Autor: Turandot
 

Annie schob gerade den Teig für Peters Geburtstagskuchen in den Ofen, als sie hörte wie die Haustür vorsichtig geöffnet und wieder geschlossen wurde. Unverkennbarer Stallgeruch wehte kurz zu ihr in die Küche, dann waren leise Schritte zu hören, die den Flur entlang und die Treppe hinauf in Richtung Badezimmer verschwanden. Peter war also zurück vom Reiterhof der Bakers (er half da oft am Freitag nach der Schule), und wenn er sich so an ihr vorbeischlich anstatt sie vor dem Duschen wenigstens zu begrüßen, musste er ein ziemlich schlechtes Gewissen haben.

Mrs. Henderson zufolge hatte er auch allen Grund dazu. Sie hatte kurz nach Schulschluss völlig aufgelöst bei Annie angerufen und sich bitter über "diesen verwilderten Teenager" beschwert, der ständig mit ihrem Ronny Streit anfange und ihn bedrohe. Heute habe er ihn auf dem Nachhauseweg fast krankenhausreif geschlagen. Das sei nicht das erste Mal gewesen, und wenn die Blaisdells diese Gewaltexzesse nicht in den Griff bekämen, würde sie, Mrs. Henderson, höchstpersönlich dafür sorgen, dass der Schläger wieder im Waisenhaus verschwinde – oder in der Erziehungsanstalt, wo er eigentlich hingehöre. Es gehe nicht an, dass er permanent unschuldige Kinder terrorisiere.

Annie seufzte, als sie an das Telefonat dachte. Nur mit Mühe und viel Diplomatie hatte sie die aufgebrachte Mutter soweit beruhigen können, dass sie von übereilten Aktionen absah. Nicht dass sie damit Erfolg gehabt hätte – der "arme Ronny" war bekanntermaßen alles andere als ein Unschuldslamm (was Mrs. Henderson bequemerweise völlig ignorierte). Er war schon mehrmals mit Peter aneinandergeraten, weil der stets dazwischenging, wenn er mitbekam dass Ronny jüngere Mitschüler piesackte.

Das war typisch Peter – immer bereit, Schwächere zu beschützen, ohne zu überlegen, ob er sich möglicherweise selbst Ärger einhandelte. Paul und sie waren beide sehr stolz darauf, dass Peter soviel Zivilcourage zeigte und nicht wegsah, wenn er ein Unrecht bemerkte. Wenn er nur sein Ungestüm und den Übereifer, mit dem er manchmal übers Ziel hinausschoss, in den Griff bekäme! Aber das würde ihm mit der Zeit sicher gelingen, erst musste er richtig Fuss fassen in seinem neuen Leben – in seiner Pflegefamilie, der neuen Schule, der neuen Klassengemeinschaft.

Rein äußerlich hatte er sich in den vier Monaten seit seiner Ankunft ganz gut eingewöhnt, er war recht beliebt in der Schule und in der Nachbarschaft. Mit seinen Schwestern verstand er sich ausgesprochen gut, und so langsam taute er auch Paul und ihr gegenüber auf. Aber er hatte zuviel Schlimmes erlebt als dass er ihnen bereits völlig vertraute. Er konnte immer noch nicht glauben, dass sie ihn wirklich in ihr Herz geschlossen hatten, dass sie ihn liebten wie ein eigenes Kind. Er nannte sie auch stets beim Vornamen, konnte sich (noch?) nicht dazu durchringen, "Mom" und "Dad" zu sagen wie die beiden Mädchen. Aber sie waren entschlossen, um sein Vertrauen zu kämpfen. Peter brauchte einfach Zeit, und die sollte er bekommen.

Die Badezimmertür ging, Schritte kamen die Treppe hinunter. Aha, jetzt würde Peter sicher gleich kommen und seine Untaten gestehen. Sie war wirklich gespannt, was es diesmal war. Vermutlich der Ärger mit Ronny.

"Annie, bist du da?" erklang Peters Stimme. – "Ja, ich bin hier in der Küche."

Peter kam herein. Annie begrüßte ihn: "Hallo Peter, du kommst genau zur rechten Zeit. Mir ist gerade nach Kaffeepause, möchtest Du eine Tasse mittrinken?"

"Nein, ich... ich muss dir etwas sagen. Ich... ich...", stammelte Peter, dann brach es plötzlich aus ihm heraus. "Es tut mir so leid, ich habe mich wieder von Ronny Henderson provozieren lassen und mich mit ihm geprügelt, obwohl ich mir ganz fest vorgenommen hatte, mich nicht mehr von ihm ärgern zu lassen. Ich habe die Beherrschung verloren, ich schäme mich dafür."

