Autor: TempleGirl
 

Der Unergründliche See

Nachdem sie viele Stunden durch den Berg gewandert waren, sahen sie plötzlich fahles Tageslicht am Ende des Tunnels. Lange Zeit hatte ihnen noch das Feuer des Schmieds geleuchtet, später hatte Tamari ab und an vorsichtig kleine Flämmchen erzeugt.

"Ich glaube, wir sind da." meinte Peter erschöpft. Sein Magen knurrte und ihm tat alles weh.

Als sie aus dem Felsentunnel ins Freie traten, breitete sich unter ihnen der Unergründliche See mit seinen schwarzen Wassern aus. In seiner Mitte erhob sich ein schroffer Felsen, auf dessen abgeflachter Spitze die Burg des Schwarzen Ritters thronte und ihre Türme wie Finger in den düsteren Himmel streckte.

"Wie kommen wir nur da hinüber?" fragte Peter.

"Frag lieber, wie wir zur Burg hinauf kommen." erwiderte Kermitus und kratzte sich am Kopf. Die Wände des Burgbergs waren steil und glatt, die Burg schien uneinnehmbar zu sein.

Aramis schüttelte den Kopf in Richtung Ufer. "Da unten ist eine Hütte." Tatsächlich schmiegte sich dort eine windschiefe, kleine Hütte zwischen die Klippen und davor dümpelte ein kleines Boot.

Peter lenkte Aramis auf die Hütte zu und Kermitus und Tamari folgten ihm. Das Licht wurde fahler, offenbar wurde es Abend. Vor der Hütte saß Peter ab und klopfte an. Ein dürres, buckliges Männlein öffnete ihm. Als er sah, wer da geklopft hatte, erhellte sich sein Blick.

"Willkommen, Prinz Peter, willkommen!" rief es erfreut. "Kommt nur herein."

"Wartet hier." sagte Peter zu Aramis und Tamari.

"Etwas anderes wird uns wohl auch kaum übrig bleiben." meinte Aramis mit einem Blick auf Tamari, die die Hütte um Drachenhaupteslänge überragte. Diese kümmerte sich gar nicht darum, sondern rollte sich sogleich neben der Hütte zusammen und begann zu schnarchen.

Kermitus schob Peter in die Hütte hinein. "Na prima." murmelte er. "Ein schnarchender Drache am Ufer des Sees genau in Blickweite der Burg. Der Schwarze Ritter wird uns wohl bald abholen kommen…"

"Nun unke hier nicht rum." meinte Peter ungeduldig. "Es wird doch schon dunkel."

"Unke?" murrte Kermitus. "Ich bin immer noch ein Wandelfrosch und keine Wandelkröte, verehrter Prinz."

"Entschuldige." wandte sich Peter an das Männlein. "Wir sind müde und hungrig, deshalb ist unsere Laune nicht die beste."

"Dem kann ich abhelfen." meinte das Männlein. "Ich habe zwar nicht viel, aber was ich habe, teile ich gern mit euch. Esst, trinkt und ruht euch aus, ihr werdet noch eure ganze Kraft brauchen."

Als sie bei Tisch saßen, fragte Peter: "Wer bist du eigentlich? Und warum wusstest du, dass wir kommen?"

"Alle hier im Land der Finsternis warten auf Prinz Peter, seit der Schwarze Ritter von seinem Schloss herab gestiegen ist und alle Menschen versklavt und alle Kinder geraubt hat. Ich bin der Bootsmann vom Unergründlichen See. Der Schwarze Ritter hat mir meine Tochter geraubt und zwingt mich, ihn und seine Schergen über den See zu rudern. Wenn du mir meine Tochter wieder bringst, werde ich dich heute Nacht über den Unergründlichen See rudern, Prinz Peter. Wirst du das tun?"

Peter nickte grimmig. "Das werde ich."

"Gut, dann will ich dir noch ein Geheimnis verraten: Unterhalb der Burg gibt es eine Drachenhöhle. Die Drachen, die dort leben, waren einmal wunderschön und brachten dem Blühenden Land viel Glück. Doch der Schwarze Ritter hat sie gefangen, ihnen ihre Farben genommen und sie in die Höhle gesperrt, damit sie niemandem mehr Glück bringen können. Geht zu ihnen, denn sie haben ein Geschenk für euch."

"Aber wie können sie uns denn etwas schenken, wenn der Schwarze Ritter ihnen schon alles genommen hat?" fragte Peter verwundert.

"Sie sind Glücksdrachen." antwortete der Bootsmann nur.

