Teil 2
Autor: TempleGirl

 

Paul… Wo mochte er jetzt sein? Er war schon so lange fort! Er war für Peter im Laufe der Jahre mehr, viel mehr als ein Freund geworden und er vermisste ihn fast so sehr wie damals seinen leiblichen Vater.

"Woran denken Sie, Peter? Sie waren eben wie weggetreten!", erkundigte sich Susan leicht besorgt.

"Was?" Peter schüttelte mühsam die Erinnerung ab. "Ach so, ich habe mich nur an früher erinnert. Meine Pflegemutter ist auch blind.", wechselte er mit einem Blick auf Sammy scheinbar das Thema. "Aber manchmal vergesse ich das fast, weil sie so gut zurecht kommt. Bei Sammy habe ich es auch erst nicht gemerkt.", gab er zu.

"Sammy ist blind zur Welt gekommen, sie kennt es nicht anders.", erklärte Susan.

Peter hatte gar nicht bemerkt, dass die Kinder aus dem Zimmer gegangen waren, Nun kamen sie mit ihren Gitarren zurück. Johnny baute einen Notenständer vor sich auf, dann setzten sich beide. Konzentriert spielten sie verschiedene Weihnachtslieder, zum Teil zweistimmig, zum Teil mit Gesang. Sammy, die rein nach Gehör spielte, fand die richtigen Griffe oft sicherer als ihr Bruder, der zwischen Noten und Griffbrett hin- und her sah. Peter war fasziniert, Hausmusik war ihm fremd. Wieder fühlte er sich an das Flötenspiel seines Vaters erinnert, die einzige Art "hausgemachter" Musik, die er kannte.

Als die Kinder geendet hatten, klatschten Peter und Susan Beifall. Die beiden Musikanten verräumten ihre Instrumente und setzten sich dann mit auf die Couch. Susan brachte auf einem Tablett einen Teller mit Plätzchen und vier Tassen mit dampfendem Tee.

"Schade, dass Daddy nicht da ist." seufzte Sammy.

"Ja, das ist echt doof!" pflichtete ihr Bruder ihr bei.

"Haben denn nicht Angestellte mit Kindern ein Vorrecht darauf, über die Feiertage frei zu bekommen?", erkundigte sich Peter.

"Philipp hätte eigentlich frei gehabt." bestätigte Susan. "Aber er hat mit seinem Kollegen getauscht."

Nun verstand Peter gar nichts mehr.

"Michaels Frau ist sehr krank und kurz vor Weihnachten ging es ihr plötzlich schlechter. Es wird ihr letztes Weihnachten sein und Philipp wollte nicht, dass Michael dann nicht bei Melissa sein kann…" Susan sah mit einemmal sehr traurig aus.

"Ihr Mann ist ein wahrer Freund." Peter war sichtlich betroffen.

"Ja, Philipp hat ein großes Herz. Er meinte: 'Ich habe noch viele Weihnachten mit meiner Familie, aber Michael und Melissa haben nur noch dieses eine Mal.'"

Susan senkte den Kopf, um die Träne zu verbergen, die sich aus ihrem Augenwinkel stahl. "Melissa hat nicht verdient, so jung zu sterben. Aber man kann sich sein Schicksal leider nicht aussuchen."

*Wie wahr*, dachte Peter bei sich.

Er sah die beiden Kinder ernst an. "Ich kann gut verstehen, dass ihr euren Vater vermisst. Er wäre heute viel lieber bei euch, als stundenlang im Flugzeug zu sitzen, da bin ich ganz sicher. Aber er hätte dann immer daran denken müssen, dass sein Freund nicht bei seiner kranken Frau sein kann. Und so hätte er auch keine Freude an Weihnachten gehabt. Versteht ihr?"

Sammy nickte langsam. "Ich glaub schon. Zu Weihnachten bekommen doch alle Geschenke. Und Daddy hat Michael Weihnachten geschenkt!"

"Das hast du schön gesagt!", meinte Peter mit einem Lächeln.

"Aber erzählen Sie doch jetzt ein wenig von sich, Peter.", bat Susan, der das Thema ein wenig unangenehm war.

So erzählte Peter von seiner Arbeit als Polizist, was besonders Johnny brennend interessierte und von seinem Vater und dessen Wirken in Chinatown.

***

Der Abend verging wie im Fluge und die Nacht verbrachte Peter auf der Couch.
Am nächsten Morgen hatte sich der Sturm gelegt. Johnny und Sammy hatten bereits ihre Geschenke ausgepackt und tobten nun begeistert draußen im Schnee herum.

"So schnell haben sich die zwei noch nie angezogen!" meinte Susan lächelnd. "Kommen Sie, ich bringe Sie jetzt zu Ihrem Wagen."

Peter zog seinen Mantel an und als sie gerade in den Landrover einsteigen wollten, fuhr ein Taxi vor. Ein hoch gewachsener Mann in Uniform stieg aus und Johnny lief ihm jauchzend entgegen.

"Daddy, Daddy!"

Sammy folgte ihrem Bruder mit kurzer Verzögerung und beide Kinder flogen ihrem Vater förmlich um den Hals.

"Fröhliche Weihnachten!" rief dieser und wirbelte seine Kinder durch die Luft.