Er ließ den Kopf hängen, in Erwartung eines Donnerwetters. Als es ausblieb, blickte er hoch und sah, dass Annie ganz ruhig dastand. Offensichtlich wartete sie auf weitere Einzelheiten.

"Er hat mich wieder Chinesenbalg genannt", sagte Peter leise. Er senkte den Blick, schluckte; es fiel ihm sehr schwer, weiterzusprechen. "Und als ich nicht darauf reagiert habe, hat er... schlimme... schlimme Sachen gesagt... über meinen Vater." Das letzte war kaum mehr ein Flüstern.

Aha, so war das also! Annie fühlte, wie Zorn in ihr aufstieg. Ronny Henderson konnte von Glück sagen, dass er nicht anwesend war, denn Annie verspürte das dringende Bedürfnis, dem jungen Mann gründlich den Kopf zu waschen. Peter war in den letzten Tagen wieder ziemlich verschlossen gewesen, er hatte sich sehr in sich selbst zurückgezogen. Es war mehr als deutlich gewesen, dass sein nahender Geburtstag in ihrem Pflegesohn keine Vorfreude hervorrief, sondern Erinnerungen weckte, die ihm ziemlich zu schaffen machten. Bestimmt vermisste er gerade jetzt seinen Vater und sein früheres Zuhause besonders stark. Und dann kam so ein halbstarker Pausenhof-Rabauke daher und setzte ihm mit verletzenden Bemerkungen zusätzlich zu!

Aber Ronny war momentan völlig unwichtig – wichtig war Peter, der immer noch wie ein reuiger Sünder vor ihr stand und auf ihr "Urteil" wartete. Annie ging zu ihm hin und umarmte ihn kurz. Leise sagte sie: "Du vermisst ihn sehr und wünschst, er könnte bei dir sein, nicht wahr? Zu besonderen Anlässen ist der Verlust eines lieben Menschen immer viel stärker zu spüren als sonst; geht es Dir jetzt auch so?"

Erstaunt über soviel Verständnis, wo er eine Gardinenpredigt erwartet hatte, blickte Peter auf.

"Ja, ich vermisse ihn. So sehr, dass es fast körperlich weh tut. Ich habe das Gefühl, dass ich die ganzen Jahre im Waisenhaus völlig erstarrt war und erst jetzt bei euch wieder lebendig werde. Jetzt kommt der ganze Schmerz erst richtig hoch. Gleichzeitig habe ich ein schlechtes Gewissen euch gegenüber, weil ihr euch so um mich bemüht und ich in letzter Zeit immer an meinen Vater denken muss."

"Jetzt hör mir einmal ganz genau zu, Peter. Es ist nur natürlich dass du deinen Vater vermisst. Das hört nicht plötzlich auf, nur weil du eine neue Familie hast. Das soll es auch gar nicht. Du wärst nicht der Peter, den wir liebhaben, wenn du die Erinnerungen an deinen Vater und eure gemeinsame Zeit im Tempel einfach nach Belieben ablegen könntest. Im Gegenteil, das wäre ziemlich herzlos.
Wir wissen, dass du Zeit brauchst, um uns als deine neue Familie zu akzeptieren. Wir werden geduldig warten, bis du soweit bist. Und wir werden nie – hörst du, nie – von dir verlangen, um unsretwillen deinen leiblichen Vater zu vergessen."

Peter merkte, wie er feuchte Augen bekam. Verdammt, er wollte jetzt nicht losheulen!

Das Klingeln der Eieruhr rettete die Situation. Annie fuhr auf. "Ach du meine Güte, der Kuchen! Den habe ich jetzt ganz vergessen! Und ich habe mit der Buttercreme für die Verzierung noch nicht einmal angefangen! Vielleicht magst du mir helfen? Wir könnten uns dabei weiter unterhalten."

Peter hatte eigentlich überhaupt keine Lust auf Küchenarbeit, aber er war so dankbar für Annies Verständnis, dass er alles getan hätte, um ihr eine Freude zu machen. Also holte er bereitwillig den Kuchen aus dem Ofen, stellte ihn auf ein Abkühlgitter und half Annie anschließend beim Anrühren des Vanillepuddings für die Creme. Als er die Dose mit der Vanille öffnete und den würzigen Duft einatmete, musste er plötzlich lächeln. Er liebte diesen Geruch; wie sehr, hatte er schon fast vergessen. Er erinnerte sich an eine Lektion in Pflanzenkunde und meinte: "Wusstest du, dass die Vanille zu den Orchideen gehört? Es gibt etwa 110 Arten, rund 15 davon haben aromatische Kapseln. Die am häufigsten verwendete Art ist die Gewürzvanille, vanilla planifolia, flachblättrige Vanille, sie lebt als Epiphyt in den Tropen, und ihre Früchte werden vor der Reife geerntet, getrocknet und fermentiert. Dadurch werden sie braun und schrumpeln. Innen drin ist ein milchiger Saft, der sich durch die Fermentation in die schwarzbraune, intensiv duftende Masse verwandelt, die wir als Vanille kennen."