Später legten sich auch Peter und Kermitus nieder, um ein paar Stunden zu schlafen. Der Bootsmann weckte sie früh am Morgen, lange, ehe der Tag anbrach. Die Nacht war schwärzer, als Peter sie je erlebt hatte und es schien kein Mond am Himmel.

Tamari war von der Aussicht, schwimmen zu müssen, wenig begeistert, doch das kleine Boot wäre bei ihrem Gewicht unweigerlich untergegangen.

"Stell dich nicht so an." schalt Aramis sie leise, als sie sich jammernd ans Ufer tastete und dort umständlich eine geeignete Schwimmposition zu finden versuchte. Der Hengst ging vorsichtig ins Wasser hinein, bis er keinen Grund mehr hatte und schwamm dann so elegant und leise es ihm möglich war, neben dem Boot her. Tamari platschte so laut hinterher, dass Peter fürchtete, gleich müsse Tumult auf der Burg losbrechen.

"Nicht so laut!" raunte Aramis ihr prustend zu. "Oder willst du uns den Schwarzen Ritter auf den Hals hetzen?"

"Was glaubst du, was ich versuche?" jammerte Tamari. "Aber Drachen taugen nun mal nicht fürs Schwimmen."

Aramis verdrehte die Augen. "Stell dir einfach vor, du seist eine Eidechse."

"Na, ob die mehr Erfahrung im Schwimmen haben, wage ich jetzt mal zu bezweifeln." warf Kermitus aus der Dunkelheit ein. Peter sah am Aufblitzen seiner weißen Zähne, dass er grinste.

"Aber sie sind wenigstens etwas eleganter." gab Aramis aus dem Wasser zurück.

"Jetzt seid doch endlich mal still!" zischte Peter.

Schweigend setzten sie ihren Weg fort, nur die rhythmischen Ruderschläge und Tamaris Prusten und Stöhnen waren zu hören.

Das Schaukeln des Bootes und die Dunkelheit machten Peter schläfrig, doch als das Boot plötzlich auf Grund fuhr, war er mit einem Schlag wieder hellwach.

"Wir sind da." flüsterte der Bootsmann und half ihm ans Ufer. "Viel Glück, Prinz Peter." Er stieß das Boot wieder ab und glitt beinahe lautlos zurück auf das Wasser.

"Hab Dank für alles!" rief Peter ihm leise nach.

Aramis stieg keuchend ans Ufer und schüttelte sich. Peter unterdrückte einen Aufschrei, als ihn die eisigen Wassertropfen trafen. "Verzeihung." murmelte Aramis und trat zur Seite.

Tamari kam mit deutlich mehr Tamtam aus dem Wasser und Peter versuchte verzweifelt, sie zum Stillsein zu bewegen. "Brrrr, war das kalt. Ich hoffe nur, ich muss nicht wieder niesen." beklagte sie sich.

Als sie alle sicher am Ufer waren, machten sie sich auf die Suche nach der Drachenhöhle. Dazu tasteten Peter und Kermitus sich am Felsen entlang, da man in der pechschwarzen Dunkelheit die Hand vor Augen nicht sah. Peter musste an den schönen Frühsommertag im Blühenden Land denken, als die Sonne schien und die Vögel sangen. Er dachte an den üppigen Blumengarten seines Vaters, des Königs. Und er sehnte sich so sehr nach ihm und auch nach seinen Zieheltern, dass es weh tat. Warum musste er hier in der Dunkelheit und Kälte umher irren, zu Füßen der Burg des grausamen Schwarzen Ritters im Lande der Finsternis und konnte nicht bei den Menschen sein, die er liebte? Er schluchzte trocken auf.

Hab keine Angst, mein Sohn. Es wird alles gut.

Peter sah sich verwirrt um, doch hinter ihm war nur Kermitus. Doch ihm blieb keine Zeit, sich zu wundern, denn seine Hand verlor plötzlich den Halt und er wäre beinahe hingefallen.

"Hier muss der Eingang sein." raunte er.

Das Geschenk der Drachen

Die vier Freunde tasteten sich die Höhle hinein und bemerkten zu ihrer Überraschung, dass es darin heller war. Sie folgten dem Lichtschein und als sich die Höhle verbreiterte, sahen sie, dass er von einem kleinen Feuer herrührte. Um das Feuer herum kauerte eine Schar schwarzer Drachen. Sie sahen Tamari recht ähnlich, nur hatten sie prächtige große Flügel und längere Arme und Beine.

