Zehn Tage nach dem anfänglichen Glücksgefühl machten sich zunehmend Schuldgefühle in Peters Brust breit. Er fragte sich, ob sein Vater enttäuscht von ihm und seiner im Waisenhaus gewonnenen Erkenntnis war. Fast als wollte er sich entschuldigen, flüsterte er dann nahezu jedes Mal ein leises 'Ich liebe Dich, Paps' in den Wind. Aber trotz des schlechten Gewissens war da noch ein anderes Gefühl in seinem Inneren; nämlich das, welches ihm sagte, dass er das Richtige tat. Die gesamt Fragestellung für sein Leben hatte
sich verändert. Er versuchte die Fragen auszublenden, die er sich
früher mehrmals täglich stellte: Immer öfter gelang es ihm, sie abschütteln und gegen neue einzutauschen. Es ging nicht darum, was er tun sollte, sondern was zu tun ER für das Richtige hielt. Was er selbst von sich erwartete, was er erreichen wollte. Wenn er sich fragte, was Caine tun würde, versuchte er die sich selbst gegebene Antwort als Ratschlag, nicht als Verpflichtung anzunehmen. Die Umsetzung lag ganz allein bei ihm selbst und er musste davon überzeugt sein, dass er seine Aufgaben schaffen konnte. Das mentale Training, das Peter sich selbst auferlegt hatte, verlangte ihm viel Kraft ab, es war nicht leicht, so lange praktizierte Verhaltens- und Gedankenmuster wieder abzulegen. Aber es befreite ihn auch. Das Beschreiten seines Weges wurde somit leichter. Wenn er keine Eingebung hatte, wo er langgehen sollte, hielt er inne und meditierte. Er richtete alle seine Sinne nach außen, nahm die Schwingungen der Umgebung wahr und wartete darauf, dass eine Richtung ihn anzog. Dann ging er weiter. Zum Ausgleich seiner mentalen Arbeit legte er noch häufiger Tai Chi Stunden ein. Auch um sich zu wärmen, denn er hatte feststellen müssen, dass der reine Peter im Schnee mehr fror, als ein Caine imitierender Peter. Das war wohl der Preis dafür, sein eigenes Ich finden zu wollen. Sein körperlicher Zustand hatte sich ebenso verbessert. Er aß zwar noch nicht wieder regelmäßig, aber er aß. Vor zwei Tagen hatte er sich einen Hasen gefangen und über einem Lagerfeuer zubereitet. Er war selbst erstaunt gewesen, wie einfach es ihm gelungen war. Vermutlich hätte Caine das nicht getan, aber darum ging es nicht mehr. Es ging darum, dass Caine Peters Vater war, dass der Sohn ihn unendlich liebte und vermisste, aber nun seinen eigenen Weg ohne ständige Rechtfertigungen gehen musste. Und kurz vor Weihnachten spürte Peter sogar den Wunsch in seiner Brust, mit Menschen zusammen zu sein. Er hatte die Einsamkeit gebraucht, aber jetzt benötigte er langsam wieder Gesellschaft. *** Drei Tage vor Heiligabend dachte Peter an seine Familie. Nicht an Caine (an den er ständig dachte), sondern an Annie, Caroline und Kelly. Er wusste nicht, ob seine Schwestern Weihnachten nach Hause kommen würden, oder ob Annie allein sein müsste. Während er darüber nachdachte kam er in eine kleine Ortschaft und blieb unbewusst vor einer kleinen Schreinerei stehen. Im Schaufenster standen geschnitzte Holzfiguren, Elefanten und Giraffen, Hunde und Katzen, auch einen Tiger konnte Peter entdecken, als er eine Idee entwickelte. Kurz entschlossen betrat er den kleinen Laden und sah sich um, er war kaum größer als seine Zelle im Tempel gewesen war. Aber liebevoll dekoriert und eingerichtet. Als Peter merkte, dass er gar kein Geld hatte, wollte er wieder gehen, aber just in diesem Moment kam ein alter Mann aus dem Hinterzimmer und begrüßte ihn. "Guten Tag! Kann ich ihnen helfen?" fragte er freundlich. Peter strich sich verlegen durchs