Peter hatte einige Tage in Pauls Hütte und der Einsamkeit verbracht. Er hatte viel nachgedacht, auch wenn das Ergebnis seiner Gedankengänge meist das gleiche war: Sein Vater hatte ihn maßlos getäuscht. Der Vorfall war zwei Wochen her. Peter hatte seine Arbeit wieder aufgenommen, seine Kollegen hatten ihm verziehen und Kermit hatte sein Wort und damit sein Schweigen gehalten. Peter hatte seinen Vater seit dem Rauswurf aus seiner Wohnung nicht mehr gesehen, und er war auch nicht traurig darüber. Die blinde Wut war zwar verflogen, aber er hatte immer noch keine Entscheidung getroffen, wie er mit der ganzen Angelegenheit umgehen sollte. Schließlich war da nicht nur der Bruch mit seinem Vater, sondern auch noch die Tatsache, dass er einen Halbbruder hatte. Er hatte in den vergangen Tagen häufig darüber nachgedacht, und in ihm wuchs allmählich die Neugier, den Jungen kennenzulernen, denn letztendlich konnte der nichts für die Umstände. ***** Caine unterdessen hatte Abstand von seinem Sohn genommen, auch wenn es ihm unbeschreiblich weh tat. Er glaubte fast schon daran, Peter für immer verloren zu haben, und er konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Die Beziehung damals hatte sich langsam angebahnt, schleichend, so dass der Verlauf selbst den Shaolin-Priester überrascht hatte. Die Trauer über den schweren Verlust war in den Hintergrund gerückt, und eines Tages, nach fast zwei Jahren, hatte er seine Zurückhaltung verloren. Aber das schlechte Gewissen hatte ihn rastlos gemacht, so dass er seine Wanderung fortgesetzte. Und nun musste er erfahren, dass er mit diesem einen Mal ein Kind gezeugt hatte, einen weiteren Sohn. Caine hatte alle seine Möglichkeiten abgerufen, um Rose Pierson und ihren Sohn zu finden. Und es hatte nicht lange gedauert, bis er erfolgreich gewesen war. Er und Rose lernten sich neu kennen, und auch der junge Patrick erfuhr, dass der Fremde, etwas merkwürdige Mann, sein Vater war. Caine spürte, dass die selbe Vertrautheit und Zuneigung von damals zurückkehrte. Aber er wagte es kaum, glücklich zu sein, zu schwer trug er sich an Peters Reaktion auf die Sache. Als er nach nahezu zwei Wochen nichts von seinem Sohn gehört oder gesehen hatte, hatte er schon fast aufgegeben, jemals wieder einen Platz in dessen Herzen zu haben. ****** Peter war mit seinem Wagen auf dem Heimweg, als er über Funk die Meldung von einer Geiselnahme in der West City High School hörte. Sofort bestätigte er, schaltete das Blaulicht ein und gab Gas. Er parkte seinen Wagen und ging zum zuständigen Seargent. "Detective Caine vom 101. Revier. Können sie schon was sagen?" fragte Peter, während er das dreistöckige Gebäude musterte. Der Uniformierte sah ihn kurz an und begann zu berichten. "Alleinerziehender Vater, dem wegen Alkoholproblemen die Kinder weggenommen wurden. Er ist durchgedreht, in einen Klassenraum gestürmt und hat die Kinder mit einer Waffe bedroht. Die meisten konnten fliehen. Nach unseren Kenntnissen befinden sich noch drei Kinder in seiner Gewalt." Peter nickte, ohne den Blick vom Gebäude abzuwenden. Es gab nur einen Raum mit zugezogenen Vorhängen, die immer wieder wackelten. Dort mussten sie sich befinden. "Sind die Eltern informiert?" fragte er den Sergeant. "Ja, sie stehen dort hinter der Absperrung." Er machte eine ausladende Handbewegung zur anderen Seite der Straße. Dort standen vier Personen; ein Ehepaar, dass sich ängstlich aneinander klammerte, und zwei einzelne Frauen, in Sorge aufgelöst. Erst auf den zweiten Blick erkannte Peter Rose Pierson unter den Vieren. Er brauchte eine Schock-Sekunde, um zu begreifen, dass das bedeutete, dass sein ihm noch unbekannter Halbbruder in den Händen des Geiselnehmers war. Unbewusst strich er sich durch die