A/N des Autors: Mai-Lin Wong
und ihre Familie habe ich frei erfunden, aber Jamie und Kendra sind von
Lost-Sheep ausgeborgt, aus der "Friendship Series" bzw. der
"Romance Series".
Erschöpft von einem langen und anstrengenden Tag steckte Peter Caine den Schlüssel ins Schloss und dreh¬te ihn herum. Doch statt die Türe zu öffnen verharrte er auf einmal mitten in der Bewegung. Er verspürte den dringenden Wunsch wieder umzudrehen. Zu flüchten vor der Stille, die ihn in der leeren Wohnung er¬war¬tete. Schon seit Tagen überfiel ihn immer wieder ein lähmendes Gefühl der Einsamkeit, urplötzlich, fast anfallartig. So schlimm in diesem Moment war es aber noch nie gewesen. Noch vor ein paar Augenblicken hatte er sich auf ein heißes Bad und ein gutes Essen gefreut, jetzt aber stand er wie erstarrt da. *Reiß dich zusammen, Peter! Du hast offensichtlich ein Problem, aber das wirst du nicht lösen, indem du hier im Treppenhaus herumstehst oder gar wegläufst. Öffne diese verdammte Tür und geh in die Wohnung! Danach kannst du entscheiden, was du als nächstes tun willst – aber GEH JETZT IN DIE WOHNUNG!* Der junge Shaolin brauchte seine ganze Willenskraft, um die Tür zu öffnen und die Wohnung zu betreten. Schwer atmend ließ er die Tür zufallen und lehnte sich an die Wand. Geschafft! Er war ungeheuer erleich¬tert. Gleichzeitig fühlte er sich zu Tode er¬schöpft, so als hätte er gerade einen Marathonlauf hinter sich. Er at¬me¬te ein paar Mal tief durch, allmählich fühlte er sich ein wenig besser. *Was zum Kuckuck war das gerade? Was ist nur mit mir los? Wieso komme ich mir gerade jetzt so verlassen vor? Ich habe doch früher schon jahrelang alleine gelebt, warum also gerade jetzt diese Anfälle? Ist das etwa Über¬arbeitung? Nun ja, ich habe gerade viel um die Ohren, und die lange Krankheit und der Tod von Mr. Cheng waren ziemlich schwer zu verkraften. Aber ich kann nicht glauben dass das die Ursache sein soll. Ich bin psychische Belastung und anstrengende Arbeit doch gewohnt – allein die ständigen Sondereinsätze und die vielen Nacht¬schichten bei der Mordkommission, lange bevor ich Paps' Apotheke übernommen habe! Was kann das nur sein?* Peter beschloss, zunächst seinem Körper etwas Erholung zu gönnen, bevor er sich mit dem Anfall aus¬einan¬der¬setzte, den er gerade erlitten hatte. Also ging er duschen und machte sich anschließend eine Klei¬nig¬keit zum Essen. Obwohl er keinen Appetit hatte, zwang er sich dennoch dazu, ein paar Bissen zu sich zu neh-men. Dann ging er in den Meditationsraum, entzündete die Kerzen und ließ sich auf dem Boden nieder. Er schob alle störenden Gedanken beiseite und konzentrierte sich ausschließlich auf seine Gefühle. Wann hat¬te er zuletzt ähnlich lähmende Einsamkeit und Unsicherheit verspürt? Wie von selbst erschienen vor sei¬nem inneren Auge Bilder aus der Zeit unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst. Damals hat¬te sich sein Leben entscheidend verändert, und vieles war gleichzeitig auf ihn eingestürzt – die Annahme der Brandmale, der Abschied vom 101. Revier, die Abreise seines Vaters, die Übernahme von dessen Apo¬the¬ke und, damit verbunden, Peters Umzug in das Backsteingebäude, das Kwai Chang Caine vorher be¬wohnt hatte. In dieser Zeit hatte er sich oft genug total isoliert gefühlt, von seinem bisherigen Leben abgeschnitten aber noch nicht wirklich angekommen in seinem neuen. Hatte mehr als einmal gefürchtet, er werde den an ihn ge¬stell¬ten Anforderungen nicht gerecht. Gerade die Arbeit in der Apotheke hätte er ohne Lo Sis tatkräftige Un¬ter-stützung wohl bald aufgegeben; er verstand einfach nicht genug von Heilkunde. Was wenn ihm ein Feh¬ler un¬ter¬lief und er jemand Schaden zufügte? Aber in dem Maß in dem er sich an seine neue Lebens¬weise ge¬wöhn¬te und in seine Aufgaben hineinwuchs, wurden die Selbstzweifel und die Unsicherheit weniger. Ganz wür¬de er sie wohl nie loswerden, dazu waren sie zu fest in ihm verwurzelt, aber sie waren wieder auf das nor¬male Maß zurückgegangen, so dass er meist recht gut mit ihnen umgehen konnte. Doch das lag jetzt fast drei Monate zurück. Seitdem hatte er Riesenfortschritte als Apotheker gemacht, hatte das Vertrauen der Leute in Chinatown errungen – warum fühlte er sich urplötzlich wieder genauso unsicher und einsam wie damals? Was war in den letzten Tagen passiert? Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: sein Vater hatte sich gemeldet! Nachdem Peter in den ersten Wochen nach Kwai Chang Caines Abreise mehrmals verzweifelt versucht hat¬te, eine gedankliche Verbindung zu seinem Vater herzustellen, dies jedoch jedesmal abgeblockt wurde, hatte er schließlich resigniert aufgegeben. Er klammerte sich an den Gedanken, dass sein Vater ihn immer noch lieb¬te und dass diese ständigen Zurückweisungen nichts mit der Person Peter Caine, sondern nur mit den mo¬men¬ta¬nen Lebensumständen seines Vaters zu tun hatten. Dennoch schmerzte es sehr, keinerlei Kontakt zu ihm zu haben. Doch vor etwa einer Woche hatte Caine sich aus heiterem Himmel bei Peter gemeldet und ihm mitgeteilt, dass er endlich die Frau auf Lo Sis Foto gefunden hatte. Sie war nicht Peters Mutter. Um das zu verkraften und wieder mit sich ins Reine zu kommen, musste Caine sich, wie schon so oft in seinem Leben, auf Wan-der¬schaft begeben. Aber dann würde er wieder nach Sloanville zurückkommen. Dass Peter jetzt plötzlich wieder Kontakt zu seinem Vater gehabt hatte, wenn auch nur ein einziges Mal, ließ ihn dessen Abwesenheit nur umso schlimmer spüren. Gleichzeitig machte er sich Gedanken darüber, wie es nach Caines Rückkehr – wann immer diese auch sein würde - weitergehen sollte. Wie lange würde sein Vater diesmal bleiben? Einige Monate, ein Jahr? Kam er vielleicht sogar für immer? Könn¬ten sie beide im selben Haus wohnen und sich die Arbeit in der Apotheke teilen? Bei dieser Aussicht hätte Peters Herz eigentlich höher schlagen müssen, aber seltsamerweise hatte die Vor¬stel¬lung, sie beide würden gemeinsam für die Leute in Chinatown da sein, einen Misston. Irgendetwas stimm¬te nicht an diesem Bild. Was war es nur? Er versuchte das Bild von allen Seiten her zu beleuchten, betrachtete es vor seinem inneren Auge immer und immer wieder. Und plötzlich sah er es: in seiner Vorstellung war er nicht mehr der Shaolin Peter Caine, son¬dern ausschließlich der "Sohn des Kwai Chang Caine", Assistent und Schüler seines Vaters, der bis in alle Ewigkeit zu ihm aufblicken würde, aber niemals dessen Niveau erreichen könnte. Warum störte ihn dieser Gedanke so sehr? War er etwa eifersüchtig, neidisch? Warum sollte es ein Problem für ihn sein, von seinem Vater zu lernen? Ein kleines, boshaftes Stimmchen flüsterte ihm zu: *Weil du als Apotheker noch immer unerfahren bist. Weil du dich manchmal nach dem Trubel und der eingeschworenen Gemeinschaft auf dem 101. Revier zu¬rück¬sehnst und du weißt, dass er dir das mit einem einzigen Blick ansehen wird. Weil du Angst davor hast, ihn wie¬der einmal zu enttäuschen. Als Kind im Tempel hast du von deinen Lehrern oft genug gehört, dass all dei¬ne Bemühungen nicht gut genug sind für den Sohn des Kwai Chang Caine. Glaubst du denn, das wird jetzt an¬ders sein nur weil du auf einmal ein Shaolin bist? Du bist doch ein blutiger Anfänger, dein Vater ist dir auf die¬sem Weg Jahrzehnte voraus, du wirst nie im Leben....* "Nein! Aufhören!!!" Unbewusst hatte Peter diese Worte laut ausgerufen. Das beförderte ihn abrupt aus seiner Me¬ditation zurück in die Gegenwart, und verwundert bemerkte er, dass er schwei߬gebadet war und zitterte wie Espenlaub. Er war vollkommen erledigt. Dennoch verspürte er auch ein gewisses Hochgefühl – er hatte endlich entdeckt, was unbewusst während der letzten Tage an ihm genagt hatte! Das war ein erster Schritt zur Lösung seines Problems. Der Rest würde sich auch finden. Spätestens wenn Kwai Chang Caine wieder zurück war. Peter beschloss, es für diesen Abend gut sein zu lassen. Über seine neu gewonnenen Erkenntnisse konnte er auch morgen noch nachdenken, jetzt war er ohnehin viel zu erschöpft dazu. Er ging zu Bett und fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