Haar. "Nun, eigentlich ja… sagen sie, nehmen sie Kreditkarte?" "Tut mir Leid, so weit ist die Technik in meinem Laden noch nicht. Ich habe ja nicht mal eine elektronische Kasse", gab der Alte zu und zeigte freundlich auf eine metallene Geldkassette auf dem Tresen. "Aber Meggie im Lebensmittelladen, macht es in der Regel, dass sie mehr abbucht und einem dann Geld auszahlt. Aber sie müssen dann schon etwas bei ihr kaufen." Peter lachte, auch der Alte lächelte. Langsam gefielen ihm diese ländlichen Verhältnisse, und es tat gut, wieder mit Menschen zu reden, positive Ausstrahlungen wahrzunehmen. "Sagen sie, sie sind nicht von hier, oder? Nein. Ich kenn alle Gesichter in zehn Meilen Umkreis. Auf der Durchreise? Wofür interessieren sie sich denn in meinem Laden?", ratterte der Mann nun seine Fragen hinunter. Peter schmunzelte. "Auf der Durchreise, so könnte man sagen. Ich habe den Tiger im Schaufenster gesehen, und wollte fragen, ob sie vielleicht auch einen Drachen haben; oder schnitzen könnten." "Einen Tiger und einen Drachen?" Die Augen des alten Mannes verengten sich zu Schlitzen, prüfend musterte er Peter, als hätte er bereits Erfahrung mit dieser Kombination. Peter beschloss, dass Angriff die beste Verteidigung war. "Sie kennen diese Zusammenstellung?", fragte er geradeheraus. Der Ältere nickte langsam. "Vor vielen Jahren hatte ich mal einen Freund, der ganz im Zeichen dieser Tiere lebte; er hatte sie sich buchstäblich eingebrannt." "So hier?", hakte Peter nach und raffte seine Ärmel, um seinem Gegenüber seine Unterarme zu zeigen. Mit großen Augen starrte er darauf. "Wie war der Name ihres Freundes?" Peter erwartete, den Namen seines Vaters zu hören, wurde aber überrascht. "Ping Hai." "Ping Hai?", wiederholte er matt und ungläubig. Er hatte nicht erwartet, jemals wieder von ihm zu hören, war davon ausgegangen, dass der alte Mann gestorben war, nachdem er Peter im Waisenhaus sich selbst überlassen hatte. * * * Nachdem Caine fort gegangen war, hatte es Lo Si nicht übers Herz gebracht, Peter seine wahre Identität zu verraten, auch wenn er es Caine damals versprochen hatte. Er wusste, dass Peter sich von ihm abgewandt, zornig und enttäuscht seinen Weg allein beschritten hätte. Und der junge Shaolin wäre ohne Lo Si als Lehrer und Mentor, zumindest in der Anfangszeit, nahezu hilflos gewesen. Das wusste der Alte und verschwieg ihm deshalb, wer er war; bis die Zeit für die Wahrheit reif sein würde. * * * "Der alte Mann hat mir damals das Leben gerettet. Er kam hier durch wie sie, zu Fuß, im Schnee und allein", erläuterte der Ladenbesitzer, "es muss…, warten sie…, zwanzig Jahre her sein. Sehr genau sogar. Es war kurz vor Weihnachten." Peter starrte ihn noch immer an. Er konnte einfach nicht glauben, was er da hörte. Wieder schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit, seine Vergangenheit. Ping Hai hatte ihn damals im Herbst ins Waisenhaus gebracht. Es war zunehmend kälter geworden, der Husten des alten Mannes immer schlimmer. Es musste Oktober gewesen sein, vielleicht auch Anfang November. >Wo war er acht Wochen lang, bis er hier ankam?