, kann Peter ihn ganz leicht finden. Doch auch wenn er sich von dem Unbekannten auf der Trage fast magisch angezogen fühlt, muss er sich schweren Herzens wieder auf sein Vorhaben besinnen. Er wird mit den beiden Gangstern gehen und sich ihrem Boss als Scharfschütze anbieten. Schließlich braucht er Beweismaterial, um ihm das Handwerk legen zu können. Aber morgen – gleich morgen früh wird er ins Krankenhaus fahren und den fremden Shaolinpriester nach Kwai Chang Caine fragen... * * * Ende Flashback * * * "Mr. Caine?" Er schrak hoch. Tanya hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt und musterte ihn besorgt. "Ist alles in Ordnung?" "Ja, alles ok. Entschuldige bitte, ich war gerade mit meinen Gedanken in der Vergangenheit. Tut mir leid." Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. "Kein Problem. – Darf ich Sie noch was fragen?" "Alles was du willst. Nur zu, Fräulein Wissbegierig, schieß los." "Sie haben gesagt, Sie waren Polizist. Wieso sind Sie jetzt Sozialarbeiter?" Peter lächelte versonnen. "An meiner Berufwahl waren meine beiden Väter in ganz erheblichem Maß mitbeteiligt. Mein Pflegevater war Polizist; ich habe ihn kennengelernt, als er ins Waisenhaus kam, um uns Kindern etwas über Polizeiarbeit zu erzählen. Durch seinen Vortrag wurde mir klar, dass ich als Polizist in der Lage sein würde, anderen zu helfen, so ähnlich wie es die Shaolin tun. Shaolinpriester konnte ich ja nicht mehr werden, nachdem der Tempel abgebrannt war und die Mönche in alle Winde verstreut waren, also schien Polizeidienst die bestmögliche Alternative. So kam's, dass ich die Polizeischule besuchte und nach der Abschlussprüfung auf dem 101. Revier übernommen wurde. Als ich dann meinen Vater wiederfand, war das ein ziemlicher Kulturschock für uns beide. Ich hatte mich an die westliche Lebensart gewöhnt und im Lauf der Jahre ziemlich von den Lehren meiner Kindheit entfernt. Mein Vater hat sie mir wieder ins Bewusstsein gebracht; nach und nach wurde mir klar, dass es meine Bestimmung ist, Shaolin zu sein. Also habe ich die Brandmale angenommen und bei der Polizei gekündigt. Aber ich bin nicht geschaffen für ein Dasein als Apotheker, wie mein Vater es führt. Ich versuche lieber, meine Erfahrungen aus dem Waisenhaus zu nutzen und etwas für die Kids hier zu tun, denen es genauso schlecht geht wie mir damals. Mir wurde soviel geschenkt, da ist es an der Zeit, dass ich nun etwas davon weitergebe an andere." Er grinste. "Außerdem bekomme ich als Sozialarbeiter ein regelmäßiges Gehalt. Ein Leben ganz ohne Einkommen hat gewaltige Nachteile, wenn man eine Familie zu ernähren hat." Tanya schüttelte verständnislos den Kopf. "Na, ich weiß nicht... Was Sie alles erlebt haben, muss ganz schön heftig gewesen sein... Ich meine, Sie haben geglaubt, Ihr Vater ist tot, und Sie hatten eine schreckliche Zeit im Waisenhaus... Wie können Sie da sagen, dass Ihnen viel geschenkt wurde? Das kapiere ich nicht." "Das ist alles eine Frage der Sichtweise. Alles Schlechte, das einem widerfährt, bringt gleichzeitig auch etwas Gutes mit sich, auch wenn man das manchmal erst viel später sehen kann. Mein Vater würde sagen: 'Wenn du eine Rose erblickst, kannst du dich vor ihren Dornen fürchten oder dich an ihrem Duft erfreuen. Du hast die Wahl.' Ich habe lange Zeit damit verbracht, auf die Dornen zu starren; aber inzwischen versuche ich, statt dessen den Duft zu genießen." "Das ist mir zu hoch." "Entschuldige, war