Caine Caine stand mit Peter am Fuße eines gewaltigen Berges. Peter hatte ihn eingeladen, seinen Urlaub mit ihm zu verbringen und ein paar Tage in die Berge zu fahren. Caine hatte sich darüber sehr gefreut, denn er verbrachte gern Zeit mit seinem Sohn. In der Stadt half er Peter bei der Bekämpfung von Unrecht, vor allem, wenn es darum ging, Menschen zu helfen. Und wie oft hatte er schon seinem eigenen Sohn geholfen, wenn dieser in Gefahr geraten war! Amüsiert betrachtete er ihn, als er sah, wie beeindruckt er von dem Berg vor ihnen war. Peter hatte einen Großteil seines Lebens in der Stadt verbracht, und so waren Naturerscheinungen ihm fremd. Caine dagegen hatte auf seinen Wanderungen so vieles gesehen, dass ihn kaum noch etwas aus der Ruhe brachte. Er fand den Berg schön, erhaben, konnte vieles in ihm sehen oder über ihn sagen, konnte auch über ihn staunen, doch Peter war von dem Anblick völlig überwältigt wie ein kleiner Junge. Vater und Sohn sahen sich an. "Na, dann wollen wir mal." sagte Peter
und klopfte seinem Vater aufmunternd auf die Schulter. Caine nickte ihm
zu und die beiden begannen ihre Wanderung. Peter atmete tief ein. "Ein wunderbarer Tag zum Wandern, nicht wahr, Paps?" "Ja, ein herrlicher Tag, mein Sohn. Und eine beeindruckende Landschaft!" Caine breitete die Arme aus, als wolle er alles um sich herum umfassen, und legte den Kopf in den Nacken. Er schloss die Augen und atmete ebenfalls tief ein. Als er sie wieder öffnete, erschien ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht. Er legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. "Ich fühle mich geehrt, dass du deinen Urlaub mit mir verbringen willst." "Aber klar doch, Dad, dann haben wir endlich mal richtig Zeit füreinander." Unter ihren Füßen raschelte trockenes Laub, das von den Bäumen links und rechts des Weges stammte. Es waren beinahe unmerklich mehr geworden und etwas weiter vorne verdichteten sie sich zu einem Wald. Caine und Peter wanderten schweigend nebeneinander her. Peter schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein, er betrachtete die herbstlich bunt gefärbten Baumkronen über sich und ein wehmütiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. In seinen haselnussbraunen Augen glitzerte es eigentümlich. Caine fühlte, dass seinen Sohn etwas sehr beschäftigte und bewegte und er störte ihn nicht. Stattdessen betrachtete er seinerseits die Landschaft und die gelb und rot belaubten Bäume erschienen ihm mit einem Mal wie lodernde Feuer, die überall auf der Bergwiese aufflammten. Mein Sohn, denkst du an das Feuer im Tempel? Caine erinnerte sich an seinen eigenen Schmerz, als er seinen Tempel in Flammen aufgehen sah. Das Feuer hatte ihm alles genommen, den Ort, den er als eine Art Heimat betrachtet hatte, seine Freunde, seine Schüler. Viele waren umgekommen, und die, die überlebt hatten, hatten sich in alle Winde verstreut. Vor allem aber hatte das Feuer ihm seinen Sohn genommen. Dies war der größte Schmerz von allen. Viele Jahre hatte es gedauert, bis er den Schmerz annehmen konnte. Ihn loszulassen, war noch bedeutend schwieriger, selbst jetzt konnte er ihn noch manchmal fühlen. Nein, diesen Schmerz konnte selbst Caine kaum überwinden. Der Tempel steht in Flammen. Die Schüler und die Mönche schreien vor Angst und Schmerzen. Wo ist Peter? Da, durch ein Loch in der Mauer kann er ihn sehen! Er versucht, einem anderen Jungen zu helfen. Caine will ihn rufen, da sackt sein Sohn vor seinen Augen zusammen. Mauerbrocken stürzen auf die Jungen herab und begraben sie unter sich. Caines Augen weiten sich vor Entsetzen, da wird er selbst von einem großen Mauerbrocken zu Boden geworfen und hart an der Schulter getroffen. Der plötzliche Schmerz raubt ihm beinahe die Besinnung. Seinen Sohn glaubt er verloren und körperlicher wie seelischer Schmerz drohen ihn zu überwältigen. Caine atmete tief ein und aus und konzentrierte sich auf diesen natürlichen Rhythmus. Er passte seine Schritte seinem Atem an und ließ die Erinnerung los. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Peter ihm kurz den Blick zugewandt hatte. In seinen Augen standen Trauer und Schmerz, aber auch Dankbarkeit und Zuneigung. Dieser Blick traf Caine ins Herz, doch er ließ sich nichts anmerken. Sie gingen jetzt durch eine Allee dem Wald entgegen. Zwischen den Bäumen lagen immer wieder Felsbrocken, einer davon war sehr hoch und schmal und auf einer Seite abgeflacht. Ein ähnlicher Stein wie der auf Peters Grab. Es war ein großes Geschenk, dass sein Sohn hier lebendig und gesund neben ihm ging, hatte er doch schon an seinem Grab gestanden und geglaubt, ihn für immer verloren zu haben. Ping Hai hatte sie schützen wollen, indem er beide glauben ließ, der jeweils andere sei umgekommen. Caine wusste, dass sein Sohn das dem alten Mann nie verziehen hatte. Er konnte den Zorn fühlen, der seinen Sohn bei dem Gedanken an Ping Hai erfüllte und er konnte Peter verstehen. Er war ein Junge gewesen, der seinen Vater verloren hatte, wie sollte er jetzt begreifen, warum Ping Hai das getan hatte? Nun, vielleicht begriff er es sogar, mit seinem Verstand, aber seine Gefühle waren übermächtig. Es dauerte ein ganzes Leben und länger, um so starke Gefühle annehmen und loslassen zu können, das wusste Caine aus eigener Erfahrung. Auch Peter würde das eines Tages gelingen. Caine hörte, wie Peter ein Schluchzen unterdrückte und die Nase hochzog. "Peter? Ist alles in Ordnung?" "Ja, ja, alles klar, Dad." erwiderte sein Sohn abwiegelnd. Der Weg wurde steiler und sie traten nun in den Wald. Er bestand hauptsächlich aus hohen, dunklen Tannen, zwischen denen nur vereinzelt Laubbäume standen. Hier herrschte ein dämmriges Zwielicht, nur hoch oben zwischen den Baumwipfeln war ein Streifen blauen Himmels zu sehen. Die Luft roch würzig nach feuchtem Laub, Pilzen und Tannennadeln. Peter hatte seinen Schritt beschleunigt, Caine sah ihn weit ausgreifend marschieren und fühlte, dass in dessen Innerem widerstreitende Gedanken tobten. Peter kämpfte mit den Dämonen seiner Vergangenheit. Obwohl sein Sohn sich damit schon oft auseinander gesetzt hatte und auch bereits vieles verziehen hatte, blieben seine Gefühle dennoch heftig und unerbittlich. Caine betrachtete ihn von hinten, wie er sich langsam, aber stetig von ihm entfernte und behielt seinen eigenen Rhythmus bei. Fünfzehn Jahre lang hatte sein Sohn sich scheinbar immer weiter von ihm entfernt, je mehr er versucht hatte, sein Wesen zu ergründen. Später hatte er von ihm erfahren, dass er adoptiert worden war und einen anderen Mann Vater genannt hatte. Zum einen war Caine erleichtert gewesen, dass es jemanden gab, der sich um Peter gekümmert hatte. Doch es schmerzte ihn auch ein wenig, dass ein Anderer Zeit mit seinem Sohn verbracht hatte, während er ihn für tot hielt. Er hatte Peter nicht aufwachsen, nicht erwachsen werden sehen. Er war so anders gewesen, als er ihn wieder gefunden hatte. Peter blieb stehen und wandte sich nach ihm um, doch Caine rief ihm zu: "Geh nur voraus, Peter, geh dein eigenes Tempo. Wir treffen uns oben!" "Bist du sicher, dass ich nicht warten soll?" fragte Peter. "Wir sind immer wieder unsere eigenen Wege gegangen, mein Sohn, und haben uns auch immer wieder getroffen." antwortete Caine. Peter zuckte ergeben die Achseln. "Wie du meinst, Dad." Caine sah seinem Sohn nach, wie er mit raschen energischen, beinahe wütenden Schritten bergan stieg und schließlich hinter einer Wegbiegung verschwand. Ja, sie waren schon früher ihre eigenen Wege gegangen. Peter war auch Pauls Sohn, war es viele Jahre lang gewesen und war es noch. Von ihm hatte