"Caine." "Hallo Peter, hier ist Danielle. Hast du heute vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich? Ich möchte dich gerne etwas fragen, aber das geht am Telefon nicht so gut." "Ja, natürlich, komm doch einfach nach der Arbeit vorbei. Ich habe heute nicht so viele Patienten, da bin ich bestimmt spätestens um fünf Uhr fertig. Du klingst aufgeregt, ist etwas passiert? Ist mir dir und Heather alles in Ordnung?" "Ja, ja, alles ok, uns geht's gut. Bis fünf Uhr dann, und vielen Dank." * An diesem Tag konnte Peter seine Arbeit viel früher beenden als gedacht. Spontan beschloss er, einen klei¬nen Spaziergang durch den nahegelegenen Park zu machen. Der strahlende Sonnenschein zog ihn regel¬recht nach draußen. *Danielle kommt erst in einer Stunde, bis dahin bin ich längst wieder da.* Sicherheitshalber hängte er den¬noch einen Zettel mit einer Nachricht an die Haustür. Gut gelaunt summte er vor sich hin, während er durch den Park schlenderte und dabei die ersten warmen Son¬nenstrahlen genoss. Endlich ging der ungewöhnlich lange Winter zu Ende, allmählich wurde es Frühling. Nicht nur in der Natur, auch er selbst verspürte so etwas wie Frühlingsgefühle in sich, eine Art neues Er¬wa¬chen wie nach einer Winterstarre. Seit seiner aufschlussreichen Meditation fühlte er sich wie von einer schwe¬ren Last befreit. *Schon seltsam – allein den Grund für meinen Anfall herauszufinden hat bewirkt, dass ich mich wieder bes¬ser fühle. Obwohl ich der Lösung des dahinter liegenden Problems nicht näher gekommen bin. Aber wie heißt es doch so schön 'auch eine Reise von vielen tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt'. Den ha¬be ich neulich Abend getan, jetzt muss ich abwarten bis Paps wiederkommt. Erst dann stellt sich heraus, wie wir in Zukunft zueinander stehen werden, ob er wieder die Apotheke übernimmt und ich dann dort mitarbeite oder mich auf andere Dinge konzentriere, ob er überhaupt wieder in seine Wohnung einzieht und wo ich in die-sem Fall hingehe. Vielleicht könnte ich mir ja das Stockwerk darunter umbauen, wer weiß?* Während er diese Überlegungen anstellte, war er langsam wieder zu seiner Wohnung zurückgegangen. Er woll¬te sich auf keinen Fall verspäten und rechtzeitig wieder zu Hause sein, bevor Danielle kam. Was sie wohl mit ihm besprechen wollte? Es musste schon sehr wichtig und dringend sein, wenn sie ihn extra tags¬über, von der Ar¬beit aus, anrief. Denn sie würden sich am nächsten Tag ohnehin in Danielles klei¬nem Kung¬Fu-Studio sehen, in dem Peter regelmäßig unterrichtete. Solange er bei der Polizei war, hatte er nur gelegentlich vorbei¬schauen können, denn seine vielen Sonder¬ein¬sätze erlaubten keine festen Termine. Dennoch hatte er so oft wie möglich ausgeholfen. Zum einen weil er entdeckte, wieviel Spaß ihm das Unterrichten bereitete, zum anderen weil Danielle kein Geld für teure Trai¬ner hatte und jede Unterstützung gut gebrauchen konnte. Später, als er seine ersten Gehversuche als Apo¬theker machte, waren daraus feste wöchentliche Trainingseinheiten und sogar ein eigener Kurs ge¬wor¬den. Sie waren Fixpunkte für ihn in einer ansonsten völlig veränderten Welt, gaben ihm Sicherheit und Halt. Zurück am Backsteingebäude, riss er den Zettel ab und öffnete gerade die Haustür, als er aus dem Augen¬winkel Danielles Auto um die Ecke biegen sah. Er wartete auf sie, und sie gingen gemeinsam nach oben. "Komm doch mit in die Küche, da ist es am gemütlichsten. Ein richtiges Wohnzimmer habe ich nicht, ich habe mich nicht getraut die Wohnung so sehr zu verändern. Mach dir's bequem. Möchtest Du etwas trinken? Einen Tee vielleicht, oder lieber Kaffee?" "Tee wäre sehr gut, danke." Danielle sah ihm beim Teekochen zu und bemerkte lächelnd: "Ich brauche dich gar nicht zu fragen, ob es dir wieder besser geht. In letzter Zeit warst du sehr bedrückt, aber heute wirkst du voll¬kommen ausgeglichen. Du strahlst geradezu von innen heraus." "Au weia, hat man mir das so stark angesehen? Ja, du