Im Schein der Laterne, die den Sloanviller Busbahnhof erhellte, sah Captain Joana Hastings auf ihre Arm¬banduhr. Dann wandte sie sich an ihren Begleiter und sagte, mit offensichtlichem Bedauern in der Stimme: "Nur noch drei Minuten bis zur Abfahrt, ich steige jetzt wohl besser ein. Danke für das wunderschöne Wochenende! Und dafür, dass du dir soviel Zeit für mich genommen hast, obwohl du gerade Wichtigeres zu tun hast als mit mir über die alten Zeiten auf der Polizeischule zu plaudern." Der Angesprochene winkte ab. "Nein, nein, ich bin derjenige der sich bedanken darf für deine Geduld mit mir und dem Chaos, durch das ich mich gerade durcharbeite. Du ahnst gar nicht, wieviel mir unsere Gespräche bedeuten, wie sehr du mir allein durchs Zuhören und durch dein Verständnis geholfen hast." "O doch, ich kann mir das in etwa vorstellen", widersprach Joana. "Vor gerade mal einem Monat hast du dein Leben von Grund auf umgekrempelt. Du bist aus dem Polizeidienst ausgeschieden, arbeitest unentgeltlich als Apotheker und stehst kurz vor dem Umzug nach Chinatown, in die Wohnung deines Vaters. Nur ein kom¬plet-ter Idiot oder ein Narr fühlt in solchen Zeiten weder Unsicherheit noch das Bedürfnis, sich mit anderen zu be¬raten. Und ein Narr warst du nie – tollkühn und eigenwillig, ja, vielleicht auch ein klein wenig verrückt, aber keinesfalls närrisch. Ich bewundere dich für deinen Mut. Hoffentlich findest du die Erfüllung, nach der du suchst." Sie umarmten sich freundschaftlich, dann streckte sich die zierliche junge Frau etwas und gab Peter Caine ein Abschiedsküsschen auf die Wange. Der erwiderte die Zärtlichkeit und sagte: "Komm gut nach Hause. Lass bald wieder was von dir hören, bitte warte nicht bis zum nächsten Polizeikongress." "Versprochen. Und wenn du jemand zum Reden brauchst, ruf an. Alles Gute, Pete." Joana stieg in den Bus und begab sich zu ihrem Platz. Kurz darauf schlossen sich die Türen, und das motorisierte Ungetüm setzte sich langsam in Bewegung. Peter sah ihm hinterher, bis es um die Ecke bog, dann schlenderte er zu seinem Wagen zurück, in Ge¬dan¬ken an das vergangene Wochenende versunken, das ihn für kurze Zeit aus seinen Problemen heraus¬gerissen und ihm neue Kraft für seinen Alltag gegeben hatte. Beinahe wie ein Kurzurlaub, nur ohne Koffer¬packen und verreisen. Wie hatte er sich gefreut, als Joana überraschend vor seiner Tür gestanden hatte! Seit ihrer Versetzung nach Columbus, wo sie trotz ihrer Jugend bereits ein großes Polizeirevier leitete, hatten sie nichts mehr von¬einander gehört. Umso mehr hatten sie jetzt nachzuholen. Peter schmunzelte; nur gut, dass der bewusste Kon¬gress gerade jetzt stattgefunden hatte und nicht schon ein paar Wochen früher, als er gerade die Brandmale der Shaolin angenommen hatte. Denn zu diesem Zeitpunkt hätte Peter weder Energie noch Zeit für Joana erübrigen können, er war vollauf damit beschäftigt gewesen, sein vollkommen durcheinander geratenes Leben wieder in halbwegs geordnete Bahnen zu bringen. Das hatte er zwar auch jetzt noch nicht geschafft, aber so langsam sah er wieder Licht am Ende des Tunnels. Allmählich wuchs er in seine neuen Aufgaben hinein. Gleichzeitig spürte er, dass er auf dem besten Wege war, sich das Vertrauen der chinesischen Gemeinde zu erringen. Zwar begegneten ihm immer noch etliche der älteren Einwohner mit Misstrauen, doch schien es sich herumzusprechen, dass 'der junge Caine' bereits einigen Leuten hatte helfen können. Und das wiederum erhöhte die Bereitschaft der anderen, sich ihrerseits bei Problemen an Peter zu wenden. * Mittlerweile war Peter bei seinem Stealth angekommen, den er in einer kleinen Seitenstraße direkt am Busbahnhof geparkt hatte. Er wollte gerade einsteigen, als ihn ein dumpfes Geräusch, gefolgt von einem Stöhnen, herumfahren ließ. Da! Schon wieder! Das hörte sich an, als ob gerade jemand verprügelt würde! Automatisch fuhr seine linke Hand an die rechte Hüfte, dorthin, wo früher seine Pistole im Holster gesteckt hatte. Als er seinen Fehler bemerkte, verdrehte er die Augen (*Verdammt, Peter! Du hast keine Schusswaffe mehr, gewöhn dir das endlich ab!