Autor: TempleGirl

 

Peter

Peter und sein Vater standen am Fuß des gewaltigen Berges und sahen hinauf. Hoch oben konnte Peter das Gipfelkreuz nur erahnen, so winzig und verschwommen nahm er es wahr. Dieses Ziel hatten sie sich für heute gesteckt: Den mächtigen Berg wollten sie gemeinsam bezwingen und das Kreuz gemeinsam berühren.

Peter trug derbe Wanderstiefel, Jeans und Pullover und hatte einen Rucksack mit Wasser und etwas Proviant bei sich. Caine war so gekleidet wie immer und trug nur seine Flöte.

Die beiden sahen sich an. "Na, dann wollen wir mal." sagte Peter und klopfte seinem Vater aufmunternd auf die Schulter. Caine nickte ihm zu und Vater und Sohn begannen ihre Wanderung.

Ihr Weg führte sie zunächst sanft ansteigend über eine Wiese, auf der vereinzelt Bäume standen. Ihr Laub begann sich bereits rot oder golden zu färben und die Luft war frisch und kühl, der Himmel blau und nur mäßig bewölkt. Hier und da lagen große Steine auf der Wiese und der schmale Pfad schlängelte sich zwischen ihnen dahin.

Peter atmete tief ein. "Ein wunderbarer Tag zum Wandern, nicht wahr, Paps?"

"Ja, ein herrlicher Tag, mein Sohn. Und eine beeindruckende Landschaft!"

Caine breitete die Arme aus, als wolle er alles um sich herum umfassen, und legte den Kopf in den Nacken. Er schloss die Augen und atmete ebenfalls tief ein. Als er sie wieder öffnete, erschien ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht. Er legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter.

"Ich fühle mich…geehrt, dass du deinen Urlaub mit mir…verbringen willst."

"Aber klar doch, Dad, dann haben wir endlich mal richtig Zeit füreinander."

Seit sein Vater in Sloanville war, hatten sie eigentlich nie viel freie Zeit miteinander verbracht. Sie hatten unzählige Fälle gemeinsam gelöst und viele Abenteuer erlebt, aber alles hatte in irgendeiner Weise immer mit Peters Arbeit zu tun gehabt. Einmal hatten sie einen freien Tag miteinander verbracht, aber selbst da waren sie vor abenteuerlichen oder gar gefährlichen Situationen nicht sicher gewesen. Deshalb hatte Peter beschlossen, dass er mit Paps ein paar Tage in die Berge fahren würde, fernab von der Stadt und ihrem Trubel, ihren Gefahren und zwielichtigen Gestalten. Und nun waren sie hier und wollten eine gänzlich andere Herausforderung annehmen.

Unter ihren Füßen raschelte trockenes Laub, das von den Bäumen links und rechts des Weges stammte. Es waren beinahe unmerklich mehr geworden und etwas weiter vorne verdichteten sie sich zu einem Wald.
Peter sah in die golden und orange leuchtenden Baumkronen über sich. Wie loderndes Feuer, kam ihm in den Sinn und ein Bild, dass er schon so oft gesehen hatte, tauchte auf einmal vor seinem inneren Auge auf.

Überall sind tosende Flammen, brüllende Hitze, herabstürzende Mauerteile. Er hört die Angst- und Schmerzensschreie seiner Kameraden und seiner Lehrer. Sein Freund liegt bewusstlos in seinen Armen und Peter versucht, ihn fort zu tragen. Doch er ist zu schwer, seine Beine knicken unter der Last ein und er fällt zu Boden. Durch ein Loch in der Wand sieht er seinen Vater, der ihn ansieht. Er ruft nach ihm, doch Caine hört ihn nicht und wendet sich ab. Dann klemmt ein umstürzender Mauerbrocken ihn ein und ihm wird schwarz vor Augen.

Peter schluckte. Die Gefühle, die er damals hatte, würde er niemals vergessen. Auch wenn er heute wusste, dass sein Vater sich damals nicht von ihm abgewandt hatte, blieben die Angst und das Gefühl der Zurückweisung, die er als Junge an diesem Tag empfunden hatte, untrennbar mit dieser Erinnerung verbunden. Doch so groß dieser Schmerz gewesen war, gab es Erlebnisse, die ihm noch wilderen, scheinbar unüberwindbaren Schmerz bereitet hatten.

Peter warf einen verstohlenen Seitenblick auf seinen Vater. Wie dankbar war er, dass dieser heute lebendig und gesund neben ihm ging. Eine sehr lange Zeit hatte er geglaubt, er habe ihn für immer verloren.