hast Recht, ich war ein ziemlich deprimiert, doch in¬zwi¬schen geht's mir wieder gut. Aber jetzt verrate mir doch bitte, weshalb du mich sprechen wolltest. Ich bin schon sehr gespannt." Danielles Augen fingen an zu leuchten. "Mein Chef hat mir heute gesagt, dass ich übernächsten Monat nach New York fahren darf, zu einem Seminar über Scheidungsrecht, das ich schon lange besuchen wollte. Aller¬dings hat das bisher nie geklappt. Doch diesmal könnte es gehen. Die Veranstalter bieten nämlich ein Wo-chen¬endseminar an, insgesamt einen ganzen Monat lang. Damit brauche ich weder eine ständige Vertretung im Büro noch eine Betreuung für Heather, sie kann die Wochenenden bei meinem Großvater verbringen. Aber leider hat die Sache einen Haken." Sie machte eine Pause und blickte nachdenklich in ihre Teetasse. Peter wartete geduldig, bis Danielle wei¬ter¬sprach. "Die Veranstaltung beginnt nicht am Samstag, sondern bereits am Freitag Nachmittag. Und das stellt mich vor ein Problem. Was mache ich mit meinem KungFu-Kurs? Ich kann es mir nicht leisten, gleich vier Freitage hintereinander ausfallen zu lassen. Könntest Du vielleicht in dieser Zeit für mich einspringen? We¬nigstens ein- oder zweimal? Ginge das?" Fragend blickte sie Peter an. Der lächelte breit, froh über die Gelegenheit, Danielle einen Gefallen erweisen zu können. "Aber natürlich geht das. Ich übernehme deine Stunden, ist doch klar. Ich freue mich für dich, dass du an dem Seminar teilnehmen kannst. Das soll doch an ein paar Trainingseinheiten nicht scheitern! Fahr nur ruhig nach New York, ich kümmere mich um das Studio." "Bist du sicher? Du hast immer so viel zu tun, und du hast ja auch schon den Montagskurs übernommen. Da jetzt komme ich auch noch mit meinen Problemen daher und ..." "...jetzt mach aber mal 'nen Punkt!", fiel ihr Peter ins Wort. "Wer hat denn von Haus aus einen sehr engen Zeit¬plan, mit Beruf, Familie und KungFu-Studio, und nimmt sich dennoch immer Zeit für mich? Wie oft hast du dir meine Sorgen angehört in den letzten Monaten, hast mir Mut gemacht wenn ich glaubte ich schaffe das alles nicht mehr? Mach dir keine Gedanken, ich bin mehr als froh, wenn ich mich wenigstens ein biss¬chen erkenntlich zeigen kann für deine Hilfe." Danielle fiel ihm um den Hals. "Ach, Peter, wie wunderbar. Vielen, vielen Dank! Dann kann ich meinem Chef gleich morgen früh Bescheid geben, dass es sicher klappt." * Als Danielle aus der Tür trat, bemerkte sie den Ehrwürdigen Lo Si, der gerade die Treppe heraufgekommen war und auf die Woh¬nung zuging. Sie nickte grüßend in seine Richtung und sagte leise, ein wenig verlegen: "Hallo, Vater. Wie geht es dir?" Lo Si strahlte über das ganze Gesicht und deutete eine kleine Verbeugung an: "Ich freue mich sehr, dich zu sehen, Danielle." Diese gab sein Lächeln schüchtern zurück, drehte sich noch einmal zu Peter um – "Wir sehen uns dann morgen Abend" – und ging mit einem neuerlichen Nicken an Lo Si vorbei die Treppe hinunter. Peter war dieses Zusammentreffen ein wenig peinlich denn er war mit beiden befreundet und wollte weder Lo Si noch seine Tochter in Verlegenheit bringen. Aber genau das war gerade eben passiert, zumindest Da¬ni¬elle hatte sich nicht besonders wohl gefühlt. Peter wusste, dass sie sich immer noch nicht so recht an den Ge-danken gewöhnt hatte, dass der Ehr¬würdige, den sie fast ihr ganzes Leben lang kannte, auf einmal ihr Vater sein sollte. Die beiden gingen zwar vorsichtig aufeinander zu, aber Danielle brauchte noch Zeit, sie war oft noch ein wenig be¬fan-gen in Lo Sis Gegenwart, vor allem wenn sie ihn unvorbereitet traf. Peter tat es leid, dass dies gerade vor seiner Wohnung passiert war. Noch vor wenigen Monaten hätte er deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt und versucht, es wortreich zu überspielen. Doch seit er die Brandmale angenommen hatte, schaffte er es immer besser, seine eigene Ver¬legenheit zu akzeptieren. Weil er nicht dann mehr mit sich selbst beschäftigt war, konnte er recht gut die Ge¬fühle anderer