*), ließ sich aber trotzdem nicht davon abhalten, den Geräuschen nachzugehen. Der junge Shaolin war kaum ein paar Schritte weit gekommen, als er eine gedämpfte, wütend klingende Stimme sagen hörte: "Gibst du Big Joe jetzt deine Brieftasche, Alter, oder soll er dich noch ein bisschen weichklopfen? Oder vielleicht sollte er dir lieber gleich den Arm brechen?" Ein sehr großer, breit gebauter Mann stand in einem dunklen Hauseingang, drückte einen etwas kleineren, weißhaarigen gegen die Wand und schlug ihm seine Faust in den Bauch. Das war offensichtlich 'Big Joe'. Daneben stand ein dritter Mann in drohender Haltung, anscheinend der Boss des Schlägers. Hier war schnelle Hilfe vonnöten. Peter trat auf die drei Männer zu und fragte, so harmlos wie mög¬lich klingend: "Hallo Leute. Gibt’s hier ein Problem?" "Das geht dich gar nichts an", herrschte ihn der Anführer an. "Misch dich nicht ein und schau dass du wegkommst, sonst setzt's was." Doch da kam er bei Peter genau an den Richtigen. Bevor einer der beiden überraschten Räuber eine einzige Bewegung machen konnte, hatte Peter den ersten bereits mit einem Handkantenschlag zu Boden gehen lassen, wo er liegenblieb und sich nicht mehr rührte. Seinem Komplizen erging es nicht besser. "Alles ok? Sind Sie verletzt? Soll ich einen Arzt rufen?", fragte Peter den älteren Mann, der ihn nur mit großen Augen angestarrt hatte. Bei Peters Frage kam wieder Leben in ihn; er erwiderte: "Nein, es geht schon, die Kerle haben mir nur ein paar blaue Flecken verpasst. Die beiden wollten meine Brieftasche, sie haben mir nicht geglaubt, dass ich gar kein Geld bei mir habe. Wer weiß, was die mit mir gemacht hätten, wenn Sie nicht gekommen wären. Vielen Dank, Mister...?" Er streckte Peter die Hand entgegen. Peter schlug ein und sagte: "Caine, Peter Caine." Der alte Mann wiederholte: "Vielen Dank, Mr. Caine. Ich heiße Frederic Bode." Peter holte sein Handy aus der Manteltasche und rief das 101. Revier an, wo er Sergeant Broderick an die Strippe bekam. Er schilderte kurz, was sich gerade ereignet hatte, und bat um Abholung der beiden verhinderten Räuber. * Da Mr. Bode doch noch ziemlich mitgenommen war, verzichteten die Polizeibeamten darauf, ihn aufs Revier mitzunehmen, damit er dort seine Aussage unterschreiben konnte. Statt dessen begleitete Peter ihn nach Hause und fuhr anschließend zum Polizeirevier, um seine Zeugenaussage zu unterschreiben. Das hätte zwar bis zum nächsten Morgen Zeit gehabt, doch hoffte Peter, bei dieser Gelegenheit von Sergeant Broderick etwas über Big Joes Boss zu erfahren. Denn dieser kam ihm seltsam bekannt vor, er hatte das sichere Gefühl, ihm bereits einmal begegnet zu sein. Zwar hatte er keine Ahnung, wo und wie sich das zugetragen haben mochte; aber mit Brodericks Hilfe ließ sich das möglicherweise herausbringen. Vielleicht war ihm ja das Glück hold, und Kermit hatte gerade Dienst. Der war ein wahrer Zauberer auf dem Computer und konnte jede noch so gut versteckte Information aufspüren. Tatsächlich dauerte es keine fünf Minuten, bis Kermit fündig wurde und die ganze kriminelle Laufbahn des Verbrechers ausgegraben