Haare. In diesem Moment rollte das Kermit-Mobil neben die Streifenwagen. Kermit kam auf ihn zu und erkannte im Blick seines Partners, dass etwas nicht stimmte. "Was ist los?" fragte er ohne weitere Umschweife. "Mein..." Peter schluckte, an den Ausdruck musste er sich noch gewöhnen, "mein Bruder ist da drin." Kermit verstand sofort, was Peter damit meinte. Mit einem Blick über die Schulter erkannte er die Frau, die er flüchtig auf dem Revier gesehen hatte. "Das SWAT-Team braucht noch zwanzig Minuten, die hängen im Stau, Verkehrsunfall in der Rush Hour. Kam eben über Funk", sagte Kermit. Er konnte Peters Reaktion vorhersagen, und er fand die Idee gar nicht schlecht. Peter sah ihm in die Augen. "Bist du dabei?" "Oh yeah!" Sie umrundeten unbemerkt das Gebäude und kamen zum Hintereingang, der allerdings verschlossen war. Kermit wollte schon das Schloss zerschießen, aber Peter drückte die Hand nach unten. "Zu laut", sagte er knapp und fing dann an, sich die Hände zu reiben. Immerhin hatte dieser Trick schon einige Male funktioniert, auch wenn er nicht garantieren konnte, dass es diesmal so sein würde. Aber dann konnten sie immer noch die Kermit-Methode wählen. Peter drückte seinen Daumen auf den Schließzylinder, schloss die Augen und drehte ihn. Sie hörten ein leises Klacken, dann ließ sich die Tür öffnen. Kermit schlug ihm anerkennend auf die Schulter, ehe sie sich lautlos durch den Flur auf den Weg zum dritten Stock machten. Sie verständigten sich lautlos, bis sie einen Klassenraum vor ihrem Ziel anhielten. Peter deutete zur Tür, Kermit nickte. Langsam und lautlos legten sie die letzten zehn Meter zurück, bis sie direkt neben der Tür standen. Sie konnten leise Stimmen hören, ein Wimmern und Schluchzen. Peter streckte sich und blickte vorsichtig durch das kleine Fenster, das oben in der Tür eingesetzt war. Ein erwachsener Mann mit einem Revolver stand am Fenster und blickte durch einen Spalt in den Vorhängen hinaus. Die Kinder hatte er mit einem Seil an sich gebunden. Immer ein Meter Schnur, dann ein Mensch. So vermied er, dass sie weglaufen konnten. Peter erkannte schon im Profil seinen Halbbruder, die Augen waren unverwechselbar. Es war der, der dem Geiselnehmer am nächsten war. Dahinter befanden sich noch zwei Jungen, die weinten. Er zog seinen Kopf zurück und deutete Kermit an, dass er auch gucken sollte. Nach einem kurzen Moment der Beobachtung zog Kermit den Kopf zurück und fragte Peter tonlos, nur durch Formen seiner Lippen, welcher denn sein Bruder sei. "Der Erste", antwortete Peter ebenso geräuschlos. Kermit nickte, um anzuzeigen, dass er verstanden hatte. Beide wussten, dass Patrick die erdenklich schlechteste Position inne hatte. Peter trat so vor die Tür, dass der Mann ihn nicht sehen konnte. Kermit nickte und zählte dann mit seinen Fingern bis drei. Peter trat die Tür auf und die zwei Polizisten stürmten hinein. Der Geiselnehmer hatte schneller als erwartete reagiert. Bis Peter und Kermit mit der Waffe im Anschlag im Raum standen, hatte der Mann bereits Patrick am Kragen gepackt und hielt ihn vor sich, die Waffe an die Schläfe gepresst. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Junge die beiden Polizisten an, in seinem Blick lag Todesangst. "Waffen weg!" brüllte der Geiselnehmer. "Waffe weg!" brüllten auch die beiden Cops. "Ich erschieße den Jungen!" verlieh der Mann seiner Forderung Nachdruck. Kermit blickte zu Peter, der sein Ziel nicht aus den Augen ließ. Kermit hob seine Waffe an und hielt die Hände hoch. "Ganz ruhig", sagte der Mann mit der Brille. Er neigte den Kopf so, dass er über den Rand gucken konnte und wiederholte seine Worte, während er dabei fest in die Augen des Jungen blickte. Patrick blickte zu Peter, der noch immer auf den Mann mit dem Revolver zielte. Dann nickte er kaum merklich und schloss die Augen. "Beide!" keifte der Geiselnehmer. "Waffe weg", sagte Peter ruhig. Er sah, dass der Junge noch immer beide Augen geschlossen hielt. Sein Halbbruder zitterte vor Angst. Der enttäuschte Vater presste den Revolver noch fester in die Schläfe, um seine Forderung noch einmal zu verdeutlichen, als Peter schoss. Die Kugel traf die rechte Seite der Stirn, der