keine Absicht. Sich unverständlich auszudrücken scheint so eine Art Shaolin-Berufskrankheit zu sein." Peter musste grinsen, doch dann wurde er schnell wieder ernst. "Es ist ganz einfach: ohne die schlimmen Zeiten in meinem Leben könnte ich das viele Gute, das ich erlebt habe, nicht richtig schätzen. Nimm die Zeit nach der Zerstörung unseres Shaolintempels: die ersten drei Jahre waren die reine Hölle für mich; ich hatte von einem Tag auf den anderen meinen Vater und alle Freunde verloren und wurde ins Waisenhaus gesteckt, wo mich die meisten anderen Kinder auslachten, weil ich anders war als sie und vieles nicht kannte, das für sie selbstverständlich war. Sie nannten mich den 'verrückten Chinesenbalg'. Damals glaubte ich nicht, dass ich jemals wieder glücklich sein würde im Leben. Aber andererseits hätte ich ohne die Zeit im Waisenhaus meine Pflegeeltern nicht kennengelernt. Ich habe ihnen unheimlich viel zu verdanken; bei ihnen habe ich zum ersten Mal überhaupt erfahren, was ein harmonisches Familienleben ist, wie es ist, eine Mutter zu haben und Geschwister. Ich verstehe bis heute nicht, warum sich meine Pflegeeltern ausgerechnet für mich interessiert haben – ich war mitten in der Pubertät, mufflig, kratzbürstig, voller Selbstmitleid und Zorn, äußerst misstrauisch und manchmal auch aggressiv, und ich ließ niemand an mich heran, weil ich nur Schlechtes von allen anderen erwartete. So jemanden holt man sich nicht als Pflegekind ins Haus. Da sind Probleme vorprogrammiert. Und dennoch wollten sie gerade mich haben, niemand anderen. Sie haben sich nicht davon abbringen lassen. Solche Erfahrungen habe ich immer wieder gemacht. Jedesmal wenn ich dachte, es geht nicht mehr weiter, habe ich Hilfe erfahren. Nun ja, jetzt versuche ich meinerseits zu helfen so gut es geht. Ich schaffe es nicht immer, aber versuchen muss ich es wenigstens." Seine Worte machten Tanya betroffen. Sie saß eine Weile still und in sich gekehrt da. Dann sagte sie langsam: "Hm, darüber muss ich länger nachdenken. Vielen Dank, dass Sie mir das erzählt haben." "Keine Ursache. Willst du sonst noch – " Da fiel sein Blick auf die Uhr an der Wand gegenüber. Entsetzt starrte er auf die Zeiger. "O mein Gott, schon zehn vor drei! Es tut mir leid, Tanya, aber wir müssen unser Gespräch ein andermal fortsetzen. Ich habe um drei Uhr einen Termin bei der Polizei und muss schleunigst los, sonst komme ich zu spät. Ich begleite dich noch zurück zum Jugendzentrum, von da aus findest du ja nach Hause. " * Als Peter sich schließlich von Tanya verabschiedete und im Laufschritt zur Besprechung mit seiner ehemaligen Chefin eilte, ließ er ein äußerst nachdenkliches Mädchen zurück. Es tat ihm leid, dass er sie einfach so stehen lassen musste; aber vielleicht war es gut, dass sie vor der Fortsetzung des Gesprächs ein wenig Zeit hatte, alles zu verarbeiten, was er ihr erzählt hatte. Er war sicher, dass ihr die Parallelen zwischen seiner Kindheit und ihrer eigenen Situation auffallen würden, sie war schließlich ein intelligentes Mädchen. Und vielleicht schöpfte sie ja ein wenig Hoffnung für sich selbst aus der simplen Tatsache, dass sich Peters Leben trotz aller schrecklichen Erlebnisse wieder zum Guten gewendet hatte? Er wünschte es ihr von Herzen. * * * Epilog Am darauffolgenden Freitag parkte Peter seinen Stealth vor dem Grundstück der Leylands, stieg aus und lief die kurze Einfahrt entlang bis zum Haus. Tanya hatte ihn zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen. Als sie gehört hatte, dass er am Wochenende unterwegs sein würde, war sie todtraurig gewesen. Daraufhin hatte er spontan beschlossen, doch nicht am Freitag, sondern erst frühmorgens am Samstag zu Pauls Hütte zu fahren. Dann konnte er sowohl Tanyas Feier besuchen als auch die Nacht mit Kendra verbringen. Sie war dann nur eine einzige Nacht allein; er hatte ohnehin ein schlechtes Gewissen, dass er sich so kurz vor der Geburt des Babys einfach für zwei Tage verkrümelte, auch wenn Kendra ihn deswegen ausgelacht hatte. Auf sein Klingeln öffnete ihm eine attraktive Frau von Mitte Vierzig, die Tanya sehr ähnlich sah. Das musste ihre Mutter, Edith Leyland, sein. Peter stellte sich vor, überreichte ihr einen kleinen Blumenstrauß und bedankte sich für die Einladung. Sie antwortete, sichtlich erfreut über die nette Geste: "Herzlich willkommen, Mr. Caine! Vielen Dank für die schönen Blumen. Bitte kommen Sie doch herein. – Ich freue mich, dass ich jetzt endlich die Gelegenheit habe, mich persönlich dafür zu bedanken, was Sie für meine Tochter tun. Sie ist wie verwandelt, seit Sie ihr geholfen haben, mit dem Schock fertig zu werden, den ihr die Scheidung versetzt hat, oder vielmehr die Tatsache, dass sie jetzt rechtskräftig ist und ihr Vater auf keinen Fall wieder zurückkommt. Tanya war zuerst total verzweifelt. Aber nun geht es ihr viel besser, und so langsam beginne ich wieder daran zu glauben, dass sie sich doch wieder fängt. Das haben wir nur Ihnen zu verdanken." Peter schüttelte den Kopf. "Nein, nein, Mrs. Leyland, das ist ganz gewaltig übertrieben. In einer solchen Krise, wie Tanya sie durchlebt, ist es oft viel leichter, sich einem Außenstehenden anzuvertrauen, und das war eben ich. Ich hatte einfach das Glück, dass Tanya in mir einen neutralen Ansprechpartner sieht, der nicht zur Familie gehört und ihr auch nicht von der Schule oder einer offiziellen Stelle 'aufs Auge gedrückt' worden ist. Es war sicher auch von Vorteil, dass ich mit KungFu etwas unterrichte, das ihr viel Spaß macht, und dass ich nicht versucht habe, mit ihr über ihre Probleme zu sprechen, was sie garantiert als Aushorchen missverstanden hätte." "Seien Sie nicht so bescheiden, mein Lieber. Wir sehen doch, wie gut ihr das KungFu-Training tut. Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar dafür." Ihr Gespräch wurde von Tanya unterbrochen, die herbeigelaufen kam und Peter freudestrahlend begrüßte. "Hallo, Mr. Caine. Super, dass Sie da sind! Ich hatte schon Angst, Sie können doch nicht kommen." "Ich hatte es doch versprochen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Tanya!" Er überreichte ihr ein kleines Päckchen. "Ich hoffe, es gefällt dir." "Oh, danke! Es ist bestimmt toll. Ich mache es gleich auf, aber zuerst muss ich Ihnen etwas zeigen. Bitte, kommen Sie mit!" Sie packte ihn an der Hand und zog ihn hinaus in den Garten, was er sich lachend gefallen ließ. So glücklich hatte er Tanya noch nie erlebt, und er freute sich unbändig für sie. Draußen stand Theo Perkins und unterhielt sich mit einem jungen Mann, der mit dem Rücken zu ihnen stand. Tanya zog Peter zu den beiden hin und sagte stolz: "Mark, das ist mein KungFu-Lehrer, Mr. Caine. – Mr. Caine, das ist mein Bruder Mark." Peter begrüßte Mark und seinen Großvater und schüttelte beiden die Hände. Mark sagte: "Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr. Caine. Tanya hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Nein, das ist untertrieben, sie spricht die ganze Zeit nur noch von Ihnen und davon, wie toll Ihr Unterricht ist." Tanya wurde puterrot. Sie stieß ihren Bruder in die Rippen und widersprach: "Übertreib doch nicht so schamlos! – Stellen Sie sich vor, Mr. Caine, Mark hat heute seine Vorlesungen geschwänzt, nur um zu meinem Geburtstag zu kommen!" Mark lachte: "Nachdem mein kleines Schwesterchen mich extra angerufen hat, um mir zu sagen, wie sehr sie mich vermisst, konnte ich das Wochenende ja wohl schlecht in meiner Studentenbude auf dem Campus verbringen und für die nächste Klausur lernen. " Er zwinkerte Peter zu und sagte, zu Tanya gewandt: "Ich hoffe, du bist dir darüber im klaren, dass ich nun deinetwegen einen Monat lang von Wasser und Brot leben muss, weil der teure Flug mein ganzes Geld verschlungen hat." "Wer's glaubt, wird selig", erwiderte Tanya. "Ich wette, Grandpa und Ma haben dir den Flug bezahlt, du Märchenerzähler." "Touché." "Hab ich mir doch gedacht. Zur Strafe für deinen Schwindel lasse ich dich jetzt links liegen, und ich packe jetzt erstmal Mr. Caines Geschenk aus. Ätsch." Tanya streckte ihrem Bruder die Zunge heraus und zog Peter weiter, zu einer Bank. Sie nahmen Platz, und das Mädchen öffnete neugierig das Päckchen. Zum Vorschein kamen ein Bildband über KungFu und ein abschließbares Tagebuch. Tanya starrte stumm darauf, ohne ein Wort zu sagen. Etwas verlegen meinte Peter: "Ich weiß nicht, ob du schon ein Tagebuch hast? Aber ich dachte mir, manchmal ist es leichter, Gefühle niederzuschreiben als sie jemandem zu erzählen. Vielleicht geht es dir ja auch so? In den Jahren nach der Zerstörung unseres Tempels habe ich immer Briefe an meinen 'toten' Vater geschrieben, wenn ich glaubte, es nicht mehr aushalten zu können. Auch in der ersten Zeit bei meinen Pflegeeltern gab es immer wieder Krisen, bei denen es mir sehr geholfen hat, dass ich mir meinen Frust von der Seele schreiben konnte. Auch wenn ich diese Briefe hinterher wieder zerrissen habe. Wichtig war ja nur, dass ich meine Gefühle zugelassen und geäußert habe, anstatt sie zu verdrängen." Das Mädchen erwachte aus ihrer Erstarrung. "Vielen Dank für das tolle Geschenk, Mr. Caine. Ich... Wissen Sie, dass ich das schon ausprobiert habe? Meine Gefühle und meinen Schmerz äußern, meine ich. Und es hat funktioniert!" Auf Peters fragende Miene hin erklärte sie: "Sie hatten mir das ja letzte Woche gesagt, und da habe ich mich getraut und Mark angerufen. Ich habe ihm gesagt, wie sehr er mir fehlt, und dass ich es so schade finde, dass er an meinem Geburtstag nicht hier sein kann, sondern an der Uni ist. Danach ging's mir viel besser als vorher. Und das Schönste ist – jetzt ist Mark doch da! Ich glaube nicht, dass er gekommen wäre, wenn ich ihn nicht angerufen hätte, denn der Flug ist wirklich sehr teuer." Sie drückte die Bücher an sich und versicherte: "Das mit dem Tagebuch ist eine ganz tolle Idee, ich werde es bestimmt oft benutzen. Vielen, vielen Dank! – Und danke auch für das Buch über KungFu. Das schau ich mir heute Abend ganz genau an." Es wurde ein sehr vergnügter Nachmittag. Peter war froh, Tanya so glücklich zu sehen. Das Mädchen hatte noch viel zu verarbeiten, aber sie war auf einem guten Weg. Vor allem schloss sie ihre Familie nicht mehr so penetrant aus wie vorher. Sie würden es schaffen. Gemeinsam. ENDE
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