hatte. Er pfiff leise durch die Zähne. "Sieh mal an, da ist dir ja ein ganz schräger Vogel zugeflogen, Peter. Der Gute hat nicht nur fünf verschiedene Identitäten, sondern auch eine Vorstrafenliste, die sich gewaschen hat. Er wird in drei Bundesstaaten gesucht wegen Diebstahl, Körperverletzung, Raub und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Sein richtiger Name ist Richard Smartley, und er stammt aus der Gegend hier." "Smartley... Smartley... Tut mir leid, das sagt mir nichts." Enttäuscht schüttelte Peter den Kopf. "Verdammt, ich war mir so sicher, dass ich schon mal was mit ihm zu tun hatte. Kannst du herausfinden, ob er schon mal hier auf dem Revier in Verwahrung war?" Kermit bejahte. "Klar kann ich das, aber das dauert ein wenig. Dazu muss ich ein paar etwas aufwendigere Datenbankanfragen starten. Warte kurz, ich drucke vorher seine 'Karriereübersicht' aus." Als Kermit vom Drucker zurückkam, drückte er Peter einige Blätter mit Lebenslauf und Vorstrafenliste des Verbrechers in die Hand und machte sich ans Werk. Ein kurzes Keuchen ließ ihn kurz darauf hochblicken. "Hast du etwas entdeckt?" Peter nickte ernst. "Ja. Hier steht, dass er 1976 mit knapp 16 Jahren seine Eltern bei einem Autounfall ver¬lo¬ren hat und bis 1978 im hiesigen Waisenhaus und in Pineridge gelebt hat. Jetzt erinnere ich mich wieder. Das ist 'smarty Rick', der war im Waisenhaus gefürchtet. Er hat mit zwei Kumpels die anderen Kinder terrorisiert und mit Vorliebe seinen Frust an den Kleinen ausgelassen. Jedesmal wenn er Probleme mit Lehrern oder Erziehern hatte, gab's Ärger für die anderen Kinder. Aber immer so, dass die Aufsicht nichts mitbekommen hat. Wir sind des wiederholt aneinander geraten, weil ich ihm so oft wie möglich die Tour vermasselt habe. Wir waren so etwas wie Erzfeinde." Das war stark untertrieben. Rick und seine beiden Schläger waren für ihn der Inbegriff des Bösen gewesen, sie hatten all das verkörpert, was sein bisheriges Leben zerstört hatte – Gewalt, Heimtücke, menschen¬verachtende Rücksichtslosigkeit. Sozusagen die ganze Schlechtigkeit der Welt. Er hatte die drei aus tiefster Seele gehasst. Natürlich hatten diese Peters Gefühle erwidert und so oft wie möglich versucht, ihm 'eins aus¬zuwischen', wie sie es nannten. Meist auf die einzige Weise, die sie verstanden: durch Gewalt. Zwar war Rick alleine, trotz des Altersunterschieds, kein ernstzunehmender Gegner, auch mit zweien wurde Peter nor¬malerweise gut fertig. Aber gegen alle drei auf einmal kam er selbst mit seinen KungFu-Kenntnissen nicht allzu oft an. Er hatte dem Trio so manchen blauen Fleck zu verdanken. Einmal hatten Rick und seine Kumpane sich unbeobachtet geglaubt und auf dem Pausenhof der Schule einen Mitschüler drang¬saliert. Zu ihrem Pech hatte Peter sich in der Nähe aufgehalten und schnell seinen Klassenlehrer alarmiert, was für die Raufbolde gewaltigen Ärger zur Folge gehabt hatte. Aus Rache hatten sie Peter ein paar Tage später auf dem Heimweg von der Schule aufgelauert und so lange auf ihn ein¬geschlagen, bis er sich nicht mehr rührte. Das hatte ihm eine Woche Krankenhaus eingebracht und den Rowdies ein halbes Jahr Zwangsaufenthalt in der Besserungsanstalt Pineridge. Sehr zur Freude der anderen Kinder kamen sie danach nicht mehr zurück, weil alle drei in der Zwischenzeit volljährig geworden waren. Von da an war das Waisenhaus für Peter nicht mehr unerträglich, sondern "nur" noch schrecklich gewesen. Eine Hand auf seiner Schulter riss den jungen Shaolin aus seinen Erinnerungen und brachte ihn zurück in die Gegenwart. "Hey, Pete, alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen." Kermit betrachtete ihn besorgt. Peter riss sich zusammen und brachte ein schwaches Lächeln zustande. "So ähnlich fühle ich mich auch gerade. Rick und seine beiden Schläger haben mir damals das Leben zur Hölle gemacht. Hauptsächlich Rick, die beiden anderen waren mehr Befehlsempfänger. Als die drei nach Pineridge kamen, waren wir alle heilfroh, dass wir sie nicht mehr zu ertragen brauchten." Er schüttelte den Kopf, so als könnte er damit den Gedanken an die Quälgeister aus seiner Jugend vertreiben. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn jetzt, fast zwanzig Jahre später, noch einmal treffen würde." "Nach seinem Vorstrafenregister zu urteilen, ist dir in der Zwischenzeit auch nichts entgangen", versuchte Kermit seine Unsicherheit, was Gefühle betraf, mit einem lahmen Scherz zu überspielen. Doch Peter sah so aus, als würde er gar nicht zuhören, sondern immer noch über etwas nachgrübeln. Zu Kermits nicht geringem Erstaunen nickte der junge Shaolin plötzlich, so als sei ihm etwas Wichtiges klar geworden. Ein strahlendes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Kermit fiel die Kinnlade herunter. "Was ist denn jetzt auf einmal los?" Peter verbiss sich das Lachen, was angesichts der verblüfften Miene seines Ex-Kollegen gar nicht so einfach war. "Ich glaube, ich habe gerade einen wichtigen Schritt nach vorne getan." Nun war Kermit völlig verwirrt. "Du hast was getan? Erklär mir das bitte genauer, aber so dass es auch ein Nicht-Shaolin versteht!" "Ich werd's versuchen. Vorhin musste ich an etwas denken, das mein Vater mir einmal zum Thema Vergangenheitsbewältigung gesagt hat, und zwar kurz bevor er mit mir nach Braniff zu den Ruinen unseres Tempels gereist ist. 'Manchmal muss man, um sich der Zukunft zu stellen, sich in die Vergangenheit begeben, so dunkel und unergründlich sie auch scheinen mag. Man muss in den Nebel zurücktreten, damit man den Weg sieht, der vor einem liegt.' Ich glaube, das habe ich gerade getan. In den Nebel der Vergangenheit zurücktreten, meine ich. Und zwar gleich zweifach. Zuerst hat sich meine alte Freundin Joana bei mir gemeldet, mit der ich die Polizeischule besucht habe und die vor kurzem einen größeren Karrieresprung gemacht hat. Ausge¬rechnet jetzt, kurz nachdem ich den Dienst quittiert habe. Obwohl wir vorher eine halbe Ewigkeit nichts mehr von¬einander gehört hatten. Und kaum habe ich mich von Joana verabschiedet, läuft mir mit Rick ein Schreckgespenst aus meiner Jugend über den Weg. Wie habe ich den gehasst! Aber wenn ich mir anschaue, was aus ihm geworden ist, welche jämmerliche Existenz er führt, dann fühle ich fast schon Mitleid mit ihm. Vor allem wenn ich mir vorstelle, wieviel Glück ich gehabt habe. Paul und Annie haben mich aus dem Waisenhaus geholt, mir eine Familie und die Aussicht auf ein erfülltes Leben gegeben. Rick dagegen hatte nur den Hass und die Furcht der anderen Kinder und eine Verbrecherlaufbahn. Mir ist durch die Begegnungen mit Joana und Rick wieder einmal klar geworden, wie mein Leben auch hätte verlaufen können. Ich bin mir sicherer denn je, dass ich den für mich richtigen Weg gefunden habe. Er ist noch neu und ungewohnt und deshalb im Moment sehr, sehr mühsam. Manchmal weiß ich nicht, woher ich die Kraft für den nächsten Schritt nehmen soll. Aber es ist der richtige Weg. Diese Erkenntnis macht es einfacher, mich 'der Zukunft zu stellen', wie mein Vater es ausgedrückt hat. Ist das nicht toll?" An diesem Abend schlief Peter, zum ersten Mal seit
Wochen, mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
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