Tod trat so schnell ein, dass sein Gehirn keine Zeit mehr hatte, den Befehl
an die Finger zu geben, abzudrücken. Patrick stand noch immer zitternd da, öffnete nur langsam die Augen. Kermit kümmerte sich derweil um die beiden anderen Jungen. Peter sah den verängstigenden Patrick an, und urplötzlich wurde ihm etwas klar. ***** Sie brachten die drei Kinder auf die Straße, unter dem Jubel der zuvor evakuierten Schüler und der Freude der Eltern. Die zwei Jungen rissen sich von Kermit los und rannten zu ihren Eltern, die sie dankbar in die Arme schlossen. Peter führte Patrick an den Schultern, als er sah, dass sein Vater neben Rose Pierson stand und ihr den Arm um die Schulter gelegt hatte. Der junge Polizist brachte den Jungen zu seiner Mutter, die ihn fest umarmte. Sein Blick wanderte zu seinem Vater. Peter sah ihn einfach nur an, tief in die Augen. Er hoffte, vielleicht etwas darin lesen zu können. Etwas, das ihn bekräftigte, oder das ihm zeigte, dass er falsch lag. Peter sagte nichts, ehe er sich wieder abwandte, aber Caine war unendlich glücklich darüber, dass die Augen seines Sohnes nicht mehr voller Hass für ihn waren. ********** Als er die Wohnung betrat stand sein Vater am Kräuterregal und bearbeitete gerade etwas mit dem Mörser. Peter war erstaunt, als er sich nun zu ihm umdrehte und nicht, wie sonst eigentlich immer, mit dem was er tat einfach weitermachte. Er musste den alten Mann wirklich sehr verletzt haben. "Ich freue mich, dass du gekommen bist", sagte Caine glücklich. "Weißt du, ich habe nachgedacht", begann Peter seine Rede, die er in den letzten achtundvierzig Stunden so oft in seinem Kopf durchgegangen war. "Als ich von Rose Pierson und ihrem Sohn Patrick hörte, als ich die Jahre zurückgerechnet habe, da war ich so wütend und enttäuscht. Ich habe mich und Mutter verraten gefühlt." Er senkte den Blick und strich sich durch die Haare. Sein Vater stand am Regal und hörte aufmerksam zu. Er schien zu spüren wie schwer Peter diese Worte fielen und unterbrach ihn daher nicht. "Aber ich glaube, dass ich gar nicht deshalb wütend war. Es ging nicht darum, dass du ein zweites Glück gefunden hattest. Sondern ich glaube, dass es eigentlich darum ging, dass ich so wenig von dir weiß. Von den vielen Jahren vor dem Tag im Krankenhaus, als ich dich wiederfand." Peter verharrte jetzt an der Balkontür und blickte in den grauen Himmel. Es würde bald regnen. "Weißt du, ich habe einfach das Gefühl, dass du mich nicht an deinem Leben teilhaben lässt, oder teilhaben lassen willst. Während du meine Sorgen spüren kannst, weißt, was in mir vorgeht, habe ich keine Ahnung, wie es in dir aussieht." Caine hörte die Traurigkeit, die in diesen Worten lag. Schwieg aber noch immer. "Aber letztendlich stehe ich nun vor der Wahl, ob ich ein Familienmitglied verlieren oder ein weiteres dazu gewinnen will. In den Jahren im Tempel habe ich mich nach einer Mutter gesehnt, im Waisenhaus nach einer Familie, bei Paul und Annie nach meinen richtigen Eltern. Ich war ein Idiot. Und jetzt habe ich einen Bruder und ich stehe kurz davor, ihn wegzuschicken, ehe ich kennen lernte." Er schluckte schwer und drehte sich dann Caine zu. "Ich habe einfach nicht genug Familie, um sie mutwillig zu verlieren." Mit diesen Worten verließ ein tiefer Schluchzer seine Kehle; und Vater und