Leute wahr¬nehmen und ihnen helfen, mit der Situation klarzukommen. Also begrüßte er Lo Si als wäre nichts geschehen, bat ihn herein und setzte Teewasser auf. Als beide eine Scha¬le des heißen Getränks vor sich stehen hatten, kam Lo Si auf den Grund seines unange¬mel¬de¬ten Be¬suchs zu sprechen. "Peter, ich brauche deine Hilfe. Es geht um Li-Yu Cheng." "Ist etwas passiert? Geht es ihr schlechter? Hat die neue Teemischung nicht geholfen?" "Ja und Nein. Ihr geht es gut, aber bei ihrer Enkelin Mai-Lin in San Francisco ist etwas passiert. Wie du weißt, wollte ihr Mann John morgen kommen und Mrs. Cheng abholen, damit sie in Zukunft bei Mai-Lin und ihrer Familie leben kann und nicht ins Altersheim muss." Peter nickte. Lo Si und er hatten bei der Haushaltsauflösung kräftig mitgeholfen und organisierten auch eine Ab¬schiedsfeier. Peter bewunderte die gebrechliche alte Dame für ihre Tapferkeit. Sie hatte ihr ganzes Leben hier in Chinatown verbracht, wagte jetzt aber trotzdem mit über 70 Jahren einen Neuanfang am anderen En¬de des Landes. Aller¬dings nicht ganz freiwillig, denn sie war nicht mehr gut zu Fuß und konnte sich des¬halb nicht mehr allein versorgen. Bis vor einigen Monaten hatte ihr Mann Chiang vieles übernommen, aber dann war er schwer erkrankt. Vor kurzem war er, nach langem Leiden, gestorben; jetzt hatte sie nur noch ihre Enke¬lin Mai-Lin und ihren Neffen Li, der aber noch weiter weg, in Europa, lebte. "Mai-Lin hat gerade angerufen. John hatte heute einen Autounfall. Er ist nur leicht verletzt, aber er wird ein paar Tage im Krankenhaus bleiben müssen und sich danach auch noch schonen, so dass er frühestens in zwei, drei Wochen hierher kommen könnte. Doch Li-Yu kann den Umzug keinesfalls so lange ver¬schieben und war deshalb ziemlich ratlos. Aber ich hatte eine Idee: Du weißt, dass sie sich ohnehin vor dem Flug und vor der neuen Umgebung ein we¬nig fürchtet. Wenn also Mai-Lins Mann ausfällt, braucht sie dringend einen anderen Begleiter. Einen, den sie kennt, der sie versteht und sie unterstützen kann. Und vielleicht auch ein paar Tage dort bleiben kann, um ihr die Eingewöhnung zu erleichtern." Peter glaubte zu verstehen, worauf Lo Si abzielte. "Willst du damit andeuten, dass du mit Mrs. Cheng nach San Francisco reist? - Uff, ich hoffe ich komme mit der Apotheke solange alleine klar, bis du wiederkommst." Doch Lo Si schüttelte den Kopf. "Nein, Peter. Ich wollte dich fragen, ob du mit ihr mitfliegst." "Ich?" Peter war verblüfft. "Wieso ich? Wie kommst du denn auf diese Idee? Du bist doch schon seit Jahren eng mit ihr befreundet, während ich sie erst vor ein paar Monaten richtig kennengelernt habe." "Weil Li-Yu dich als Begleiter haben möchte, Peter, nicht mich. Sie hat dich ins Herz geschlossen, seit sie mit¬erlebt hat, wie aufopfernd du dich um ihren Mann gekümmert hast, obwohl du selbst nach der Abreise dei¬nes Vaters in einer ganz schwierigen Lage warst. Sie weiß, dass du dich ebenso gut um sie kümmern wirst. Und außerdem", der Ehrwürdige lächelte verschmitzt, "tut dir et¬was Abwechslung bestimmt gut. Wenn man zu nahe an einer Sache dran ist, kann man sie nicht mehr rich¬tig sehen und muss ein wenig Abstand gewinnen." Aha, daher wehte der Wind! Peter musste innerlich grinsen. *Hat der alte Fuchs also mitbekommen was mit mir los war – na ja, alles andere hätte mich auch gewundert, es ist fast unmöglich ihm etwas zu ver¬heim¬lichen. So ein Schlawiner! Sagt kein Wort, aber nutzt die erste Gelegenheit mich wieder in die Spur zu brin¬gen. Wie damals, gerade mal eine Woche nach Paps' Weggang, als er mich erst aus meinem Selbstmitleid heraus¬geholt und dann auch noch zum Pokerabend mit den alten Kumpels vom 101. geschleppt hat.* Nach außen hin blieb er jedoch ernst und fragte nur: "Wirst du dich um die Apotheke kümmern, solange ich weg bin?" "Es wird mir eine Ehre sein", erwiderte Lo Si. "Aber jetzt sollten wir schleunigst Johns Flug auf dich um¬buchen. Meine Bekannte im Reisebüro hat in etwa einer halben Stunde Dienstschluss. Komm mit."