"Willkommen, Prinz Peter, willkommen!" begrüßte der größte der Drachen sie freundlich. "Wir haben euch schon erwartet!"

"Woher wusstet ihr, dass wir kommen würden?" fragte Peter erstaunt.

"Alle hier im Land der Finsternis warten auf Prinz Peter, seit der Schwarze Ritter von seinem Schloss herab gestiegen ist und alle Menschen versklavt und alle Kinder geraubt hat." antwortete der große Drache. "Auch wir Drachen und alle Geschöpfe der Natur. Er hat unser Drachenjunges geraubt und hält es auf seiner Burg gefangen. Und er hat uns unsere wunderschönen Farben genommen und uns hier eingesperrt. Aber wir haben ein Geschenk für euch, wenn du versprichst, uns unser Drachenjunges wieder zu bringen."

"Das werde ich." antwortete Peter grimmig.

"Ooooooh!" Tamari war hinter ihm in die Höhle gekommen. Der Weg durch den engen Höhleneingang war für sie etwas beschwerlich gewesen, doch nun sah sie lauter andere Drachen vor sich und war entzückt. "Meine Famiiiilie!" jauchzte sie und polterte auf die Drachenschar zu.

Der große Drache, eine alte Drachendame, lachte. "Willkommen, Tamari! Schön, dass du Prinz Peter eine so gute Freundin geworden bist!"

Tamari hopste von einem Drachen zum anderen und Peter und Kermitus sahen ihr lachend zu. Aramis hingegen stellte sich ungerührt nahe ans Feuer, um sein Fell zu trocknen.
Die Drachen wirkten allerdings nicht sehr fröhlich; freundlich begrüßten sie Tamari, doch wirkliche Freude wollte sich nicht einstellen.

"Tamari, das Geschenk, von dem ich gesprochen habe, ist für dich." eröffnete ihr die Drachendame, als Tamari mit ihrer Begrüßungsrunde fertig war.

Tamari bekam Kulleraugen. "Für mich? Ein richtiges Geschenk?"

"Ja." Die Drachenälteste nickte. "Ich glaube, es gibt da etwas, das du dir schon lange wünschst."

"Oh ja!" Tamaris Blick wanderte in weite Ferne. "Ich möchte fliegen können, richtig fliegen, nicht nur die paar Meter, sondern hoch über den Tälern und Bergen! Aber mit denen geht das ja nicht." Traurig betrachtete sie ihre Flügelstummel.

"Nein, mit den Flügeln geht das nicht." stimmte die Drachenälteste zu und machte eine unauffällige Bewegung. "Aber vielleicht mit diesen hier!" meinte sie augenzwinkernd.

Tamari schaute verblüfft auf ihren Rücken, auf dem ihre kleinen Flügelchen zu wachsen begannen und sich zu beeindruckenden Schwingen aus grün glänzender Drachenhaut entfalteten.

"Wow!" entfuhr es ihr. "Danke, vielen, vielen Dank!" rief sie begeistert und bewegte die Flügel einmal probeweise. Dabei erzeugte sie solch einen Wind, dass beinahe das kleine Feuer ausging. "Hoppla." meinte sie errötend. "Ich hab noch keine Übung damit."

"Die Übung kommt mit der Zeit." sagte die Drachenälteste milde. "Du wirst sehen, es ist gar nicht so schwer, im Gegenteil. Mit diesen Flügeln kannst du viel leichter fliegen."

"Und ich darf sie für immer behalten? Ich meine, sie bleiben jetzt immer so?" fragte Tamari aufgeregt.

Die Drachendame nickte. "Du wirst sie für eure Mission brauchen, deshalb ist dies das Geschenk der Drachen an euch."

Peter, der die ganze Sache sprachlos verfolgt hatte, meldete sich jetzt zu Wort. "Aber wenn ihr noch immer magische Kräfte besitzt, warum seid ihr dann noch hier und habt euch nicht längst befreit?"

"Wir können zwar noch immer Wünsche erfüllen und kleinere Dinge zaubern, aber gegen die Schwarzen Zauber sind wir machtlos." erklärte die Drachenälteste.

"Hey, hätte ich die Dinger schon früher gehabt, hätte ich nicht durch den blöden See schwimmen müssen." stellte Tamari fest, die sich verrenkte und um die eigene Achse drehte, um ihre neuen Flügel besser betrachten zu können.

"Häng sie nicht ins Feuer." warf Kermitus ein, der lässig an der Wand lehnte und von dort aus alles beobachtete.

