Peter wanderte, ohne sich Gedanken über sein Ziel zu machen. Er setzte einfach einen Fuß vor den anderen, ließ sich treiben und seinen Geist entschweben. Er war sich sicher, dass er den richtigen Weg, wo auch immer er ihn hinführen würde, gewählt hatte. Er konzentrierte sich auf die Schwingungen seiner Umgebung, die Energien, die in der Luft lagen und sich von ihm aufnehmen ließen. Meistens waren es gute Energien, nur selten dunkle. Auf einer Lichtung, an der er einen Tag zuvor vorbeigekommen war, hatte er gespürt, dass hier etwas Schlimmes passiert war. Deutlich hatte er die Bilder eines Gewaltverbrechens vor sich gesehen, als er sich auf das Laub gesetzt hatte und meditiert. Diese Energie war so stark in ihn eingeflossen, dass er es nicht lange ausgehalten hatte. Das einzig Positive war gewesen, dass er auch gespürt hatte, dass dieses Verbrechen gesühnt worden war. Überhaupt reagierte er absolut sensibel auf alles, was sich um ihn herum befand. Die Stimmungen der Menschen, denen er begegnete, die Erinnerungen von Orten, die er betrat. Er dachte viel an seinen Vater, meditierte über ihn, und war inzwischen sicher, dass er es schaffen würde, den Verlust anzunehmen. So wie er sich gefühlt hatte, als er Kermit 'Auf Wiedersehen' gesagt hatte, so fühlte er sich jetzt meistens. Irgendwie selig. Aber manchmal kam die Trauer zurück. Dann weinte er wie ein Junge um seinen Vater. So, wie er es vor zwanzig Jahren getan hatte, verzweifelt und einsam. Dann fühlte er den Riss in seinem Herzen, spürte, dass etwas fehlte. Aber in der Tempelruine hatte er gesehen, dass es Caine gut ging, sein Vater hatte sein Schicksal angenommen, also musste er es auch akzeptieren. Caine war tot, aber sein Geist würde seinen Sohn immer begleiten. Vor zwei Wochen hatte er das Krankenhaus verlassen. Seine Wunden waren mittlerweile verheilt, den Gips am Handgelenk hatte er nach zehn Tagen abnehmen können, die Rippenbandage schon nach einer Woche. Seine Selbstheilungskräfte hatten ihre Arbeit getan. Seitdem streifte er ziellos durch die Wälder und Wiesen, mied Dörfer, Städte, allgemein andere Menschen. Er wollte Ruhe und Frieden. Aktuell brauchte er die Einsamkeit, um zu sich zu finden. Er nahm sich auch viel Zeit, um zu meditieren und Tai Chi zu laufen, meist verbrachte er damit die Hälfte seiner Tage, manchmal auch länger. Es gab ihm die Ruhe, die er brauchte. Den Rest der Zeit setzte er seine Reise fort, den Geist seinerseits auf Reisen schickend. Er wusste nicht, wo er war und welche Strecke er zurückgelegt hatte, aber es war ihm auch egal. Darum ging es nicht mehr. *** Peter wurde seinen Gedanken gerissen, seine Shaolin-Instinkte schlugen an. Abrupt blieb er aus der Bewegung stehen und horchte mit allen Sinnen auf die Umgebung. Ganz leise hörte er ein 'Hilfe'. Es war erstickt, leise, verzweifelt. Der junge Mann rannte los, sein Gefühl verriet ihm die Richtung, die Schreie wurden lauter. Nach etwa hundertfünfzig Metern blieb Peter stehen und blickte nach unten. Er stand direkt an der Kante eines alten Brunnens. Um das Loch herum lagen Holzstücke, vermutlich war das Loch nur mit Brettern abgedeckt worden und... "Hilfe!" ...ein Junge beim Spielen eingebrochen. Peter sah im Augenwinkel einen Rucksack auf dem Waldboden liegen, ignorierte ihn aber vorerst. Zunächst musste er dem Jungen helfen. "Hilfe." Die Stimme wurde schwächer, die Zeit knapp. Ohne darüber nachzudenken setzte Peter sich an den Rand des Schachtes und glitt hinein. Das Loch war schmal, Peter konnte sich je links und rechts an den glitschigen Steinen abstützen. Es war kalt hier unten, und da die Steine feucht waren, musste der Brunnen noch Wasser führen. Der Junge würde innerhalb kürzester Zeit erfrieren. Peter bahnte sich seinen Weg nach unten. Seine Hände und Füße saßen fest auf