<, fragte sich Peter und wusste schon jetzt, dass er darauf vermutlich nie eine Antwort erhalten würde. "Er war schwerkrank", murmelte Peter leise, mehr für sich selbst. Aber der Schreiner reagierte darauf. "Nein, er war kerngesund. Ich habe selten jemanden in dem Alter gesehen, der so fit ist! Ich hatte mich beim Weihnachtsbaum schlagen im Wald mit der Axt schwer verletzt und wäre erfroren, wenn er nicht gewesen wäre. Wie auch immer er es geschafft hat, aber er hat mich getragen, ich konnte es selbst kaum glauben." Peter schüttelte den Kopf, das konnte alles nicht wahr sein. Hatte Ping Hai seine Krankheit nur vorgespielt? Wieder kochte die alte Wut hoch, der bekannte Zorn, dass Ping Hai an allem Schuld war. Nicht nur, dass er ihm fünfzehn Jahre mit seinem Vater genommen hatte, sondern offensichtlich auch noch, dass er ihm grausame Jahre im Waisenhaus beschert hatte. Der Mann schien Peters Verwirrung deutlich zu erkennen und berührte seinen Arm. "Vielleicht sollten wir uns erst mal setzen. Möchten sie einen Kaffee? Oder einen Tee?", fragte er behutsam. Peter schaute ihn mit glasigen Augen an. "Kaffee, bitte", stotterte er und ließ sich sogleich auf einen massiven Holzstuhl fallen, den der Schreiner ihm gewiesen hatte. Er raufte sich durch die Haare und barg sein Gesicht kurz in seinen Händen. Er versuchte einen logischen Sinn dahinter zu sehen, suchte eine Erklärung, und war sie noch so dürftig. Aber er fand keine. Der ältere Mann drückte Peter eine Tasse dampfenden Kaffee in die Hand und setzte sich ihm gegenüber. Dann stellte er sich zunächst als Carl Heyes vor, ehe er Peter fragte, woher er Ping Hai kannte. "Wir lebten im selben Tempel", erklärte Peter, "der allerdings zerstört wurde, als ich Kind war. Mein Vater", wieder loderten die Zornesflammen in seinem Inneren, "starb damals. Jedenfalls sagte das Ping Hai." Er atmete einige Male ruhig durch, um die Wut zu vertreiben. Dann trank er einen Schluck Kaffee, ehe er weiterredete. "Als Ping Hai krank wurde, brachte er mich ins Waisenhaus. Nun, angeblich weil er bald sterben würde, aber offensichtlich war er ja plötzlich wieder gesund!" Peter konnte sich die bissige Bemerkung nicht verkneifen. Was hatte sich der alte Mann dabei gedacht? Allerdings spielte auch das keine Rolle mehr, denn egal wie fit Ping Hai damals war, er konnte unmöglich noch leben. Schließlich war er damals schon steinalt. Carl Heyes räusperte sich, dann schwiegen sie allerdings noch eine ganze Weile, ehe er zu sprechen begann. "Und sie suchen einen Drachen und einen Tiger?", griff er Peters Grund, den Laden überhaupt zu betreten, auf. Der junge Shaolin wurde aus seinen Gedanken gerissen. "Ja. Ich wollte sie zu Weihnachten verschenken, das heißt verschicken. Aber sie haben nur den Tiger, haben sie gesagt, nicht wahr?" Peter war immer noch irritiert. "Ich habe gar nichts zu dem Drachen gesagt", korrigierte Mr. Heyes und fügte hinzu, "aber ich kann einen schnitzen. Morgen wäre er fertig, wenn sie ihn dann gleich zu Helena Ruben auf die Post bringen würden, wäre er sicherlich noch rechtzeitig dort, wo sie ihn hinschicken wollen." Der alte Mann lächelte gütig, er wollte Peter diesen Gefallen tun, das spürte er deutlich und war auch sehr dankbar dafür. "Würden sie das tun?", fragte Peter noch einmal nach. Er konnte seine Hoffnung und Freude darüber kaum verbergen. Carl Heyes nickte lachend. "Morgen früh um acht. Die Post wird um neun Uhr abgeholt, da haben sie dann genug Zeit!" Peter bedankte sich und trat wieder auf die Straße. Die Freundlichkeit dieses Mannes beeindruckte ihn, er würde vermutlich die halbe Nacht daran sitzen, nur damit Peter ein Weihnachtsgeschenk für seine Mutter hatte. Der junge Mann erinnerte sich an das Gespräch mit Annie, am Tag vor der Beerdigung seines Vaters. Er wusste ja, dass sie wie eine Löwin sein konnte, aber so energisch hatte er sie selten gesehen. * "Peter, ich bin eine erwachsene Frau! Ich werde mitkommen!", sagte