Tamari quiekte und versuchte, im Kreis hüpfend, heraus zu bekommen, ob ihre Flügel irgendwo qualmten. Kermitus schlug sich lachend auf die Schenkel.

Peter beruhigte sie. "Es ist alles in Ordnung, Tamari. Aber weißt du was? Wenn wir hier fertig sind, können wir nach Hause fliegen!"

"Oh ja, oh ja, oh ja!" rief sie fröhlich.

"Zuerst haben wir aber noch die eine oder andere Kleinigkeit zu erledigen, wie zum Beispiel den Schwarzen Ritter zu besiegen." erinnerte Aramis sie nüchtern und drehte sich, um dem Feuer seine andere Seite zuzuwenden. "Und überdies wird mir vom Fliegen immer schlecht. Ich habe lieber festen Boden unter den Hufen."

"Es wird wirklich Zeit, dass wir weiter kommen." bestätigte Peter. "Aber wie kommen wir denn nun in die Burg?"

"Auch hier können wir euch helfen." schaltete sich die Drachendame wieder ein. "Es gibt von dieser Höhle einen geheimen Gang in die Burg, von der der Schwarze Ritter nichts weiß. Allerdings könnt nur du und der Ritter da hindurch gehen. Tamari wird hinauf fliegen und dein Pferd bleibt hier bei uns. Es kann euch in der Burg ohnehin nicht viel helfen."

Daran hatte Peter noch gar nicht gedacht. Aramis verhielt sich so menschlich, dass Peter manchmal vergaß, dass er ein Pferd war. Und ein Pferd würde in einer Burg mit engen Gängen, Treppen und vielen Zimmern tatsächlich nicht gut zurecht kommen. Also verabschiedete er sich vorerst von seinem treuen Freund, vergewisserte sich, dass er es bequem hatte und ließ sich dann den Geheimgang zeigen.

"Tamari wird sich außen vor der Burg postieren und sehen, was sie tun kann."

"Vorausgesetzt, sie kommt mit ihren neuen Flügeln aus der Höhle raus!" meinte Kermitus grinsend, während er Tamaris Versuche beobachtete, die Flügel möglichst platzsparend an den Körper zu falten.

"Habt Dank für alles." sagte Peter zu den Drachen.

In der Burg

So machten sich Peter und Kermitus also allein auf den Weg in die Burg. Peter fühlte sich verloren, ihm fehlte etwas ohne das kluge Pferd und den tollpatschigen Drachen.

Der Gang führte steil bergan und in den felsigen Boden waren Stufen gehauen. Wer mochte ihn angelegt haben, wenn der Schwarze Ritter nichts von ihm wusste? Oder half selbst der Burgberg denjenigen, die ihn von dem Schwarzen Ritter befreien würden?

"Hast du dein Schwert noch?" fragte Kermitus, der eine Fackel trug.

Peter nickte, er hatte es sich mit einem Lederriemen um die Hüften gebunden. Das zusätzliche Gewicht erschwerte ihm den Aufstieg, doch er ließ sich nicht entmutigen. Sie waren nun schon so weit gekommen, da würde er diese Treppe auch noch bezwingen und wenn er hundert Schwerter an der Hüfte trug.

"Gut, du wirst es brauchen. Des Schwarzen Ritters letzter Kampf steht bevor."

Peter dachte sich, dass Kermitus eigentlich viel besser für diesen Kampf geeignet wäre. Er war ein Ritter und trug eine Rüstung, er, Peter, war nur ein Junge und trug nur seine Kleider, die von seinen Abenteuern abgerissen und schmutzig waren, gar nicht wie die eines Prinzen. Er seufzte. Würde er seine Bestimmung erfüllen können? Oder würde der Schwarze Ritter ihn wie die anderen Kinder gefangen nehmen oder gar töten?

"Kermitus, wie soll ich den Schwarzen Ritter nur besiegen?" fragte er verzweifelt. "Er ist doch viel größer und stärker als ich."

Kermitus sah ihn ernst an. "Aber du hast etwas, das er nicht hat. Du weißt, was Liebe ist. Und du hast Freunde. Das sind deine stärksten Waffen."

Peter sah ihn zweifelnd an.

"Habe Mut, mein Freund. Du hast vieles, für das es sich zu kämpfen lohnt. Der Schwarze Ritter aber kennt nur Hass und Dunkelheit. Denke an die Menschen, die dir etwas bedeuten und die dich lieben und denke an deine Freunde. Dann wirst du stark genug sein."