Sie wanderten jetzt durch eine Art Allee dem Wald entgegen. Der Pfad hatte sich zu einem Kiesweg verbreitert und hatte immer noch eine nur mäßige Steigung. Auf einmal sah Peter einen Schatten zwischen den Bäumen. Als sie näher kamen, erkannte er, dass dort ein hoher, schmaler Stein stand, der auf einer Seite abgeflacht war. Beinahe wie ein Grabstein.
durchzuckte es Peter. Er hatte schon an den Gräbern beider Eltern gestanden, fiel ihm dabei ein. An dem seiner Mutter war er erst als erwachsener Mann gewesen, obwohl sie die erste gewesen war, die er entbehren musste. Er hatte es damals, als Kind, einfach nicht über sich gebracht, dorthin zu gehen; die Vorstellung, seine Mutter läge dort in der kalten Erde, war ihm ein Gräuel gewesen. Schmerz und Wut hatten ihn beherrscht, der Schmerz des Verlassenseins und die Wut der Ohnmacht:

Die Wut seiner eigenen Ohnmacht dem Tode gegenüber und der Ohnmacht seines Vaters, der seiner Mutter trotz seiner großen Heilkundigkeit nicht hatte helfen können. Peter fühlte seine Augen brennen, als er an seine Mutter dachte, daran, wie sie unter ihrer Krankheit gelitten haben mochte und an ihren Tod. Er war noch sehr klein gewesen und konnte sich an das alles nur dunkel erinnern. Aber das Gesicht seiner Mutter sah er dennoch deutlich vor sich, und er glaubte auch, sich an ihren Geruch zu erinnern.

Oh, Mum, ich wünschte, ich hätte dir helfen können, ich wünschte, Paps hätte dir helfen können!

Peter zog die Nase hoch und wischte sich über die Augen.

"Peter? Ist…alles in Ordnung?" fragte sein Vater prüfend.

"Ja, ja, alles klar, Dad." wiegelte Peter ab.

Er atmete tief durch. Warum erinnerte sich gerade heute an das alles? Er betrachtete seinen Vater, der mit gleichmäßigen Schritten und rhythmischem Atem neben ihm ging und den Blick über die Landschaft streifen ließ. Als er damals mit Ping Hai vor seinem Grab gestanden hatte, hatte er gedacht, all das sei für immer vorbei, dass er nun alles, was er bisher mit seinem Vater geteilt hatte, allein tun müsse. Warum hatte Ping Hai ihm erzählt, sein Vater sei tot, wenn er doch genau wusste, dass er am Leben war? Wie hatte er so etwas fertig gebracht? Peter würde es niemals wirklich verstehen und fühlte einen übermächtigen Zorn auf den alten Mann. Ohne es zu merken, ballte er seine Hände zu Fäusten.
Der Weg wurde steiler und sie traten nun in den Wald. Er bestand hauptsächlich aus hohen, dunklen Tannen, zwischen denen nur vereinzelt Laubbäume standen. Hier herrschte ein dämmriges Zwielicht, nur hoch oben zwischen den Baumwipfeln war ein Streifen blauen Himmels zu sehen. Die Luft roch würzig nach feuchtem Laub, Pilzen und Tannennadeln.

Auch in seinem Inneren war es dunkel gewesen, noch viel dunkler als in diesem Wald, als er nun auch keinen Vater mehr hatte.

Hinter einer Wegbiegung tauchte plötzlich ein verkohlter Baumstumpf ein. Er war gespalten und in der Mitte geborsten, die Krone fehlte. Bizarr ragten seine Überreste in den Himmel.

Bei diesem Anblick sah Peter unwillkürlich die verkohlten Ruinen des Tempels vor sich, sah die Polizeiautos und die Beamten davor. In eines der Autos sollte er einsteigen, es würde ihn ins Waisenhaus bringen.

Vater, warum hast du mich verlassen? Ich will nicht fort von hier!

Peter schluckte trocken, als er an die lange, einsame Zeit im Waisenhaus dachte. Alle hatten ihn verlassen, seine Mutter, sein Vater, Ping Hai …
Aber dann war Paul gekommen, wie der Sonnenstrahl, der vor ihm durch die Bäume fiel. Paul hatte ihm ein Zuhause gegeben, er hatte wieder eine Familie gehabt: Ihn, Annie, seine Stiefschwestern. Paul hatte ihn immer behandelt, als sei er sein eigener Sohn. Er war es, der ihn schließlich auch für die Polizeiarbeit begeistern konnte und ihm die Ausbildung ermöglicht hatte. Paul, ich habe dir so viel zu verdanken …

Peters Atem wurde schneller, der Weg stieg jetzt sehr steil an, und er merkte, dass sein Vater etwas zurück geblieben war. Er blieb stehen und wandte sich nach ihm um, doch Caine rief ihm zu: "Geh nur voraus, Peter, geh dein eigenes Tempo. Wir treffen uns oben!"

