Strahlender Sonnenschein hatte die Schüler des Shaolintempels nach dem Mittagessen ins Freie gelockt; nun lieferten sich die jüngeren Kinder im Garten eine Schneeballschlacht, während die Älteren gemessenen Schrittes spazierengingen oder in Grüppchen beieinander standen und sich dabei miteinander unterhielten. Ein wenig abseits, in der Nähe der Gartenmauer, hatten sich vier etwa zehn- bis zwölfjährige Jungen von den anderen abgesondert. Ihrem wilden Gestikulieren nach waren sie in eine zwar leise geführte, dennoch hitzige Diskussion verstrickt. Plötzlich rief einer aus der Gruppe aus: "Ach, lasst mich doch in Ruhe! Was ihr vorhabt, ist gemein, da mach ich nicht mit, und dabei bleibt's!" Er drehte sich um und rannte weg. Ein zweiter rief: "Peter! Peter! Komm zurück! Sei kein Spielverderber, mach mit!" Als der Angesprochene nicht reagierte, wollte er ihm nachlaufen, doch die beiden anderen traten ihm in den Weg. "Ach, lass den Langweiler doch, Dennis!", sagte der eine verächtlich. Der andere fügte hinzu, etwas lauter als nötig gewesen wäre: "Pah, der scheinheilige Kerl ist doch nur zu feig für 'n bisschen Spaß! Oder zu erhaben dafür, bloß weil sein Vater den Tempel leitet!" Mit einem letzten bedauernden Blick in Richtung Gartentor, durch das Peter gerade verschwand, wandte Dennis sich wieder seinen Kameraden zu und der Planung des Streichs, den sie ihrem Lehrer, Meister Ping Hai, spielen wollten. * Derweil rannte Peter Caine voller Zorn den Weg entlang, der vom Tempel in die nahegelegene Ortschaft Braniff führte. Als er auf halbem Weg in den Trampelpfad Richtung Seeufer einbog, war seine Wut bereits verraucht und hatte einem tiefen Gefühl der Scham Platz gemacht. Warum nur hatte er die Beherrschung verloren? Wieso hatte er sich von Tom und seinem Bruder George provozieren lassen, obwohl er ganz genau wusste, dass die beiden ihn nicht mochten und ständig stichelten? Vor allem Tom, dem älteren der beiden, schien es regelrecht Vergnügen zu bereiten, Peter zu ärgern. Ach, warum müssen die denn ausgerechnet bei uns auf die Rückkehr ihres Vater warten? Bloß weil er in China nach Shaolin-Reliquien sucht, braucht er seine Kinder doch nicht hier im Tempel unterbringen! Seit die zwei da sind, hab ich keine ruhige Minute mehr. George wäre ja gar nicht mal so übel, aber Tom! Der versucht permanent, mich zu ärgern und als Idioten hinzustellen! Warum macht er das? Ich hab ihm doch überhaupt nichts getan. Wieso hasst er mich so? So oft wie er behauptet, dass ich als Paps' Sohn allen vorgezogen werde, könnte man glatt glauben, er sei neidisch. Der hat ja überhaupt keine Ahnung! Eben weil ich ein Caine bin, sind die meisten Lehrer viel strenger zu mir und erwarten von mir viel mehr als von den anderen. Vor allem Meister Tan – der gibt mir sowieso immer das Gefühl, ich sei zu nichts nütze. Manchmal glaube ich, er wartet richtiggehend darauf, dass ich irgendwas nicht zustande bringe, damit er mich bloßstellen kann. So wie heute morgen. Aber heute ist ohnehin alles total beschissen, heute hätte ich besser gleich im Bett bleiben sollen... Der Tag hatte schon denkbar schlecht begonnen: Peter hatte verschlafen. Er war so spät aufgewacht, dass er nicht einmal mehr Zeit fürs Frühstück gehabt hatte. Um wenigstens halbwegs pünktlich zum KungFu-Training zu kommen, war er die Treppe hinuntergehastet, hatte immer zwei Stufen auf einmal genommen. Prompt war er auf den letzten Stufen gestürzt und hatte sich etliche blaue Flecke geholt und das Knie übel angeschlagen. Dementsprechend vorsichtig war er beim Training gewesen, was Meister Tan zum Anlass genommen hatte, ihn besonders scharf ranzunehmen und nach der Stunde zu Extraübungen dazubehalten, weil er sich nicht genügend