Peter wusste nicht, wie ihm das helfen sollte und Kermitus' plötzliche Ernsthaftigkeit verwirrte ihn.

Doch ehe er weiter darüber nachdenken konnte, erreichten sie eine hölzerne Falltür in der Decke, an der der Gang endete. Kermitus stemmte sie auf, kletterte voran und half dann Peter hinauf. Nun waren sie in der finstersten Burg, in der Peter je gewesen war.

Ihre Schritte hallten unheimlich, als sie durch die Gewölbe schritten. Plötzlich tat sich zu ihrer Rechten knarrend eine Tür auf und schien Kermitus förmlich zu verschlucken. Peter schrie auf und hörte noch, wie Kermitus ihm zurief: "Du musst allein weiter gehen, ich kann dir nicht mehr helfen!" Seine Worte verhallten und die Tür war so fest verschlossen, als sei sie niemals geöffnet gewesen.

Peter trommelte dagegen. "Kermitus! Lass mich nicht allein!" schrie er und sank dann schließlich schluchzend zu Boden. Er war allein, ganz allein in dieser schrecklichen Burg!

Vater, oh, Vater, warum bin ich hier ganz allein und muss gegen den schrecklichen Schwarzen Ritter kämpfen?

Hab keine Angst, mein Sohn. Es wird alles gut.

"Vater?" Peter fuhr sich über die Augen und sah sich verwirrt um. Doch es war niemand da, er stand allein in dem düsteren Gang.

Da wallte plötzlich Wut in ihm auf und grimmig ballte er die Fäuste. Er würde nicht zulassen, dass der Schwarze Ritter weiterhin Leid über das Land seines Vaters, über sein Land brachte! Er war der Prinz und er würde den Schwarzen Ritter besiegen, koste es, was es wolle! Kein Kind und kein Erwachsener sollte mehr unter ihm leiden müssen, kein Drache und kein Geschöpf der Natur!

"Ja, Vater, alles wird gut! Du wirst sehen!" rief er laut.

Da ertönte um ihn herum Geraschel, erst leise, dann immer lauter, es schwoll förmlich an und ehe er sich versah, war er umringt von einem Heer kleiner, schwarzer Mäuse, die über den Boden huschten. Der Raum war erfüllt von leisem Piepsen und dem Tapsen hunderter kleiner Mäusefüßchen. Peter starrte überrumpelt auf das Gewimmel zu seinen Füßen. Wo um alles in der Welt kamen all die Mäuse her? Er bückte sich und nahm vorsichtig eine von ihnen auf seine Hand. Im Halbdunkel konnte er nur ihre Knopfaugen erkennen, die ihn hilfesuchend anschauten. Dann bemerkte er verblüfft, dass sie ein kleines rotes Tuch um den Hals trug.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag und beinahe hätte er das Mäuschen fallen gelassen: Die kleinen schwarzen Mäuse waren die Kinder, die der Schwarze Ritter geraubt hatte! Er hatte sie allesamt in Mäuse verwandelt!

"Ich verspreche dir, ich werde den Schwarzen Ritter besiegen und euch alle zurück ins Blühende Land bringen!" sagte er zu der kleinen Maus auf seiner Hand. Dann setzte er sie vorsichtig zurück auf den Boden.

Einen Moment lang saßen alle Mäuse still und sahen ihn beinahe erwartungsvoll an, als habe er eben mit ihnen einen geheimen Pakt geschlossen, dann verschwanden sie so schnell, wie sie gekommen waren.

Peter lief weiter durch die düstere Burg, durch lange, dunkle Gänge, enge Treppen hinauf und hinunter und durch verlassene Säle und Kammern mit Spinnweben an den Wänden. Er kam auch an einigen Kerkern vorbei und sah, dass in einem von ihnen das Drachenjunge eingesperrt war. Es war ebenfalls pechschwarz und sah ihn traurig an.

"Ich verspreche dir, ich werde dich befreien und zu deiner Familie zurück bringen!" sagte Peter zu ihm, doch er wusste nicht, ob es ihn verstand. Dann lief er weiter durch die unendlichen Gänge und Zimmer. Von außen hatte die Burg nicht sehr groß ausgesehen, doch innen taten sich immer neue Gänge und Räume auf, als wolle die Burg selbst verhindern, dass er den Schwarzen Ritter fand.

Atemlos blieb er stehen. So würde er ihn tatsächlich niemals finden. "Zeig dich!" brüllte er. "Fürchtest du mich so sehr, dass du meinen Freund rauben und deine Burg verzaubern musst?" Suchend drehte er sich um die eigene Achse. "Komm heraus und kämpfe wie ein Mann!"