Drei Tage später stand Peter in der langen Schlange am Check-In Schalter, während Li-Yu Cheng und der Ehr¬würdige gleich daneben auf einer Bank saßen und sich leise auf Chinesisch unterhielten. Die alte Dame wirk¬te zwar aufgrund ihrer jahrzehntelang eingeübten asiatischen Selbstbeherrschung für einen ober¬fläch¬li-chen Beobachter ruhig und gleichmütig, doch Lo Si spürte dass sie ungeheuer aufgeregt war. Ihre Angst war fast mit Händen zu greifen – nicht nur vor dem unbekannten, neuen Leben in San Francisco, sondern auch vor dem ersten Flug ihres Lebens. Beruhigend hielt er ihre Hand. Das schien ein Grüppchen von vier jungen Männern dicht hinter Peter sehr zu amüsieren. Ungeniert mach¬ten sie sich über das 'komische Liebespaar da drüben' lustig. "Was meinst du, Randy, ob die wohl in die Flit¬ter¬wochen unterwegs sind? So verliebt wie die beiden Händchen halten!", meinte einer. Der Angesprochene, anscheinend so etwas wie der Anführer, lachte hämisch. "Ach was, die sind doch so alt und vertrocknet, was sollten die denn in der Hochzeitsnacht machen? Die würden doch vor lauter Über¬an¬stren¬gung gleich den Löffel abgeben." Alle lachten, und der erste erwiderte: "Heute in die Flitterwochen und morgen schon in die Kiste – das wäre doch ein schöner Tod!" So ähnlich ging es weiter. Ausnahmsweise war Peter dankbar dafür, dass Mrs. Cheng nur sehr schlecht Eng¬lisch sprach, so verstand sie die Ungezogenheiten wenigstens nicht (falls sie sie trotz ihrer Angst überhaupt mit¬bekam). Lo Si und er hatten sich durch einen kurzen Blickkontakt darauf verständigt, die bos¬haften Be-mer¬kungen zu ignorieren und um Li-Yus willen darauf zu verzichten, den Flegeln ein biss¬chen Rück¬sicht¬nah¬me und gutes Benehmen beizubringen. Denn das letzte, was die alte Dame mo¬men¬tan gebrauchen konn¬te, war zusätzliche Aufregung. Nach schier endlosem Warten war nur noch ein Passagier vor Peter. Dieser gab Lo Si ein Zeichen, und die beiden ge¬sellten sich zu ihm. Peter ließ seinen Charme spielen und konnte einen Fensterplatz mit ein wenig extra Bein¬freiheit für seine Begleiterin ergattern. Jetzt konnte es losgehen! Als sich sie sich am Durchgang zum Bereich, der den Passagieren vorbehalten war, von Lo Si ver¬ab¬schie¬de¬ten, war es plötzlich um Li-Yus Selbstbeherrschung geschehen, und sie brach in Tränen aus. Sobald sie die Schleu¬se passiert hatte, würde sie ihr ganzes bisheriges Leben endgültig hinter sich lassen! Es war schon schlimm genug ge¬wesen, sich von all ihren Freunden zu verabschieden. Aber immerhin war dies im Rahmen einer sehr schö¬nen Feier geschehen und in Würde. Hier jedoch, in der ungewohnten Umgebung, in¬mit¬ten all die¬ses Trubels, Abschied nehmen zu müssen, erschien ihr schier unerträglich. Lo Si nahm sie wortlos in den Arm und streichelte sanft ihren Rücken. Sie beruhigte sich wieder und sagte, be¬schämt darüber, dass sie sich in der Öffentlichkeit so hatte gehen lassen: "Ich bitte um Verzeihung für mein unwürdiges Verhalten, alter Freund. Danke für alles, was du für Chiang und mich getan hast. Ich...", sie kam ins Stocken. "Es gibt nichts zu verzeihen, Li-Yu. Du stehst an einem Scheidepunkt, da ist Angst ganz normal. Ich wünsche dir von Herzen Glück für den neuen Weg, den du jetzt einschlagen wirst. Ich bin froh dass du ihn nicht allein gehen musst, sondern deine Familie um dich hast. Und dass Peter dir für den Neuanfang zur Seite steht. Er wird sich gut um dich