anstrenge. Zum Mittagessen hatte es ein scheußliches Reisgericht gegeben, das er nur heruntergewürgt hatte, weil er solchen Hunger hatte. Und nun bekam er bestimmt weiteren Ärger, weil er einfach weggelaufen war und seine Meditationsstunde bei Meister Ping Hai versäumte. Am meisten schmerzte jedoch, dass Dennis ihn ausgelacht hatte. Ausgerechnet sein bester Freund war nicht nur Feuer und Flamme für Toms Idee, Ping Hai einen ziemlich gemeinen Streich zu spielen, sondern hatte ihn 'Spaßbremse' genannt und sogar behauptet, Peter sei eifersüchtig, weil nicht er selbst, sondern Tom die Idee für den Schabernack gehabt hatte. Das war ganz eindeutig der Tiefpunkt dieses Unglückstages! Beim Gedanken an Dennis' Verhalten füllten sich Peters Augen mit Tränen. Er wusste, dass Dennis es nicht so schlimm gemeint hatte wie es bei Peter angekommen war, dass er sich gerade sehr kindisch verhielt, aber er konnte nicht anders. Er war einfach kreuzunglücklich. Deshalb war er auch zu seiner Lieblingsstelle am See gelaufen. Hier konnte er stundenlang ruhig dasitzen, aufs Wasser blicken und nachdenken. In den letzten Wochen allerdings hatte er sich eher damit vergnügt, auf seinen Stiefeln über die Eisfläche zu rutschen. Das machte Riesenspaß, auch wenn er keine Schlittschuhe hatte wie die Kinder aus dem Ort. Vielleicht sollte er ein wenig auf dem See herumlaufen? So langsam wurde ihm kalt, etwas Bewegung würde ihn wieder aufwärmen. Wenn er schon Ärger bekam wegen der verpassten Lektion, dann konnte er genausogut vorher ein bisschen Spaß haben. Wenigstens ein einziges Mal heute. Kurzentschlossen ging Peter die paar Schritte bis zum Ufer hinunter und betrat das Eis. Doch nach ein paar Schritten blieb er stehen. Ihm war eingefallen, dass sein Vater ihn eindringlich davor gewarnt hatte, bei warmem Wetter aufs Eis zu gehen. Seit zwei Tagen war es etwas wärmer geworden – durfte er jetzt nicht mehr auf den See? Er blickte nach unten und betrachtete die Eisfläche genau. Täuschte er sich, oder sah das Eis wirklich ein wenig dunkler aus als beim letzten Mal? Ach, Unsinn, das ist Einbildung! Das kommt dir nur so vor, weil Paps mit dir über die Gefahren beim Eislaufen gesprochen hat. Bloß weil's jetzt ein bisschen wärmer ist als gestern, taut das Eis nicht gleich weg. Und wenn doch? Probehalber stampfte Peter ein-, zweimal mit dem Fuß auf. Nichts. Kein Knacksen oder Gluckern. Er atmete auf. Das Eis war also noch dick genug. Aber was wenn's doch schon wegtaut? Paps hat doch gesagt, dass das sehr schnell gehen kann, manchmal innerhalb von Tagen. Ganz ernst war er dabei, und er hat mir mein Ehrenwort abgenommen, dass ich bei Tauwetter nicht mehr aufs Eis gehe. Peter dachte nach. War jetzt schon Tauwetter? Wenn ja, dann musste er schleunigst vom Eis herunter, er hatte ja sein Ehrenwort gegeben. Moment mal, ich habe doch heute beim Mittagessen gesehen, wie es von einem der Eiszapfen draußen getropft hat! Und wenn der kleine Eiszapfen zu schmelzen anfängt, dann geht das bei dem großen See bestimmt auch bald los... Mann, so was Blödes! War ja klar, heute geht alles schief... Am besten gehe ich gleich heim und hole mir meine Strafe ab, dann hab ich's hinter mir. Tief aufseufzend, ging er zum Ufer zurück und blieb dort stehen. Er verspürte nicht die geringste Lust, Ping Hai oder seinem Vater gegenüberzutreten und zu erklären, warum er nicht zu seiner Lektion erschienen war. Während er noch mit sich rang, hörte er ganz in der Nähe lachende Kinderstimmen. Sie kamen näher, und ein paar Augenblicke später traten drei Jungen mit Schlittschuhen über der Schulter aus einer Baumgruppe. Sie liefen zu einem am Ufer liegenden Baumstamm, setzten sich darauf und zogen ihre Schlittschuhe an. Na, wenn