Er zuckte zusammen, als plötzlich quälend langsam eine Tür quietschte.

"Wer bist du, dass du in meiner Burg herum spazierst und es wagst, mich einen Feigling zu nennen?" dröhnte eine tiefe Stimme hinter ihm.

Er fuhr herum und sah sich einem Ungetüm von einem Ritter in einer pechschwarzen Rüstung gegenüber. Seine Knie wurden weich, als ihn ein stechender Blick durch das Visier des Schwarzen Ritters traf. Doch er antwortete mit fester Stimme:

"Ich bin Prinz Peter aus dem Blühenden Land und ich bin gekommen, um dich zu vernichten!"

"Große Worte für einen Knirps wie dich." antwortete der Schwarze Krieger und zog unvermittelt sein Schwert.

Peter stolperte rückwärts und tastete mit zitternden Händen nach seinem eigenen Schwert. Der Schwarze Ritter drängte ihn in den nächstgelegenen Raum hinein, der sich als Rittersaal entpuppte und die Klinge seines schwarzen Schwertes zischte in atemberaubender Geschwindigkeit dicht an seinem Gesicht vorbei.

Endlich gelang es Peter, sein Schwert zu ziehen und er riss es gerade rechtzeitig hoch, um einen Schlag des Schwarzen Ritters abzufangen. Die schwarze Klinge krachte mit solcher Wucht auf sein Schwert hernieder, dass die Funken stoben und Peter beinahe das Gleichgewicht verlor. Er taumelte rückwärts gegen die Wand und rang nach Atem. Der Schwarze Ritter wollte sich auf ihn stürzen, doch Peter stieß sich geistesgegenwärtig von der Wand ab und wich zur Seite aus. Er sprang auf den morschen Tisch, der mitten im Raum stand und war nun genauso groß wie sein Gegner. Zudem war er wendiger, weil er kleiner war und keine Rüstung trug. Eine Weile hielt er den Schwarzen Ritter so in Atem, doch er spürte, wie er rasch ermüdete. Das Schwert war schwer und er hatte kaum gegessen und geschlafen. Hoffnungslosigkeit stieg ihn auf. Wie sollte es ihm jemals gelingen, den Schwarzen Ritter zu besiegen?

Da hörte er ein Flattern und sah aus dem Augenwinkel einen Schatten am Fenster. Tamari! Er hörte sie vernehmlich schniefen und betete, dass der Schwarze Ritter sie nicht bemerkte. Doch er hatte sie auch gehört und hielt einen winzigen Augenblick inne, um zu lauschen. Peter nutzte das blitzschnell aus, indem er vom Tisch sprang und einige Schritte in Richtung Fenster machte. Sein Gegner folgte ihm und hob erneut sein Schwert.

"Jetzt ist es zu Ende mit dir, Prinz Peter!" brüllte er und ließ sein Schwert nieder sausen. Peter fühlte, dass er keine Kraft mehr hatte, um den Schlag abzuwehren und kniff in Panik die Augen zu.

"Das werden wir ja noch sehen!"

Plötzlich ertönte ein Fauchen und eine Hitzewelle traf ihn unvermittelt. Er riss die Augen auf und sah eine wutschnaubende Tamari am Fenster, die sich eben anschickte, eine weitere Stichflamme auf den Schwarzen Ritter abzufeuern. Der hatte sein Schwert fallen gelassen und hielt sich die Arme schützend vors Gesicht.

"Ha, jetzt gibt es gerösteten Ritter!" rief sie triumphierend und flatterte vor dem Fenster herum wie eine überdimensionale, wütende, feuerspeiende Fledermaus. Peter musste unwillkürlich lachen.

Das aber machte den Schwarzen Ritter wütend und er stürzte sich abermals auf Peter. Dieser jedoch war durch Tamaris Unterstützung wieder guten Mutes und riss blitzschnell sein Schwert hoch. Der Ritter starrte verblüfft auf die Klinge, die sich plötzlich in seine Brust bohrte, da er seinen Lauf nicht mehr bremsen konnte. Peter war ebenso überrascht und ließ erschrocken den Schwertgriff los.

Der Mund des Schwarzen Ritters verzog sich zu einem irren Grinsen, dann brach sein Blick und er fiel um wie ein gefällter Baum. Kaum lag er am Boden, zerfiel sein Körper zu Staub und übrig blieb ein runder grauer Kiesel mit weißen Streifen. Peter hob den Stein auf und betrachtete ihn verwirrt. Er zitterte noch am ganzen Körper von der Anstrengung und konnte nicht glauben, was eben geschehen war.