den mit Algen bewachsenen Steinen, langsam, aber sicher, kam er immer tiefer. Die Dunkelheit hinderte ihn nicht, seine Sinne zeigten ihm vor seinem inneren Auge die Umgebung taghell, sodass er alles erkennen konnte. Nachdem Peter etwa 15 Meter nach unten geklettert war, erlaubte er sich innezuhalten und nach unten zu schauen. Der Junge trieb bewusstlos, aber mit dem Gesicht über der Oberfläche, im Wasser. Es waren noch drei Meter. Die Schritte wurden groß, den letzten Meter ließ sich Peter neben den Jungen in das eisige Nass fallen. Er konnte in dem Restwasser stehen, was ihm die Sache erleichterte. Sanft schlug er ihm auf die Wange. Das Gesicht war blass und eiskalt. Der Junge war nicht wach zu bekommen. Kurz entschlossen wuchtete Peter den Körper des Jungen, der etwa 14 Jahre alt sein musste, aus dem Wasser und legte ihn über seine Schulter. Er wusste, dass er sich beeilen musste. Der Shaolin stemmte seine Füße und Hände wieder an die Seitenwände und drückte nun das Gewicht seines Körpers und dem des Jungen nach oben. Er brauchte wesentlich länger für die knapp zwanzig Meter, als er erwartet hatte, allerdings hatte er vorsichtig sein müssen, durfte nicht riskieren, abzurutschen und neu anfangen zu müssen. Oben angekommen legte er den Jungen auf das Laub. Er legte ihm eine Hand auf die Brust, die andere auf die Stirn. Er war schwach. Peter griff blind nach dem Rucksack, den er gesehen hatte, und schüttete ihn aus. Er fand trockene Kleidung des Jungen. Schnell und ohne Rücksicht auf die Kleidungsstücke zog Peter den Jungen aus und legte ihm trockene Sachen an. Dann legte er die seine Fingerspitzen auf die Schläfen des Kindes und teilte sein Chi mit ihm, um den leblosen Körper aufzuwärmen. * * * Kermit saß im Delancys am Tresen und starrte eher teilnahmslos auf den Fernseher, als plötzlich die Nachrichten in der Halbzeitpause des Footballspiels einen sensationellen Fall von Selbstlosigkeit ankündigten. Während die Kollegen in ihr Gespräch vertieft waren, schaute Kermit aufmerksam zum Fernseher, auch wenn er sich selbst nicht genau beantworten konnte, warum. Eine innere Stimme schien es ihm zu befehlen. Eine blonde Reporterin mit offener, in großen Wellen geföhnter Mähne, dezent geschminktem Gesicht und einer grünen Blazer-Jacke trat vor die Kamera. "Guten Abend, sehr verehrte Damen und Herren. Ich bin Sandra Kerr und berichte ihnen heute von einer selbstlosen Rettungsaktion, die über die Grenzen des Bundesstaates Kalifornien Schlagzeilen macht." Es wurde Bilder eines Erdloches eingespielt, die Stimme von Sandra Kerr begleitete aber weiterhin. "In diesen Brunnen fiel heute ein Junge, als er aus dem Waisenhaus weglaufen wollte. Seine Hilferufe wurden einem Wanderer gehört.", Kermit horchte auf, "der selbstlos und ohne Seil oder anderen Hilfsmitteln den fast zwanzig Meter tiefen Brunnen hinabkletterte, den bewusstlosen Jungen auf seine Schulter nahm und durch die schmale Öffnung wieder ans Tageslicht brachte." >Peter< dachte Kermit, und er hatte keinerlei Zweifel. Er stieß Jody, die neben ihm stand, in die Rippen, um ihre Aufmerksamkeit auf den Fernseher zu lenken. Die anderen reagierten ebenfalls und nach wenigen Sekunden saßen sie alle regungslos auf ihren Barhockern und starrten in die Mattscheibe. "Aber damit noch nicht genug, meine Damen und Herren. Der Wanderer zog dem Jungen die nassen Kleider aus und wickelte ihn in trockene, ehe er ihn drei Meilen weit in die nächste menschliche Ansiedlung trug, wo ein Krankenwagen verständigt werden konnte." Die Freunde sahen sich an. Das war das erste seit über zwei Wochen, was sie von Peter hörten. "Leider wollte sich der Retter nicht für ein Interview zur Verfügung stellen, auch sein Name ist uns leider nicht bekannt. Wir wissen nur, dass er Priester ist und sich auf