das kein Zeichen ist... Gut, dass die mich nicht gesehen haben! Ich habe keine Lust darauf, mich auch noch von denen auslachen zu lassen, der Tag war bisher schon schlimm genug. Ich gehe lieber ganz schnell heim, bevor sie mich doch noch entdecken. Peter drehte sich um und rannte los. Er war kaum ein paar Schritte weit gekommen, als er plötzlich einen entsetzten Aufschrei hörte. "Ray, pass auf!" – "O Gott, Ray! Ray!!" Automatisch drehte er sich um und erschrak fürchterlich. Etwa acht bis zehn Meter vom Ufer entfernt hatte die Eisdecke nachgegeben. Einer der Jungen war eingebrochen! Er klammerte sich verzweifelt an den Rand des Lochs, das entstanden war, und versuchte, sich hochzuziehen, erreichte jedoch nur, dass ein großes Stück Eis abbrach. Panisch rief er um Hilfe. Die beiden anderen hatten es gerade noch geschafft, rechtzeitig abzubremsen, um nicht ebenfalls einzubrechen. Sie bewegten sich vorsichtig auf das Loch zu, mussten aber gleich wieder umkehren, als sie es unter ihren Füßen knacksen hörten; gerade noch rechtzeitig, denn ein weiteres Stück Eis, an dem Ray sich gerade hochziehen wollte, brach ab und beförderte den Jungen wieder bis an den Hals zurück ins Wasser. "Hilfe! Helft mir doch, ich komm hier nicht raus! Stan, Mike, bitte!" Ganz automatisch rannte Peter los, am Ufer entlang auf die Unglücksstelle zu. Seine Gedanken überschlugen sich. Was hatte sein Vater noch gesagt, was konnte er tun, wenn jemand einbrach? **Schnell Hilfe holen...** Aber bis die kommt, ist es bestimmt schon zu spät... was sonst noch? **Auf keinen Fall zu dem Loch im Eis hinlaufen, sonst brichst du vielleicht selbst ein; übers Eis kriechen und den anderen an einem Seil oder einer Stange herausziehen...** Ich habe aber kein Seil und keine Stange... Was kann ich sonst nehmen?... Ein Schilfrohr? Nein, das ist bestimmt nicht stark genug. Ich bräuchte einen langen Ast. Ja, ein Ast, das ist gut! Nur wenige Augenblicke später hatte Peter die Stelle erreicht, an der die Jungen ihre Schlittschuhe angezogen hatten. Er rannte bis zum Ufer und schrie, so laut er konnte: "Hallo, ihr da! Wir brauchen einen Ast! Kommt, helft mir einen Ast suchen!" Ohne abzuwarten, ob sie ihm wirklich helfen würden, lief er zu der Baumgruppe und begann, den Boden abzusuchen. Ein paar Tage vorher hatte es heftig gestürmt, und seitdem war kein Schnee mehr gefallen. Bestimmt fand sich nun ein abgebrochener Ast, den er als Stangenersatz verwenden konnte. Er hatte Glück. Kaum hatte er zu suchen begonnen, fiel sein Blick auf einen passenden Ast, fast zwei Meter lang, aber nur etwa zehn Zentimeter dick, mit nur wenigen Zweigen. Peter atmete erleichtert auf. Den konnte er sogar alleine tragen! Peter bückte sich und hob den Ast auf, als er hinter sich die beiden andern Kinder keuchen hörte. Sie packten mit an, und zusammen trugen sie den Ast zum Ufer. Stan und Mike wollten sofort wieder auf den See, doch Peter hielt sie auf: "Wartet! Wir dürfen in der Nähe des Lochs nicht mehr stehen oder gehen, sonst brechen wir auch ein. Wir müssen uns hinlegen und hinüberkriechen. Ray kann sich an der Stange festhalten, und wir ziehen ihn heraus und ans Ufer zurück. Verstanden?" Die beiden nickten. "Dann los! ... Nein, wartet! Ray muss ganz schnell ins Warme, damit er nicht erfriert. Einer muss also Hilfe holen. – Kannst du das machen?", wandte er sich an den Kleineren. "Ja, lauf, Stan, hol Dad, schnell!" Stan nickte, zog seine Stiefel an und rannte los. Währenddessen waren die beiden anderen bereits auf dem Eis unterwegs. Nach drei Metern wies Peter Mike an, stehenzubleiben. "Ich krieche langsam auf das Loch zu und halte Ray die Stange hin. Wenn er sich daran festhält, müssen wir versuchen, ihn aus dem Loch