Ein Lichtstrahl fiel ins Zimmer. War die Nacht schon vorüber? Peter lief ans Fenster und sah, dass der Himmel blau war und die Sonne schien. Der See lag tiefblau unter ihm und er hörte sogar Vögel singen.

Tamari flog dicht unter das Fenster. "Komm, steig auf!" rief sie fröhlich. Peter kletterte aus dem Fenster und setzte sich auf Tamaris Rücken. Jauchzend stieg sie mit ihm in die Lüft


Heimkehr

Peter schrie vor Freude und warf den Stein, den er noch immer in der Hand hielt, in hohem Bogen in den See. Er schäumte auf und verschluckte den Stein förmlich. Seine Oberfläche schlug erst wilde Wellen, kräuselte sich eine Weile und lag dann wieder so still da, als sei nichts geschehen.

Tamari drehte eine Runde über dem See und Peter sah, dass das Land nun voller grüner Wiesen war und die Bäume wieder Blätter bekamen. Am Ufer galoppierte Aramis mit wehender Mähne und vor der kleinen Hütte stand der Bootsmann und winkte. Peter winkte zurück.

Tamari drehte nun wieder zur Burg ab und Peter sah aus der Drachenhöhle die Drachen aufsteigen. Ein jeder leuchtete in einer anderen Farbe und ihre Schuppen glitzernden in der Sonne, als sie sich in einer Spirale in den blauen Himmel schraubten. Peter hielt den Atem an und konnte sich gar nicht satt sehen an ihrem Anblick. Sie segelten mit weit ausgebreiteten Schwingen über dem See dahin und kehrten in einem großen Bogen zur Burg zurück. Von dort stieg das Drachenjunge auf, das nun türkisfarben leuchtete und schloss sich ihnen mit etwas unbeholfenen Flügelschlägen an. Die Drachen stiegen nun in einer engen, jubelnden Spirale noch weiter empor und stürzten sich in rasender Geschwindigkeit wieder auf den See hinunter, streiften die Wasseroberfläche mit ihren Flügeln und stiegen erneut empor. Über dem See schlugen sie Purzelbäume in der Luft und vollführten eine wahre Himmelsakrobatik. Peter hatte noch nie so viel Jubel und Freude gesehen und er spürte, wie seine Augen feucht wurden.

Vor der Burg liefen nun die Kinder zusammen und zeigten alle staunend zum Himmel hinauf. Peter rief den Drachen etwas zu und sie landeten nun bei den Kindern und ließen sie auf ihre Rücken steigen. Eines von ihnen hielt einen kleinen grünen Frosch in den Händen und reichte ihn Peter.

"Er kam zu uns, als wir noch Mäuse waren und hat uns von Prinz Peter erzählt! Er hat gesagt: Prinz Peter wird kommen und euch retten!" sagte das Mädchen lächelnd. Peter dankte ihr und steckte Kermitus in die Tasche seines Kittels.

Als alle Kinder einen Platz auf einem der Drachen gefunden hatten, stiegen sie alle wieder empor und überquerten den See. Bei der kleinen Hütte ging einer der Drachen nieder und ließ die Tochter des Bootsmanns absteigen. Sie hauchte dem Drachen einen Kuss auf die Nase, winkte Peter zu und lief dann zu ihrem Vater, der sie weinend in die Arme schloss.

Der Drache stieg wieder empor und sie flogen nun über die Felsen, die im Sonnenlicht nicht mehr bedrohlich wirkten. Am Höhlenausgang stand der Schmied und wartete schon auf sie. Ein anderer Drache ging vor ihm nieder und ließ seinen kleinen Sohn absteigen. Der Schmied drückte das Kind an sich und gemeinsam winkten sie den Drachen und den Kindern zu.

Dann flogen alle Drachen empor und machten sich auf den Weg ins Blühende Land. Der Schnee auf der Schaurigen Hochebene war geschmolzen und auch die Bäume dort bekamen neue Blätter. Im Tal der Schlafenden Nebel waren keine Nebel mehr, stattdessen lag ein liebliches Tal voller Blumenwiesen und glitzernder Bäche unter ihnen. Peter entdeckte weit unten Aramis, der einen der Bäche entlang galoppierte.