er viel gelernt, nicht zuletzt seinen Beruf, ihm hatte er viel zu verdanken. Auch Caine war Paul dankbar. So schwer es war, seinen Sohn mit einem anderen Vater zu teilen, so sehr schätzte er Paul auch. Nein, er konnte nicht behaupten, dass er eifersüchtig war, dies war nicht das Gefühl eines Kwai Chang Caine. Doch er hätte gern mit Paul getauscht, um zu sehen, was sein Sohn in diesen Jahren getan, wie er sich entwickelt hatte. Ein anderer hatte dies an seiner Stelle getan, und er hatte seine Aufgabe gut erfüllt. Peter war zu einem selbstsicheren, starken und gefühlvollen jungen Mann geworden, der nur noch lernen musste, diese Eigenschaften wohldosiert einzusetzen. Peter war furchtlos und selbstsicher, wenn es darum ging, anderen zu helfen, doch wenn es um ihn selbst ging, war er sehr verletzlich. Caine stieg den Weg in seinem eigenen, gleichmäßigen Rhythmus hinauf und erinnerte sich daran, wie er nach Sloanville gekommen war, in die große Stadt. Für ihn war sie so groß und verwirrend gewesen, wenngleich es noch weitaus größere Städte gab. Aber in dem chinesischen Viertel hatte er sich schnell heimisch gefühlt. Die Menschen dort hatten ihn um seine Hilfe gebeten und er hatte ihnen geholfen. Caine sah, dass sich der Wald zu lichten begann, Sonnenstrahlen fielen funkelnd durch das Astwerk. Noch ein Feuer, das Haus des alten Apothekers steht in Flammen! Die Erinnerung an das Tempelfeuer droht ihn zu überwältigen, doch er muss dem alten Mann helfen! Darf sich nicht von seinem Schmerz beherrschen lassen, sonst wird der Apotheker sterben! Caine geht in das Haus, weicht den Flammen aus, die überall aufzüngeln und versucht, den Rauch nicht einzuatmen. Er findet den alten Mann bewusstlos am Boden, nimmt ihn kurzerhand auf seine Arme und trägt ihn nach draußen. Zwingt sich, Gewicht und Hitze nicht wahrzunehmen. Vor dem Haus sind Polizei und Krankenwagen, Sanitäter nehmen ihm den ohnmächtigen Apotheker aus den Armen. Caine hat natürlich doch Rauch eingeatmet und ihm wird schwarz vor Augen. Er fühlt noch, wie ihn jemand hochhebt und ebenfalls auf eine Trage legt, dann wird es dunkel um ihn. Caine fühlte bei dieser Erinnerung wieder die Enge in der Brust, die ihm die Rauchvergiftung verursacht hatte. Er kam in einem weichen Krankenhausbett wieder zu sich und hatte dort viele Stunden oder Tage in einem Dämmerschlaf gelegen, er konnte sich nicht erinnern, wie lange es gewesen sein mochte, aber das war auch nicht wichtig. Viel wichtiger war, dass auf einmal ein junger Mann vor seinem Bett gestanden hatte, den er nie zuvor gesehen hatte. Caine trat auf die Waldlichtung hinaus und sah Peter auf einem Baumstumpf sitzen, den geöffneten Rucksack vor sich und Wasser trinken. Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete ihn von weitem. Dann trat er zu ihm, ließ sich bei ihm nieder und nahm dankbar die Wasserflasche entgegen. "Du bist so nachdenklich, mein Sohn." stellte Caine fest, nachdem er getrunken hatte. "Ja, ich ich erinnere mich an dies und das. Möchtest du auch etwas essen?" Peter wollte scheinbar nicht näher darauf eingehen und reichte seinem Vater ein Sandwich. Caine betrachtete das Butterbrot eingehend, ehe er herzhaft hinein biss. Es schmeckte ihm, doch für gewöhnlich zog er asiatische Kost vor. Eine Weile saßen sie still nebeneinander und kauten. Caine atmete tief die frische Bergluft ein und spürte Feuchtigkeit darin. Der Himmel hatte sich bezogen und in der Ferne rollte Donner. Peter packte alles wieder in den Rucksack ein und mahnte zum Aufbruch. "Wir sollten sehen, dass wir weiter kommen, das Wetter schlägt um." drängte er. "Vielleicht finden wir irgendwo einen Platz zum Unterstellen." Caine sah prüfend den Abhang hinauf. "Dort oben gibt es einen Überhang, da können wir Schutz suchen." Peter folgte seinem