seine Pflegemutter und legte all ihre Kraft in die Stimme. Er schüttelte den Kopf. "Mom, der Arzt hat gesagt, dass du nicht fliegen darfst!", erinnerte er sie. Seit Wochen litt sie unter Migräne und ihr Arzt hatte sie gewarnt, dass die Druckveränderungen in einem Flugzeug schwere Schäden verursachen konnten. "Aber…", wollte sie protestieren, doch Peter nahm ihre Hände. "Nein, Mom. Bitte. Ich weiß, dass du ihn sehr gemocht hast, aber ich will nicht, dass dir auch noch etwas passiert. Das könnte ich nicht verkraften." Annie strich ihrem Sohn über das Gesicht und wischte die aufkommenden Tränen fort. Der junge Mann bebte unter ihrer Berührung. "Also gut", gab sie mit trauriger Stimme klein bei. Peters Körper entspannte sich kaum unter diesen Worten. "Peter? Was ist noch?" Ein Schluchzen, er zitterte. Dann atmete er tief durch und begann zu sprechen: "Mom, ich… ich werde nicht zurückkommen. Nicht mit dem Flugzeug. Nicht gleich." Er vergrub sich an ihrer Brust, sie streichelte seine Haare und Tränen rollten beider Wangen hinunter. "Warum, Peter?", fragte sie leise. "Ich muss damit fertig werden. Allein." "Aber wir können dir doch helfen!" platzte sie dazwischen. "Bitte, Mom! Bitte. Ich muss jetzt erst einmal herausfinden, wer ich bin und was meine Bestimmung ist." "Aber ich dachte deine Bestimmung ist, Shaolin-Priester zu sein! Hier in Chinatown…" Sie schluchzte, Peter umarmte sie fest. Es tat ihm unglaublich weh, seine Mutter so verletzen zu müssen. Sanft nahm er ihr Gesicht in seine Hände und sah sie an. "Bitte Mom, versteh mich doch. Es geht nicht anders. Ich muss diese Reise unternehmen, um die Leere zu füllen, die sich mit Vaters Tod in mir breit gemacht hat. Ich muss herausfinden, wer ich wirklich bin, wer mein Vater war, wo ich hingehöre." Auch Peter weinte heftiger, aber er fasste sich schnell wieder, um weiter zu sprechen. "Wenn ich hier bleibe, werde ich an dieser Leere zerbrechen. Es hängt nicht an Dir oder den Mädchen, auch nicht an den Kollegen auf dem Revier. Es geht ganz allein um mich. Und leider kann mir auch keiner dabei helfen." Annie hob den Kopf, aufgelöst in ihren Tränen. Fest drückte sie ihren Sohn an sich, nach Fassung ringend. "Versprich mir, dass du heil und unbeschadet zurückkommst!", forderte sie. Peter biss sich auf die Lippe. "Das kann ich nicht. Leider", murmelte er mit erstickter Stimme. Er spürte Annies schwere Atmung. Sie umfasste sein Gesicht und zog es an ihres, als wollte sie ihm in die Augensehen. "Dann pass bitte auf dich auf! Versprich mir, dass du auf dich aufpasst! Und dass du dich mal meldest. Bitte, Peter!" Der junge Mann nickte: "Versprochen Mom!" Sie fielen sich in die Arme und weinten, Minuten gingen vorüber, ohne dass sie ein Wort sprachen. Dann fing Annie an zu sprechen, sie hatte sich wieder gefasst. Sie griff nach ihrer Handtasche, die sie auch zielsicher erwischte, und kramte ihren Geldbeutel heraus. Wortlos reichte sie Peter eine Kreditkarte. "Mom bitte, ich…", wollte er ablehnen, aber Annie legte ihm einen Finger auf den Mund. "Nimm sie. Und wenn es nur für den Notfall ist. Bitte nimm sie mit. Wer weiß, was passiert." Wieder saß der Kloß in ihrer Kehle, Peter hörte und spürte es deutlich. Sie legte ihm die Karte in die Handfläche und faltete seine Finge darum. Er küsste sie auf die Stirn. "Danke Mom. Ich liebe Dich! Mach dir keine Sorgen." "Ich liebe Dich auch, Junge!" Sie umarmten sich fest. * Peter betrat den Lebensmittelmarkt und streifte durch die Regale. Hinter dem Tresen stand eine