"Bist du sicher, dass ich nicht warten soll?" fragte Peter.

"Wir sind immer wieder unsere eigenen Wege gegangen, mein Sohn, und haben uns auch immer wieder getroffen." antwortete Caine.

Peter zuckte ergeben die Achsen. "Wie du meinst, Dad."

Er marschierte stramm drauf los, um die Gedanken an die Vergangenheit zu vertreiben. Doch seine Gedanken wanderten unweigerlich wieder zu Paul. Es hatte lange gedauert, bis er ihn Dad nannte, denn er war doch nicht sein Vater und wie hätte er je seinen leiblichen Vater verleugnen, ihn je vergessen können? Niemand hätte ihn jemals ersetzen können.

Irgendwann hatte er Paul dann doch Vater genannt, ihn aber immer eher wie einen großen Bruder betrachtet. Erlebnisse kamen ihm in den Sinn, die er mit Paul gehabt hatte oder mit seinen Schwestern. Lange ging er so und dachte an die glücklichen Zeiten mit seiner neuen Familie.

Als sich der Wald auf einmal zu lichten begann und der Boden karg und felsig wurde, blieb Peter stehen und sah sich um. Er hatte über seiner Versunkenheit gar nicht bemerkt, wie hoch oben er schon war. Sie mussten bereits zwei Stunden unterwegs sein. Also beschloss er, nun doch auf seinen Vater zu warten, damit sie gemeinsam rasten konnten. In der Nähe fand er einen Felsbrocken, von dem aus er den Weg gut im Blick hatte, ließ sich darauf nieder und holte eine Wasserflasche aus dem Rucksack. Er saß noch nicht lange dort, als Caine aus dem Wald trat. Wie ein Geist erschien er im dunstigen Dämmerlicht und Peter kam unwillkürlich ein anderes Bild in den Sinn.

Ein alter Mann tritt aus dem brennenden Haus auf die Straße. Überall ist Rauch und Hitze, genau wie damals im Tempel. Er trägt einen noch älteren, bewusstlosen Mann in seinen Armen, der ihm von den herbei gerufenen Sanitätern abgenommen wird. Peter sieht dabei die Tätowierungen an seinen Unterarmen. Und irgendetwas in seinem Gesicht ist ihm merkwürdig vertraut … Der alte Mann taumelt und fällt zu Boden und die Sanitäter heben auch ihn auf eine Trage.

Peter sah seinem Vater entgegen und spürte auf einmal einen Kloß in der Kehle. Caine trat zu ihm und ließ sich neben ihm auf den Boden nieder. Peter reichte ihm das Wasser.

"Du bist so nachdenklich, mein Sohn." stellte Caine fest, nachdem er getrunken hatte.

"Ja, ich … ich erinnere mich an dies und das. Möchtest du auch etwas essen?"

Peter wollte nicht näher darauf eingehen und reichte seinem Vater ein Sandwich. Caine betrachtete das Butterbrot eingehend, ehe er herzhaft hinein biss.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und kauten. Peter fand, es war ein seltsames und vor allem seltenes Gefühl, mit seinem Vater auf einem Berghang zu sitzen und belegte Brote zu essen. Der Ausflug schien ihm sichtlich gut zu tun, sein Gesicht hatte eine frische, beinahe rosige Farbe angenommen und seine Augen blitzten vergnügt. Ganz anders als damals im Krankenhaus, als er so blass und verschwitzt in dem Bett gelegen hatte …

Der Himmel hatte sich bezogen und in der Ferne rollte Donner. Peter schreckte aus seinen Gedanken hoch und packte rasch alles in den Rucksack.

"Wir sollten sehen, dass wir weiter kommen, das Wetter schlägt um." drängte er. "Vielleicht finden wir irgendwo einen Platz zum Unterstellen."

Caine sah prüfend den Abhang hinauf. "Dort oben gibt es einen Überhang, da können wir Schutz suchen."

Peter folgte seinem Blick, konnte jedoch nichts entdecken. "Bist du sicher?"

Caine sah ihn an und zog eine Augenbraue in die Höhe. Peter ergab sich und sie stiegen den felsigen Hang hinauf, so rasch sie es wagten.
Sein Vater hatte immer schon Dinge gesehen, die andere nicht sahen; vieles gewusst, das andere nicht wussten, und noch mehr getan, was andere nicht konnten. Er war auch immer schon seine eigenen Wege gegangen und tat und sagte vieles, das Peter auch heute noch nicht verstand. Manchmal hatte er das Gefühl, als sei sein Vater ein Fremder für ihn, und manchmal wiederum war er ihm so vertraut wie kein Zweiter. Oft, sehr oft fühlte er sich unverstanden oder zurück gewiesen, aber es gab auch Momente, in denen sie einander sehr nahe waren. Und mit der Zeit schienen diese Momente immer häufiger zu werden …

Inzwischen waren sie schon ein ziemlich gutes Team, wenn es darum ging, Unrecht zu bekämpfen und Menschen zu helfen. Und er lernte jeden Tag, den er mit seinem Vater verbrachte, etwas Neues dazu.