Blick, konnte jedoch nichts entdecken. "Bist du sicher?" Caine sah ihn an und zog eine Augenbraue in die Höhe. Peter tat sich schwer, zu glauben, was er nicht mit seinen Augen sehen konnte. Dabei musste man nicht alles sehen, um zu wissen, dass es existierte. Das Gewitter kam schnell und heftig. Gerade, als es anfing, zu regnen, erreichten sie tatsächlich einen überhängenden Felsen und kauerten sich darunter. Wahre Sturzbäche prasselten vom Himmel und Vater und Sohn drängten sich dicht aneinander, um nicht nass zu werden. Blitz und Donner folgten einander in kurzen Abständen. Caine machte es nichts aus, nass zu werden, aber sie hatten Zeit und es war nicht unangenehm, hier zu sitzen, den Regen zu betrachten und Peter neben sich zu spüren. Er fühlte, dass es Peter ebenso ging und erinnerte sich daran, wie er ihn zum ersten Mal als Mann gesehen hatte. Das Feuer, der Tempel, Peter, wo ist Peter? Ping Hai führt ihn zu seinem Grab. Immer wieder sieht Caine diese Szenen vor sich, als er in dem Krankenhausbett liegt. Er ist müde und der alte Schmerz ist wieder da, ausgelöst durch den Brand im Haus des Apothekers. Caine öffnet die Augen, jemand steht vor seinem Bett! Ein junger Mann, was will er von ihm? Er erzählt ihm, er habe ihn aus dem brennenden Haus kommen sehen, habe erkannt, dass er ein Shaolin-Priester sei und ihn nach seinem Vater fragen wollen. Aber das sei jetzt nicht mehr nötig. Dann sagt er: "Das einzige, was sich in fünfzehn Jahren an dir verändert hat, sind deine Augen." Caine sieht ihn ungläubig an, ist das möglich? "Peter?" Kann es wirklich sein Sohn sein, kann es sein, dass Peter lebt? Der junge Mann beginnt zu schluchzen und legt seinen Kopf auf Caines Brust. Caine hätte ihn gern umarmt, doch er ist noch schwach. Er streichelt Peter übers Haar und kann kaum fassen, dass es wahr ist. Er sieht Schmerz und Wut in Peters Augen, als dieser sich wieder aufrichtet und erzählt, dass Ping Hai ihn zu Caines Grab geführt hat, ihn glauben ließ, sein Vater sei tot. Zum Schluss nennt er ihn Paps, das kann Caine nicht ausstehen! Als er ihn dafür rügt, lacht Peter und sagt:" Ich wollte nur sicher gehen, dass ich den richtigen Vater habe!" Da muss Caine ebenfalls lächeln und der Schmerz, den er vor ein paar Minuten noch gefühlt hat, ist verschwunden. Er ist überglücklich, dass Peter lebt und er strahlt ihn an. Sein Sohn küsst ihn auf die Stirn und Caine entspannt sich und fällt in einen erholsamen Schlaf. Als der Regen endlich nachließ, krochen die
beiden Männer aus ihrem Unterschlupf hervor und setzten ihren Aufstieg
fort. Die Sonne kam heraus und brachte die immer noch fallenden Regentropfen
zum Glitzern. Mit einemmal ragte vor ihnen das Gipfelkreuz auf. Aus der Nähe wirkte es mächtig und beinahe trutzig. Peter erreichte es zuerst, lehnte sich keuchend daran und hob schließlich den Blick. Caine blieb etwas zurück und betrachtete seinen
Sohn, der über die atemberaubende Aussicht staunte, wie ein Kind.
Er sah über unzählige Hügel und Täler, über Seen
und Flüsse und überall leuchteten golden, orange oder rot gefärbte
Bäume zu ihm herauf. Die Sonne beschien den inzwischen nur noch zarten
Regen und das beeindruckende Wolkenspiel am Himmel und weit über
den Tälern erstreckte sich ein in allen Farben leuchtender Regenbogen.
Caine blieb noch einen Moment stehen und betrachtete die Silhouette seines Sohnes vor diesem fantastischen Hintergrund, dann trat er zu Peter und legte ihm einen Arm um die Schultern. Vater und Sohn standen gemeinsam auf dem Gipfel und betrachteten die wundervolle Welt zu ihren Füßen. Ein aufkommender Wind wehte ihnen sanft die Haare aus dem Gesicht und blähte Caines Jacke. Kein Naturschauspiel der Welt kann mir größeres Glück bereiten, als du, mein Sohn.
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