einer Wanderung befindet, wie er mir selbst abseits der Kamera sagte. Wir werden seinen Wunsch selbstverständlich respektieren und bitten auch sie, liebe Zuschauer, seine Identität nicht zu verraten, selbst wenn sie ihn kennen sollten. Das schulden wir einem solchen Helden, wie dieser Fremde einer ist." Kermit konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Auch die anderen schmunzelten. "Das war Sandra Kerr, live aus dem schönsten aller Bundesstaaten", schloss die Reporterin und sogleich befanden sich die Bilder wieder im Footballstadion. Die Freunde ließen vom Fernseher ab. Unmerklich stieß Blake seine Kollegin Jody in die Rippen und flüsterte ihr etwas zu, unhörbar für die anderen. "Ich hab dir doch gesagt, es geht ihm gut." Jody musste lächeln. Kermit blickte nachdenklich. "Der Junge war aus einem Waisenhaus, nicht wahr?", fragte er mehr zu sich selbst, als seine Freunde. Skalany sprang sofort darauf an. "Und Peter lebte auch in einem... meinst du...", hakte sie nach. "Das wäre aber ein mächtiger Zufall", gab T.J. seinen Senf dazu. "Aber immerhin...", begann der Chief. "...ist Peter ein Shaolin!", vollendete Jody, "Und bei denen gibt es keine Zufälle!" Jetzt mussten sie alle lachen. Es bestand kein Zweifel daran, dass es sich um eben dieses Waisenhaus handelte, welches Peter vor so vielen Jahren verlassen hatte, um bei den Blaisdells einzuziehen. Das Gelächter versiegte bald, und für einen Moment gaben sie sich wieder der Sentimentalität und der Trauer um die Verluste hin, ehe nach und nach wieder die normalen Feierabendgespräche Einzug hielten. * * * Peter saß auf einer niedrigen Mauer und lehnte sich an den Zaun. Das Haus hatte sich nicht wirklich verändert, nur dass es heute nicht mehr so groß wirkte. Aber er war ja auch erwachsen geworden. Die Erinnerungen daran, wie er das Haus zum ersten Mal sah, kamen wieder hoch. Neben Ping Hai hatte er den gepflasterten Weg betreten, der auf die Pforte zuführte, den Blick an das riesenhafte Gebäude gerichtet. Damals war der Putz alt und grau gewesen. Heute erstrahlte es in einem hellen Gelb und wirkte freundlicher. Hinter Peter wuselten Reporter und Fotografen, ließen ihn aber Gott sei Dank in Ruhe. Er hatte zuvor kurz mit einer blonden Reporterin gesprochen und sie gebeten, seinen Wunsch nach Ruhe und Anonymität zu respektieren. Sie ließen ihn in Ruhe. Eine ältere Dame stellte sich zu Peter und sprach ihn an. "Möchten sie vielleicht einen warmen Tee? Und ihre Sachen zum Trocknen aufhängen? Wir könnten bestimmt etwas finden, das ihnen passt, bis ihre Kleider trocken sind." Die Stimme der Dame war freundlich und gütig, Peter beschloss, ihrem Angebot zu folgen. Er hatte noch gar nicht wirklich wahr genommen, dass auch er nasse Sachen trug. Nur die Sanitäter hatten ihn mitnehmen wollen, um ihn wie den Jungen durchzuchecken, aber er hatte dankend abgelehnt. Es ging ihm gut. Die ältere Dame führte ihn zunächst in die Umkleideräume des männlichen Personals und gab ihn einen Satz Kleider, die von dem Küchepersonal stammte. Sie lächelte verlegen. "Es tut mir leid, das ist das einzige, das ich auftreiben konnte. Aber es ist ja nur für den Moment. Dort ist die Heizung, sie können ihre Kleider darauf legen", sagte sie freundlich und verließ dann den Raum. Das Gefühl der trockenen Kleidung war gut, Peter war dankbar für die Aufmerksamkeit. Er trug jetzt eine lange weiße Hose und ein weißes Sweatshirt. Dazu weiße Socken und weiße Krankenhaussandalen. Bei dem Blick an sich hinab musste er schmunzeln. Er dachte daran, was seine Freunde wohl sagen würden, wenn sie ihn so sehen könnten. Sie würden sich sicherlich über ihn lustig machen. Wehmut schlich sich in diese Gedanken. Die Dame hatte vor der Tür gewartet und führte Peter jetzt in einen wohnzimmerartigen Raum. Auf dem