heraus und ans Ufer zu ziehen. Ich weiß nicht, ob das Eis uns alle drei trägt. Bleib also lieber erstmal hier oder komm langsam nach, aber halt Abstand." Und schon legte er sich hin und robbte vorsichtig los, so schnell er es wagte. Die kurze Strecke bis zur Unglücksstelle kam ihm endlos lang vor. Er wusste instinktiv, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, denn Ray hatte seine fruchtlosen Versuche, sich selbst aus dem Loch zu hieven, inzwischen aufgegeben. Das eiskalte Wasser hatte ihm alle Kräfte geraubt; er war kaum noch dazu imstande, sich über Wasser zu halten. Jede Bewegung fiel ihm schwer, sein ganzer Körper schmerzte, und langsam wurde ihm alles gleichgültig. Einfach nur einschlafen und diese schreckliche Kälte hinter sich lassen! Peter bemerkte entsetzt, dass Ray die Augen zufielen. "NEIN!!!" Es durfte nicht sein, dass der Junge jetzt unterging, wo Peter schon fast so nahegekommen war, dass er ihn mit dem Ast erreichen konnte. "Halt durch, nur noch einen Moment, ich bin gleich da! NICHT EINSCHLAFEN!!!" Er brüllte Ray an, so laut er konnte. Es wirkte, denn der Junge öffnete mühsam die Augen wieder und griff instinktiv nach dem Ast, den Peter inzwischen bis an das Loch herangeschoben hatte. "Gut so! Halt dich fest! Einfach nur festhalten, ich ziehe dich raus!", spornte er ihn an. "Ich... kann... nicht. Meine Hände... ich habe... kein Gefühl", brachte Ray mühsam heraus. "Doch, du kannst das, ich weiß dass du das kannst! Einfach festhalten, ich mache den Rest!" Hoffentlich schaffe ich das auch! Ich MUSS das einfach schaffen, ich MUSS einfach stark genug sein! "Fertig? – Ok, ich fang an." Peter zog mit aller Kraft, aber nichts geschah. Der Ast bewegte sich keinen Millimeter, das Gewicht des Jungen am anderen Ende war zu schwer. Konzentrier dich! Ray hat nur dich, du musst das hinbekommen! Beruhige dich und dann versuch's noch einmal! Er schloss die Augen, atmete ein paarmal tief durch, versuchte alle Selbstzweifel aus seinen Gedanken zu verbannen und nur an die vor ihm liegende Aufgabe zu denken. Sofort fühlte er, wie er ruhiger wurde, wie ihn ein Gefühl der Zuversicht und Stärke durchströmte. Als er nun erneut am Ast zog, spürte er, wie sich am anderen Ende etwas tat. Langsam, Zentimeter für Zentimeter zog er den Ast zu sich heran. Nach einer schier endlosen Zeit hatte er den schwierigen Teil der Rettungsaktion geschafft: Ray, der sich mit aller ihm verbliebenen Kraft an den Ast klammerte, war aus dem Loch heraus und lag zitternd auf dem Eis. Peter atmete auf. Nun mussten sie 'nur' noch vom Eis herunter. Er ließ den Ast los, drehte sich vorsichtig um, in Richtung Ufer, packte den Ast und zog, so fest er konnte. Stück für Stück näherte er sich mit seiner Last dem rettenden Ufer, kräftig unterstützt von Mike, der herangerobbt kam, sobald Ray aus dem eisigen Wasser befreit war. Die letzten zwei, drei Meter, wo der See sehr seicht und das Eis entsprechend dick und tragfähig war, wagten sie aufzustehen und Ray an den Armen übers Eis zu ziehen. Endlich war es geschafft! Peter und Mike keuchten vor Anstrengung, doch sie hatten es wirklich geschafft! Sie hatten wieder festen Boden unter den Füßen. Jetzt mussten sie Ray schleunigst aus der Kälte herausschaffen und aufwärmen, denn er war kurz davor, vor Kälte und Erschöpfung das Bewusstsein zu verlieren. Er war kreidebleich, seine Lippen waren blau angelaufen, und er schaffte es nicht, die Augen offenzuhalten. Schnelle Hilfe tat not, doch von Stan und seinem Vater war noch nichts zu sehen. Was sollten sie jetzt tun? "Wir können nicht auf die Erwachsenen warten, Ray erfriert sonst. Wir ziehen ihm die nassen Sachen aus und geben ihm welche von uns. Du hast eine warme Jacke, ich gebe