kümmern." Er umarmte sie noch einmal, nickte Peter kurz zu und ging dann schnell davon, um ihren Abschiedsschmerz nicht unnötig zu verlängern. Traurig blickte sie ihm nach, bis er um die Ecke bog. Ohne wirklich etwas zu sehen, starrte sie weiter auf den Punkt, an dem der Ehrwürdige verschwunden war. Sie fühlte sich einsamer denn je. Erst eine leise Stimme an ihrem Ohr holte sie wieder in die Gegenwart zurück. "Der Schmerz wird nach¬las¬sen. Ich weiß es, ich habe es selbst erlebt. Betrachten Sie ihn nicht als Feind, sondern als Freund, der die Er¬innerung wachhält. Nehmen Sie ihn an, so wird er nach und nach weniger werden und schließlich ganz ver¬gehen, bis nur noch die Erinnerungen bleiben." Peter war von hinten dicht an sie herangetreten und hatte seine Hände in einer beschützenden Geste auf ihre Arme gelegt. Sie lehnte sich kurz an ihn; es tat gut, sich einfach gehen lassen zu können und von Peters Ver¬ständ¬nis gleichsam eingehüllt zu werden. Einige Augenblicke lang badete sie richtiggehend in der Ruhe und Sicherheit, die der junge Shaolin aus¬strahlte, dann riss sie sich zusammen und sagte leise: "Danke, Peter, Sie haben Recht. Kommen Sie, gehen wir durch die Schleuse." * Da sie sehr früh dran waren, machten sie einen kurzen Spaziergang durch den Abflugbereich. Das brachte die alte Dame wieder auf andere Gedanken. Doch nach einer Weile wurde sie müde, die Füße taten ihr weh und sie sehnte sich nach einer Pause. Bevor sie jedoch etwas zu Peter sagen konnte, hatte der sie bereits in ein kleines, gut besuchtes, Café geführt und an den einzigen freien Tisch gelotst, von dem aus sie eine gute Aus¬sicht auf das bunte Treiben in der Abflughalle hatte. Dann ging er zur Theke, um Tee und Ge¬bäck zu be¬sor¬gen. Als er gerade gezahlt hatte und mit seinem Tablett an den Tisch zurückkehren wollte, hörte er plötz¬lich eine nur allzu bekannte Stimme sagen: "Hey, an dem Tisch da drüben ist noch Platz. Los, Kinder, wir set¬zen uns zu der Alten und unterhalten uns ein bisschen mit ihr, das wird bestimmt ein Spaß." Nichts Gutes ahnend, drehte sich Peter um und sah, wie die Rowdies von vorher sich direkt auf den Tisch zu be¬weg¬ten, an dem Mrs. Cheng saß. "Kann ich das Tablett bitte kurz hier stehenlassen?", fragte Peter. "Ich muss schnell mal was klarstellen. Und könn¬ten Sie bitte die Aufsicht rufen? Ich glaube, die brauchen wir jetzt." Die Kassiererin nickte und griff zum Han¬dy, das sie griffbereit in einem Fach unter der Theke aufbewahrte. Währenddessen ging Peter schnell zurück zu seiner Begleiterin, die gerade von Randy angesprochen wur¬de: "Hallo, Oma, du hast sicher nichts dagegen, wenn wir uns dazusetzen. Wenn wir'n bisschen zusam¬men¬rücken, haben wir alle Platz, dann können wir's uns gemütlich machen." Ein anderer meinte grob: "Los, Alte, rutsch mal!" Bevor er sich jedoch neben die erschrockene Frau
setzen konnte, war Peter da. Er setzte sein be¬rühm¬tes schiefes
Grinsen auf, klopfte dem Rowdy kumpelhaft auf die Schulter und sagte in