kräftige Dame in einem grauen Rollkragenpulli und sortierte einen Stapel Zeitschriften. >Meggie<, dachte Peter an den Namen, den Carl Heyes ihm genannt hatte. Sie hatte Peter bemerkt und beobachtete ihn unauffällig, in einsamen Gegenden wurden Fremde in der Regel skeptisch empfangen. >Und manchmal auch zu Hause<, dachte Peter und rieb sich das Handgelenk unbewusst. Er suchte sich einen Apfel, eine Packung mit weichen Brötchen, Kerzen, dazu einen Satz Briefpapier, einen Füllfederhalter und eine bunte Geschenkbox mit Weihnachtsmotiv aus und machte sich auf den Weg zur Kasse. "Guten Morgen", begrüßte er die Dame freundlich. Sie lächelte ihn geschäftig an. "Guten Morgen Mister. Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Diese Sachen?" "Nein, auf der Durchreise. Sagen sie, Mister Heyes sagte, dass es vielleicht möglich ist, dass sie meine Kreditkarte mit mehr belasten, ich habe nämlich leider kein Bargeld einstecken." Peter drehte die Kreditkarte in seinen Händen. Es fühlte sich merkwürdig an, fast als würde er die Regeln brechen. Aber dann wurde ihm bewusst, dass es keine Regel darüber gab, es war allein seine Entscheidung, ob er ein Shaolin mit, oder einer ohne Geld sein wollte. Wieder drehte er sie, fuhr die Ränder entlang. Annie war schon bemerkenswert. Vielleicht kannte sie ihn ja sogar besser, als er sich selbst. "Wie viel brauchen sie denn, Mister?" unterbrach Meggie seine Gedanken. Sofort wurde ihm bewusst, dass er vergessen hatte, zu fragen. "Oh, ich… ich weiß es gar nicht. Ich wollte zwei Holzfiguren in der Schreinerei gegenüber kaufen und habe gar nicht nach dem Preis gefragt", gestand er der Dame peinlich berührt. Verlegen senkte er den Blick. "Das macht nichts. Carl nimmt in der Regel zwanzig Dollar pro Stück. Ich würde vorschlagen, sie buchen hundert Dollar ab und haben dann noch etwas Spielraum. Ich persönlich mag es gar nicht, ohne Bargeld unterwegs zu sein. Und diese grässlichen Karten…" Peter musste lachen. Diese Frau hatte eine herzerfrischende Art, die ihn für einen Moment seine Trübsal vergessen ließ. Er reichte ihr die Karte. "Vielen Dank, hundert Dollar klingen gut." Sie gab ihm sein Wechselgeld, vierundachtzig Dollar und dreiundzwanzig Cent, und wünschte ihm einen schönen Tag. Mit seinen Errungenschaften in einer weißen Plastiktüte, bummelte Peter die Straße ziellos entlang. Vielleicht würde er sich ein stilles Plätzchen zum meditieren suchen, oder aber im Park Tai Chi laufen. Sofern es hier einen Park gab. Eine kalte Windböe traf ihn unerwartet und ließ ihn kurz frösteln. Er zog seine Jacke enger zu und schaute sich um, wobei er wenige Schritte vor sich ein kleines Schild mit der Aufschrift "Zimmer frei" an einem Gestell in einen Vorgarten baumeln sah. Leicht quietschend schwang es im Rhythmus des Windes, als hätte es nur darauf gewartet, von Peter entdeckt zu werden. Wieder das komische Gefühl, dass es nicht richtig sei, dass er als Gegenleistung arbeiten oder etwas Ähnliches tun müsse. Er schloss für einen Moment die Augen, horchte auf sich selbst und zuckte dann die Schultern. "Warum denn nicht?", murmelte er für sich und ging auf das kleine weiße Gartentor zu, durchschritt den Vorgarten und klingelte. Ein älterer Herr öffnete und besah sich Peter, der ahnte, was jetzt kommen würde. "Entschuldigen sie die Störung, ich bin nicht von hier und auf der Durchreise. Ich interessiere mich für ihr Zimmer", beantwortete Peter die Frage, die der Mann noch gar nicht gestellt hatte, mit einem Fingerzeig auf das Schild. "Gerne", gab