ihm meine Hose und die Stiefel", ordnete Peter an. "Los, hilf mir." Sie zogen und zerrten an Rays Kleidung herum, mussten aber feststellen, dass sie den Jungen nicht ausziehen konnten. Zu fest klebten die nassen Sachen an ihm. "Es geht nicht! Menschenskind, was sollen wir jetzt tun? Ray, Ray, bleib wach!", jammerte Mike und schüttelte seinen Freund voller Angst. "Ihr könnt seine Arme und Beine vorsichtig reiben, um die Blutzirkulation anzuregen", erklang eine ruhige Stimme hinter ihnen. Beide fuhren herum. "Paps! Was... wie...", stammelte Peter. Kwai Chang Caine trat hinzu, kniete sich neben Ray und ließ seine Hände über den Körper des Jungen gleiten. Dann öffnete er einen Beutel, der an seinem Gürtel hing, und entnahm ihm ein getrocknetes Blatt. Er öffnete Rays Mund und legte ihm das Blatt unter die Zunge. Dann nahm er Rays rechte Hand in die seinen und schloss die Augen. Ein Ausdruck höchster Konzentration lag auf seinem Gesicht. "Was macht er da?", flüsterte Mike ängstlich. "Er gibt Ray von seinem Chi, seiner Lebenskraft, etwas ab, damit er wieder gesund wird", erklärte Peter. "Cool!" Mike war beeindruckt. Nach einer Weile nickte Caine zufrieden und öffnete die Augen wieder. Rays Lippen waren nicht mehr blau, und sein Gesicht hatte einen winzigen Hauch Farbe angenommen. Er öffnete seine Augen wieder. Kurz darauf kam Stan mit seinem und Rays Vater zurück. Die Männer hatten ihr Auto ganz in der Nähe abgestellt und brachten Decken mit, in die sie den stark unterkühlten Jungen hüllten. Sie bedankten sich bei Peter und Caine, trugen Ray zum Auto und fuhren mit den drei Kindern so schnell wie möglich ins nächste Krankenhaus. Die beiden Caines blieben allein zurück. "Komm, gehen wir nach Hause, auch du musst dich aufwärmen, mein Sohn", mahnte Kwai Chang Caine und legte Peter die Hand auf die Schulter. Eine Weile lang gingen sie schweigend nebeneinander her, dann konnte Peter sich nicht mehr beherrschen. Er platzte heraus: "Wieso warst du so plötzlich da, Paps?" "Nenn mich nicht Paps!", erwiderte sein Vater streng. In normalem Tonfall fügte er hinzu: "Dennis kam zu mir und gestand mir, dass er und ein paar andere Jungen dich so geärgert haben, dass du deswegen weggelaufen bist. Ich konnte spüren, dass du dich in Gefahr begeben hast." "Jaaaa, aber nur weil ich Ray helfen musste." Peter ließ den Kopf hängen. "Es tut mir sehr leid, dass ich mein Ehrenwort gebrochen habe und aufs Eis gelaufen bin, aber ich konnte ihn doch nicht einfach untergehen lassen." Sein Vater fasste ihn zärtlich am Kinn und hob Peters Kopf an, bis sie sich gegenseitig in die Augen sehen konnten. "Das weiß ich, und ich bin sehr stolz auf dich, mein Sohn. Ich liebe dich." "Ich dich auch, Dad." * Als Peter an diesem Abend zu Bett ging, war er, was selten genug vorkam, mit sich und der Welt im Reinen. Was machte es schon, dass Tom ihn andauernd piesackte oder dass Meister Tan ihn zu Extraübungen verdonnert hatte? Das war ärgerlich, gewiss – aber letzten Endes war das unwichtig. Was wirklich zählte, war etwas ganz anderes. Zu wissen, dass er einem anderen Menschen das Leben gerettet hatte, erfüllte ihn mit tiefer Dankbarkeit. Das war viel wichtiger als der permanente Streit mit Tom oder Ärger mit Lehrern. Dennis und er hatten sich wieder versöhnt. Sein Vater hatte ihm gesagt, er sei stolz auf ihn. Mehr noch, er hatte sich den ganzen Abend Zeit für ihn genommen. Das kam selten genug vor, da er als Leiter des Tempels gewissermaßen ständig 'im Dienst' war. Und doch hatte Peter an diesem Abend seinen Vater ganz für sich gehabt. Wenn nur jeder Pechtag so schön enden würde! Mit einem glücklichen Lächeln auf den
Lippen schlief er ein.
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