Sohn fielen sich tröstend in die Arme. Peter spürte, dass auch sein Vater weinte. Der junge Mann löste sich aus der Umarmung, strich sich die Tränen weg und blickte seinen Vater dann an. Noch nie hatte er Caines Augen so offen gesehen, noch nie hatte er so tief an dessen Gefühlen teilhaben gedurft. Und dennoch wusste er, dass es nicht so leicht war. "Ich hab Dich lieb Paps, aber...", er schluckte erneut, "aber ich weiß so wenig über dich. Das ist es, was mich so traurig und zornig macht. Du verschließt dich vor mir, während mein Leben offen vor dir liegt." "Ich würde mich freuen, wenn wir vielleicht irgendwann eine Art gemeinsames Leben daraus machen könnten, aber...", Peter winkte ab, ihm fehlten die Worte um zu beschreiben, was er wollte, ohne konkrete Forderungen an seinen Vater zu stellen. "Ich muss los", redete er sich noch raus und war dann verschwunden. ***** Peter parkte seinen Wagen in der Tiefgarage und fuhr mit dem Lift in seine Wohnung. Er war enttäuscht von sich selbst, dass er die Aussprache weder zu Ende noch auf den Punkt hatte bringen können. Als er die Tür aufschloss und die Lichter anschaltete spürte er, dass etwas anders war. Irgendetwas war im Raum, aber etwas Gutes, voller Licht und Frieden. Verwirrt blickte Peter sich um. Auf dem niedrigen Wohnzimmertisch lag das, was diese Stimmung verursachte. Ein großes, in Leder gebundenes Buch, mit einer Schnur verschlossen. Vorsichtig löste Peter das Band und klappte den Umschlag auf. Tagebuch des Kwai Chang Caine stand dort in feinen chinesischen Schriftzeichen. Im ersten Moment dachte Peter, dass es sich um das Buch seines Urgroßvaters handelte, dann aber entdeckte er die Datumszeile. Die Eintragungen begannen vier Tage nach Zerstörung des Tempels. Ein Ende war nicht eingetragen, es war also noch nicht abgeschlossen. "Sein Tagebuch", flüsterte Peter andächtig. ***** Die ganze Nacht verbrachte Peter mit der Lektüre des Buches, seine Wangen waren feucht von Tränen, die er immer wieder bei bestimmten Kapiteln vergossen hatte. Besonders die Schilderungen der Gefühle, die Caine im Bezug zum Tod seiner Frau und seines Sohnes hatte, erschütterten Peter. Er wusste nun, dass er seinem Vater Unrecht getan hatte. Dieser Mann konnte so unbeschreiblich gefühlvoll und offen sein, dass Peter eine Gänsehaut bekam. Er war noch nie im Leben so stolz gewesen, der Sohn des Kwai Chang Caine zu sein. Er klappte das Buch zu und verknotete sorgfältig die Schnüre. Dann strich er zärtlich über die Ledereinband und flüsterte: "Ich liebe dich, Vater." Und in diesem Moment pfiff der Wind an seinem offenen Fenster vorbei und Peter konnte schwören, die Stimme seines Vater darin gehört zu haben, die ihm antwortete: "Ich liebe Dich auch, mein Sohn." ********** Peter brauchte eine ganze Weile, um sich daran zu gewöhnen, dass Rose Pierson nun ein fester Bestandteil von Caines Leben war, aber er freute sich offen und ehrlich für seinen Vater über dessen spätes Glück. Peter verbrachte einige Zeit mit seinem Bruder, um ihn besser kennen zu lernen, sie gingen zum Baseball oder Basketball, ins Kino oder fuhren einfach durch die Stadt. Patrick war ihm sehr ähnlich, was Ungeduld und Hitzigkeit anging. Peter lächelte nur besonnen darüber. Dieser Junge war sein Bruder, und er war endlos glücklich darüber, dass er ihn gefunden hatte. Einmal, als Patrick über die Erziehungsmethoden seiner Mutter wetterte und sie verfluchte, gab Peter ihm einen Rat, etwas, das er selbst so schmerzlich erfahren musste: "Sei vorsichtig mit dem was du sagst. Familie kann man nie genug haben. Und wenn man nicht aufpasst, hat man sie durch eine unüberlegte Handlung schneller verloren als einem lieb ist." Ende
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