der Mann zurück und zeigte Peter an, ihm ums Haus zu folgen. Im Garten stand eine kleine Hütte. >wie die im Baumarkt<, dachte Peter, mit kleinen Fenstern und kleinen Gardinen davor. Peter schmunzelte. Es sah aus wie ein überdimensionales Puppenhäuschen. Der Vermieter zog einen schweren Schlüsselbund aus der Hosentasche und schloss auf, mit einer einladenden Handbewegung bat er Peter herein. Der Raum hatte vielleicht zwanzig Quadratmeter, dahinter stand die Tür zu einem kleinen Bad mit Dusche und Toilette offen. In der Ecke standen ein Ofen und ein Korb mit Holz. "Was kostet das Zimmer denn?", fragte Peter geradeheraus. Der Mann kratze sich am Kinn. "Im Sommer nehmen wir 15 Dollar pro Nacht. Aber jetzt, in der Kälte kommt eigentlich niemand zum Ferien machen… wie wär's mit acht Dollar?" Er schien verunsichert, ob das zu viel oder zu wenig war. Peter blickte sich noch einmal um. "Gut, einverstanden. Sagen wir für drei Nächte. Wer weiß, vielleicht bleibe ich ja spontan länger." Sie gaben sich die Hand und Peter bezahlte im Voraus die vierundzwanzig Dollar, woraufhin er den Schlüssel erhielt. Der junge Shaolin konnte nicht sagen, was ihn dazu bewogen hatte, für länger zu bleiben, die Worte waren raus ehe er darüber nachdachte. Ursprünglich hatte er nur bis morgen bleiben wollen, um die Figuren wegzuschicken. Als Peter die Tür hinter sich schloss, umkam ihn ein merkwürdig wohliges Gefühl. Er ahnte, dass es einfach die Ruhe war, die er die nächsten Tage haben würde. Er würde hier sitzen können und allein sein, wenn er das wollte. Und er konnte in die kleine Gaststube am Ende der Straße gehen, wenn er Gesellschaft brauchte. Es war kein Zuhause, es fühlte sich auch nicht so an, aber es war eine Anlaufstelle, ein Hafen, an dem auftanken konnte. Eine Pause auf einer Reise, deren Ende er nicht kannte. Peter legte seine Tüte auf den kleinen Schreibtisch neben der Tür und ließ sich dann rücklings aufs Bett fallen. Mit geschlossenen Augen dachte er über alles nach; seinen Vater, sich selbst, Annie, seine Freunde, Ping Hai und die letzten Tage seit der Beerdigung. *** Peter hatte lange gelegen, ohne zu schlafen. Als er sich wieder aufrichtete wurde es bereits dunkel. Er setzte sich auf den schmalen Holzstuhl, der vor dem Tisch stand und leerte die Tüte. Das Briefpapier und der Füller blieben auf dem Tisch, während die Lebensmittel und die Geschenkbox auf dem Nachtschränkchen zwischengelagert wurden. Dann schrieb er den Brief für seine Pflegemutter. Er ließ seine Gedanken und Gefühle fließen, schrieb nieder, was sein Geist ihm sagte und fühlte die positive Energie dabei. Er würde mit diesem Brief, der Mitteilung dass es ihm gut ging, einen Menschen sehr glücklich machen. Leise Gewissensbisse schlichen sich in sein Bewusstsein, schließlich hatte er Annie alleine gelassen, nachdem schon Paul fort gegangen war. Aber sie hatten drüber geredet, und Annie hatte eingesehen, dass Peter unglücklich gewesen wäre, hätte er sich zum bleiben gezwungen. Vor Peters innerem Auge erschien das Bild dieser wunderbaren Frau, die sich so aufopferungsvoll um jeden kümmerte, und die trotz ihrer Blindheit besser zu sehen schien, als manch sehender Mensch. Ihr hatte man keine Sorge verbergen können, so aufmerksam nahm sie alles auf, was um sie herum passierte. "Ich liebe dich, Mom", flüsterte er in das leere Gartenhäuschen, faltete den Brief in der Mitte und legte ihn in den Karton. Dann sank er in den Schneidersitz und meditierte.
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