Susan wartete, bis der Ansturm vorüber war, dann begrüßte sie ihren Mann mit einem Kuss und erkundigte sich strahlend: "Wie hast du das denn geschafft, du fliegender Weihnachtsmann?"

"Och, der liebe Gott hat mir dabei geholfen. Durch die starken Schneefälle konnte das Flugzeug nicht starten und ich habe Zwangsurlaub bekommen!", antwortete Philipp.

Susan stellte ihm Peter vor, dann sah sie lächelnd zu, wie sich ihr uniformierter Gatte mit seinen Kindern eine Schneeballschlacht lieferte.

Für Peter wurde es Zeit, Abschied zu nehmen. Er bedankte sich für alles und winkte den Kindern noch einmal zu, ehe er zu Susan ins Auto stieg. Mit dem Landrover hatten sie Peters Wagen im Nu befreit und er konnte endlich nach Hause fahren, wo seine eigene Familie sicher schon auf ihn wartete.

Auf dem Heimweg ging ihm die Weihnachtsfeier vom vergangenen Jahr durch den Kopf. Er hatte in seiner Wohnung eine Party gegeben und alle seine Freunde und Kollegen waren gekommen. Selbst sein Vater war dabei gewesen. Peter hatte auch viele Weihnachten bei den Blaisdells gefeiert, bis Paul sie verlassen hatte. Aber noch nie hatte er Weihnachten mit seinen beiden Vätern gefeiert…

Er seufzte. Dieser Wunsch würde wohl noch lange unerfüllt bleiben. Aber bestimmt hatte auch Paul seine Gründe, so lange fort zu bleiben. Nicht zuletzt, um seine Familie nicht in Gefahr zu bringen.

Knapp zwei Stunden später klingelte Peter an Annies Tür. "Fröhliche Weihnachten, Mom!", begrüßte er sie und umarmte sie kurz. Von drinnen scholl ihm munteres Reden und Lachen entgegen.

"Carolyn! Schön, dass ihr es doch noch geschafft habt! Kelly, du siehst bezaubernd aus!" Er umarmte auch seine Schwestern kurz und schüttelte seinem Schwager die Hand.

Im Wohnzimmer saß sein Vater am Kopfende des langen Tisches, still und entspannt und mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Als er Peter entdeckte, stand er auf und trat auf ihn zu.

"Fröhliche Weihnachten, mein Sohn!"

Peter ergriff seine Hände. "Schön, dass du da bist, Paps. Fröhliche Weihnachten!"

Caine sah ihn forschend an. "Irgendetwas bedrückt dich, Peter.", stellte er fest.

Peters Blick ruhte auf Pauls leerem Stuhl. "Ich wünschte nur, Paul könnte heute auch bei uns sein. Er fehlt mir."

Caine nickte verständnisvoll. "Wer weiß, an Weihnachten geschehen oft wundersame Dinge.", meinte er geheimnisvoll und zwinkerte seinem Sohn zu.

Später beim Essen gab Peter zur allgemeinen Erheiterung sein kleines Abenteuer zum Besten. Als der Truthahn schon sichtlich geschrumpft war und Peter gerade das kleine Haus in der verschneiten Einsamkeit beschrieb, klingelte es an der Tür.

Er hielt mitten im Satz inne. "Nanu, erwartest du noch jemanden, Mom?" fragte er überrascht.

Annie schüttelte den Kopf. "Wer kann das sein?"

"Bleib sitzen, Mom, ich seh mal nach."

Peter stand auf und ging zur Haustür. Als er die Hand auf die Türklinke legte, hatte er ein seltsames Kribbeln im Bauch. Er öffnete langsam die Tür und hatte dann plötzlich einen Kloß im Hals.

"Paul!"

Sein Pflegevater stand dort mit rot gefrorener Nase und Schnee auf den Schultern wie der leibhaftige Weihnachtsmann und lächelte verschmitzt.

"Ich dachte mir, ihr freut euch, wenn ich über die Feiertage mal reinschaue.", meinte er.

Selbst wenn er wirklich der Weihnachtsmann gewesen wäre, hätte Peter nicht glücklicher sein können. "Paul!" flüsterte er noch einmal und seine Augen schimmerten verdächtig. Dann fiel er ihm um den Hals. Paul drückte seinen Pflegesohn fest an sich und konnte eine Träne nicht zurück halten.

"Wer ist es denn?"

Annie kam langsam über den Flur und blieb dann wie angewurzelt stehen. Sie brauchte ihren Mann nicht zu sehen, um ihn sofort zu erkennen. Ihr genügte sein Geruch, das Geräusch seines Atems und der Klang seines Schrittes.

Paul trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Wange. "Annie, meine Annie.", flüsterte er, zog sie an sich und küsste sie. Annie schmiegte sich an ihn und eine Träne lief über ihre Wange.

Peter bemerkte auf einmal, dass sein Vater im Halbdunkel in der Wohnzimmertür stand. Er lächelte und zwinkerte Peter ein zweites Mal zu, als wolle er ihm mitteilen: >Habe ich es dir nicht gesagt?<

Peter erwiderte sein Lächeln und dachte bei sich: *Nun kann ich doch endlich mit meinen beiden Vätern Weihnachten feiern!*

Ende

 

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