Ein greller Blitz und ein fast gleichzeitig ertönender Donnerschlag riss Peter aus seinen Gedanken. Das Gewitter kam schnell und heftig. Gerade, als es anfing, zu regnen, erreichten sie tatsächlich einen überhängenden Felsen und kauerten sich darunter. Wahre Sturzbäche prasselten vom Himmel und Vater und Sohn drängten sich dicht aneinander, um nicht nass zu werden. Blitz und Donner folgten einander in kurzen Abständen. Peter vermutete, dass seinem Vater der Regen wahrscheinlich nichts ausgemacht hätte, aber irgendwie genossen sie beide die so erzwungene körperliche Nähe.

Peter dachte daran, wie er seinen Vater im Krankenhaus wieder gesehen hatte. Er war dorthin gegangen, um mit dem Shaolin-Priester zu sprechen, den er aus dem brennenden Haus hatte kommen sehen. Vielleicht konnte er ihm etwas über seinen Vater sagen. Doch als er ins Zimmer trat und ihn dort im Bett liegen sah, hatte er ihn sofort erkannt. Nur seine Augen hatten sich in der langen Zeit verändert. Er konnte großen Schmerz darin lesen, der ihn an seinen eigenen Kummer erinnerte. Wilde Freude und unendliche Erleichterung mischten sich in seinem Inneren mit der großen Wut und dem Kummer langer Jahre und er hungerte nach der körperlichen Berührung seines Vaters. Wie hatte er seine Püffe oder seine warme Hand auf seiner Wange vermisst, sein Achselzucken oder die hochgezogene Augenbraue. Wie hatte ihm sein Vater gefehlt! Er wollte spüren, dass er ihn wieder hatte, damit er es auch wirklich glauben konnte. Und so hatte er schließlich aufschluchzend seinen Kopf auf die Brust des alten Mannes gelegt und dessen streichelnde Hand in seinem Haar gespürt.
Auch jetzt tat es gut, seinen Vater neben sich zu spüren und Peter drängte sich unwillkürlich noch etwas enger an ihn.

Bei dem Gedanken daran, dass sein Vater es nicht leiden konnte, wenn er ihn "Paps" nannte, und ihn sogar aus dem Krankenbett heraus deswegen am Kragen gepackt hatte, musste Peter lächeln. Irgendwann hatte Caine sich wohl oder übel in sein Schicksal gefügt, dass er für seinen erwachsenen Sohn immer "Paps" sein würde, aber zu Anfang hatte er nicht selten dagegen aufbegehrt. "Nenn mich nie wieder Paps!" Peter hatte es noch gut im Ohr.

Als der Regen endlich nachließ, krochen die beiden Männer aus ihrem Unterschlupf hervor und setzten ihren Aufstieg fort. Die Sonne kam heraus und brachte die immer noch fallenden Regentropfen zum Glitzern.
Caines feuchtes Haar schimmerte silbern und funkelnde Tropfen fielen von seiner Hutkrempe.

Mit einemmal ragte vor ihnen das Gipfelkreuz auf. Aus der Nähe wirkte es mächtig und beinahe trutzig. Peter erreichte es zuerst, lehnte sich keuchend daran und hob schließlich den Blick.

Die Aussicht, die sich ihm bot, raubte ihm beinahe den Atem: Er sah über unzählige Hügel und Täler, über Seen und Flüsse und überall leuchteten golden, orange oder rot gefärbte Bäume zu ihm herauf. Die Sonne beschien den inzwischen nur noch zarten Regen und das beeindruckende Wolkenspiel am Himmel und weit über den Tälern erstreckte sich ein in allen Farben leuchtender Regenbogen.

Peter stand stumm und staunte wie ein kleiner Junge. Sachte legte sich ein Arm um seine Schultern und Vater und Sohn standen gemeinsam auf dem Gipfel und betrachteten die wundervolle Welt zu ihren Füßen. Ein aufkommender Wind wehte ihnen sanft die Haare aus dem Gesicht und blähte Caines Jacke.

Peter legte den Kopf an die Schulter seines Vaters und dieser erwiderte die Berührung. Der Regen hatte Peters Gedanken an die Vergangenheit fort gewaschen und er dachte: Kein Naturschauspiel der Welt kann mich mehr beeindrucken als du, Vater.

 

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