"Nein, das wusste ich nicht. Das ist ja hochinteressant."

"Mein Vater hat mir das beigebracht, aber ich hatte es völlig vergessen. Erst durch den wundervollen Geruch habe ich mich wieder daran erinnert."

Bitter fügte er hinzu: "Im Waisenhaus gab es diesen Geruch nicht. Sie benutzen dort keine echte Vanille, die ist viel zu teuer. Für uns gab es immer nur den Ersatz, den man billig im Supermarkt bekommt."

"Auch nicht zu besonderen Anlässen?"

"Wie Geburtstagen? Nein, wo denkst du hin. Wenn sie sowas bei einem Kind gemacht hätten, hätten alle anderen das auch gewollt. Das hätte sich das Waisenhaus doch keinesfalls leisten können. Oder wollen."

"Habt ihr denn Geburtstage gar nicht gefeiert?"

"Doch, schon. Aber mit möglichst wenig Aufwand und Kosten. Mittags gab's eine besondere Nachspeise für alle, außerdem einen kleinen Kuchen für das Geburtstagskind, ein Ständchen und ein nützliches oder erbauliches Geschenk." Plötzlich musste Peter grinsen. "Ein nützliche Geschenk war meist etwas zum Anziehen. Das war ja ok. Wehe aber, wenn man ein erbauliches Geschenk bekam – das waren in der Regel schrecklich langweilige Bücher mit Anleitungen zu einem moralisch einwandfreien Leben, klassischen Gedichten oder philosophischen Abhandlungen. Wir haben uns immer gefragt, ob sie diesen Schrott irgendwo in großer Menge auf einem Flohmarkt aufgetrieben haben und ob wir wohl herausfinden könnten wo sie das Zeug lagern. Dann hätten wir es kurzerhand angezündet oder irgendwie anders vernichtet, damit keiner mehr so einen Quatsch als Geschenk bekäme und sich dann auch noch bedanken müsste.

Letztes Jahr, am Vorabend meines Geburtstags, waren wir wieder dabei uns genüsslich vorzustellen, wie wir das Zeug am besten vernichten könnten, als Josh meinte, sie würden dann sicher auf die beschaulichen Geschenke ganz verzichten und nur noch so nützliche Dinge verteilen wie Wäscheklammern oder Bügeleisen für die Mädchen und einen Haufen Nägel und Schrauben für die Jungs. Das fanden wir lustig, und jeder dachte sich irgendeinen Blödsinn als mögliches Geschenk aus. Mein Geheimtipp waren Wärmflaschen, Nate meinte Schuhputzzeug und Philipp Kochbücher. Ich weiß gar nicht mehr, was wir uns noch für Unsinn ausgedacht haben, es war jedenfalls richtig lustig. Irgendeiner fing dann an, sein Kissen auf den Nachbarn zu werfen, und wir stiegen sofort ein und veranstalteten eine tolle Kissenschlacht. Das war einer der lustigsten Abende, die ich in Pineridge je erlebt habe."

Dass die Aufsicht den Lärm der herumalbernden Jungen mitbekommen hatte und die improvisierte Party ein plötzliches Ende mit drakonischen Strafen gefunden hatte, erwähnte Peter nicht. Aber das hatte ihn schon damals nicht weiter berührt, der ausgelassene Abend war die Strafe mehr als wert gewesen.

Heute Abend würde es keine Kissenschlacht im Schlafsaal geben für ihn. Er hatte jetzt ein eigenes Zimmer, Annie verzierte gerade einen riesengroßen Kuchen, und sie würden morgen alle gemeinsam einen Ausflug machen (das hatte er sich statt eines Geschenks gewünscht). Was für ein Unterschied zu letztem Jahr! Wenn er ehrlich war, begann sich in ihm doch so etwas wie Vorfreude und Neugier auf diesen anderen, neuen Geburtstag zu regen. Nein, das stimmte nicht – er war sogar ausgesprochen gespannt auf den morgigen Tag. Und, ja, trotz der Trauer um seinen Vater fühlte er sich in der Familie Blaisdell so wohl wie zu keinem Zeitpunkt im Waisenhaus.

Bevor er selber wusste, was er da tat, ging er auf Annie zu, umarmte sie fest und flüsterte ihr zu: "Danke, Mom. Danke für alles."

Ende

 

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