kleinen Tisch dampften schon zwei Teetassen. Dankbar setzte sich Peter und nahm einen kräftigen Schluck des wärmenden Getränks. Er kam nicht umhin, sich ständig umzusehen, das Waisenhaus hatte sich stark verändert. "Ich weiß gar nicht, wie ich ihnen danken soll", begann die Dame, aber Peter winkte ab. "Es ist mein Ernst, Mister..." "Caine. Peter Caine." Sie setzte ihre Ansprache fort. "Nicht jeder wäre einfach in den Brunnen geklettert. Viele hätten Hilfe geholt, ja, aber selbst hineinklettern... nein! Zumal es zu spät gewesen wäre, wenn man Hilfe geholt hätte. Sie haben Steve das Leben gerettet, Mister Caine!", sagte sie in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ. "Bitte, nennen sie mich Peter, Miss..." Verlegen schlug sie eine Hand vor den Mund. "Herrje, verzeihen sie bitte! Mein Name ist Helen Gillesby, ich bin die Heimleiterin." Sie schüttelten sich die Hände. "Seit wann?", fragte Peter. "Seit acht Jahren. Waren sie schon mal hier? Mir ist nicht entgangen, dass sie sich permanent umschauen." Sie lächelte ihn aufmunternd an. Peter wünschte sich inständig, dass die Heimleitung damals auch so freundlich gewesen wäre. Er nickte. "Ich bin hier aufgewachsen. Als ich zwölf war, starb mein Vater; das dachte ich jedenfalls. Meine Mutter war schon länger tot. Und da hat mich ein älterer Priester hier her gebracht", erklärte Peter und ließ seine Augen wieder schweifen. Es wirkte jetzt alles so hell und freundlich. "Ein Priester?", fragte sie nach. "Ja. Mein Vater war auch einer, so wie ich heute. Wir lebten in einem Tempel, der dann allerdings zerstört wurde. Ich glaubte meinen Vater tot, und er mich." "Dann lebte er aber noch?" "Ja. Vor fünf Jahren haben wir uns durch Zufall wieder getroffen." Peter machte eine kurze Pause, die von Helen Gillesby nicht unterbrochen wurde. "Aber vor wenigen Wochen ist er dann tatsächlich gestorben." "Mein Beileid", bekundete sie mit gesenktem Kopf. Peter nickte dankend. "Dann sind sie der Shaolin-Junge? Ich habe von ihrem Fall gehört, man hat mir davon erzählt. Sie müssen ein schwieriger Fall gewesen sein. Ein Einzelgänger", referierte sie, was sie gehört hatte. Peter schmunzelte. "Ja, das war ich. Impulsiv und aufbrausend. Und unglücklich", Peter nahm noch einen Schluck Tee und schaute zu Boden. Er wollte das Thema wechseln. "Wo sind denn eigentlich die Kinder?", fragte er plötzlich, als ihm auffiel, dass es verdächtig leise war. Helen lächelte. "Sie essen grade. Warten sie noch fünf Minuten, dann bricht hier die Hölle los", sagte sie lächelnd. Peter spürte, dass diese Frau ihren Job der Kinder wegen machte. Sie liebte es, diesen armen Wesen zu helfen, sie über die erlittenen Verluste hinwegzutrösten, ihnen Kraft fürs Leben zu geben. Er bewunderte sie. "Sagen sie, dürfte ich vielleicht noch etwas hier bleiben und mich umsehen? Der Erinnerungen wegen?", fragte Peter höflich. "Selbstverständlich, so lange sie möchten! Kann ich ihnen vielleicht auch ein Zimmer anbieten? Es wird gleich schon dunkel. Seien sie unser Gast, bitte. Und wenn sie sich beeilen, bekommen sie in der Küche sogar noch etwas zu essen." Peter lächelte. "Nicht nötig, ich bin nicht hungrig. Aber das Zimmer nehme ich gerne", sagte Peter, dem der Gedanke an ein richtiges Bett gut gefiel. Er hatte sich in der letzten Zeit stark verausgabt, ohne seinem Körper etwas zurückzugeben. Er hatte sehr wenig geschlafen, viel meditiert, wenig gegessen, viel trainiert. Er wusste, dass er sein Verhalten bald ändern musste, sonst würden alle Shaolin-Kräfte dieser Welt den Zusammenbruch seines Körpers nicht mehr verhindern können. Aber auf der anderen Seite wollte er nicht schlafen, weil er nicht träumen wollte. Und er wollte nicht essen, weil sein Magen dagegen rebellierte.
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