Tamari wirkte zwischen all den anmutigen und eleganten Drachen etwas plump und unbeholfen, aber Peter hätte mit keinem anderen Drachen fliegen mögen als mit ihr.
"Was sagst du dazu?" rief er ihr fröhlich zu. "Wir fliegen nach Hause!" Tamari stieß zufrieden einige kleine Flämmchen aus.

Und hinter einer weiteren Bergkette erstreckte sich das Blühende Land. Alles stand in voller Blüte und es war noch viel schöner, als Peter es in Erinnerung hatte.

Vor dem Schloss des Königs waren die Leute zusammen gelaufen und als die Drachen nun nieder gingen, brach ein tosender Jubel los. Die Eltern und Kinder liefen aufeinander zu und lachten und weinten. Peter versuchte, in dem Trubel seinen Vater zu entdecken. Er lief zum Schloss hinauf und dort stand er, am Schlosstor, etwas abseits des Trubels.

"Vater!" rief Peter und der König breitete die Arme aus und fing ihn auf. Er hielt ihn lange, lange fest, ohne ein Wort zu sagen und Peter weinte leise in seine feinen Kleider.

"Es ist alles gut, mein Sohn, es ist alles gut." sagte sein Vater leise und streichelte ihm übers Haar. Nach einer Weile löste er die Umarmung wieder und wies auf die Menschenmasse vor dem Schloss. Aus dem Trubel lösten sich ein Mann und eine Frau und kamen auf ihn zu.

"Paul! Annie!" rief Peter und rannte auf seine Zieheltern zu. Sie schlossen ihn nacheinander in ihre Arme und auch seine Schwestern waren da und sie tanzten miteinander einen Freudentanz.

Paul aber kniete vor dem König und Peter nieder. "Es ehrt mich, dass ich Euren Sohn großziehen durfte, Euer Majestät und ich hoffe, ich konnte mich meiner Aufgabe würdig erweisen. Nun ist er heimgekehrt und nimmt den Platz ein, der ihm zusteht. Hoch lebe Prinz Peter!"

"Paul…"

Peter war verwirrt. Sein Ziehvater kniete vor ihm nieder? Paul, zu dem er immer aufgesehen hatte? Er fühlte sich nicht wie ein Prinz, sondern eher wie der Bauernjunge, der er damals bei Paul und Annie gewesen war. Wie lange war das her…

Der König reichte Paul die Hand und half ihm auf. "Knie nicht vor mir nieder, Paul." erwiderte er lächelnd. "Peter hat das große Glück, zwei Väter zu haben. Du und die deinen, ihr seid hier immer willkommen!"

Peter lächelte glücklich. Tamari hatte sich vor dem Schlosstor zusammen gerollt und schnarchte vernehmlich. Aramis kam heran galoppiert und blieb schnaubend neben ihm stehen. Peter tätschelte ihm den Hals und strich ihm sanft über die weiche Nase. Er nahm Kermitus aus seiner Kitteltasche und wollte ihn in Aramis' Mähen setzen. Doch dann überlegte er es sich anders und murmelte: "Rana defendus!"

Kermitus stand wie aus dem Boden gewachsen neben ihm und salutierte grinsend.
"Schönen Dank auch. Ich muss sagen, die Heimreise war als Frosch recht angenehm, aber jetzt bin ich wirklich lieber wieder ein Ritter."

Der Alte stand plötzlich neben ihnen und sagte: "Das kannst du nun sein, wann immer du willst. Für deine treuen Dienste für Prinz Peter schenke ich dir die Freiheit, dich selbst zu verwandeln, wann immer du es willst."

Kermitus küsste dem Alten zum Dank galant die Hand und verwandelte sich gleich ein paar Mal zur Probe. Peter musste grinsen, als er einmal versehentlich als Ritter auf Aramis' Rücken auftauchte und der die Nüstern verzog.

"Weißt du eigentlich, dass du in dieser Rüstung verdammt schwer bist? Ich möchte bloß mal wissen, wie die Schlachtrösser das aushalten…"

Peter war einfach nur glücklich. Er hatte alle Menschen um sich, die er liebte und er hatte seine treuen Freunde bei sich. Was konnte er sich mehr wünschen?

Er blickte über die Menschenmenge, über die Eltern, die ihre heimgekehrten Kinder in den Armen hielten, sah zu den Drachen auf, die am Himmel ihre Runden drehten und spürte, wie sein Vater, der König seine Hand ergriff.

Und die Menge begann, ihm zuzujubeln:

"Hoch lebe Prinz Peter!"

ENDE


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