locker-flockigem Ton¬fall: Mit einer einladenden Geste wies er auf die Plätze gegenüber Mrs. Cheng. "He, du da, was fällt dir ein? Dich hat niemand hergebeten, also misch dich nicht ein, Kleiner! Was geht dich das überhaupt an, wenn wir der Oma n'bisschen Gesell-schaft leisten wollen?", fauchte ihn Randy an. Peter grinste immer noch, erwiderte aber nachdrücklich: "Weil ich mit der alten Dame verreise, und nicht ihr. Aber genau das ist euer Glück, denn aus Rücksicht auf sie verzichte ich darauf, euch eine Lektion zu erteilen, wenn ihr euch höflich benehmt oder, noch viel besser, einfach wieder verzieht. Also tschüß, viel Spaß noch und gute Reise!" "Na so was, der Bubi will uns drohen! Jetzt bekomme ich aber Angst", lachte Randy. "Schau dich doch mal um – wir sind zu viert, und du bist ganz allein. Also verpiss dich!" Er baute sich in seiner ganzen Größe vor Peter auf, der sich davon jedoch ganz und gar nicht beein¬drucken ließ. Solche feigen Typen hatte er in seiner Zeit bei der Polizei zur Genüge getroffen. In Gruppen und gegen Schwä¬chere spielten sie sich gerne auf – sobald sie aber auf ernsthaften Widerstand trafen, zogen sie ganz schnell wie gepügelte Hunde den Schwanz ein. Also blickte Peter dem Flegel direkt in die Augen und ent¬geg¬nete tadelnd: "Ts, ts, Schimpfwörter in Gegenwart einer Dame, pfui, schäm dich! Deine Eltern hätten dir wirk¬lich bessere Manieren beibringen sollen!" Bei diesen Worten sah sein Gegenüber rot. Wutschnaubend holte Randy aus, um Peter einen Faustschlag ins Gesicht zu verpassen. Doch ehe er sich's versah, wurde seine Faust gepackt und ihm der Arm auf den Rücken gedreht. Ihm blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen, genauso wie seinen Kumpanen. Peter blickte sie der Reihe nach an. "Möchte noch einer ausprobieren, ob er es mit mir aufnehmen kann? Nein? Nun, dann werde ich euren Freund jetzt loslassen, und ihr verzieht euch alle ganz, ganz schnell, sonst muss ich leider die beiden Polizeibeamten herwinken, die gerade nebenan am Postkartenstand vor¬bei¬kom¬men. Aber wir wollen doch alle keinen Ärger mit der Polizei haben, nicht wahr?" Angesichts des ruhigen Selbstbewusstseins, das der junge Shaolin ausstrahlte, verging den Raufbolden ihre Streit¬lust. Als sie dann auch noch bemerkten, dass die besagten Polizisten auf das Café zukamen, hatten sie es plötzlich sehr eilig und verschwanden schleunigst von der Bildfläche. Die anderen Gäste applaudierten spontan, während Peter in aller Ruhe das Tablett holte und sich zu seiner Be¬gleiterin an den Tisch setzte. Die beiden Polizisten, denen der hastige Aufbruch der Bande keineswegs entgangen war, be¬tra¬ten das Café und wandten sich an die Kassiererin. "Hallo, Molly! Du hast in der Zentrale angerufen, hattest du Ärger?" "Beinahe. Ein paar Rowdies haben einen Gast belästigt, die alte Dame dort drüben. Aber ihr Begleiter hat die Si¬tua¬tion gerettet und ihnen heimgeleuchtet." Daraufhin kamen die Beamten zu Mrs. Cheng und Peter an den Tisch. Einer der beiden erkundigte sich: "Ent¬schul¬digen Sie bitte die Störung, Madam, Sir. Mein Name ist Fisher, und das ist Officer MacMullan. Ist alles in Ord¬nung? Wir haben gehört, Sie wurden belästigt. Möchten Sie Anzeige erstatten?" "Nein, nein, es ist alles in Ordnung, Officer Fisher, wir verzichten auf eine Anzeige", antwortete Peter und füg¬te hinzu: "Ich glaube nicht, dass die Störenfriede uns noch einmal behelligen werden." "Ist das auch Ihre Meinung, Madam?", wandte sich der Polizist nun an Mrs. Cheng, die bisher nur fragend zwi¬schen ihm und Peter hin- und hergeblickt hatte. Dieser übersetzte die Frage, worauf seine Begleiterin nur kurz den Kopf schüttelte und in gebrochenem Englisch sagte: "Nein, kein Anzeige. Danke vielmals. Alles gut. Nix passiert, Caine hilft, Caine passt auf." "Caine?" Officer MacMullan meldete sich nun zu Wort. "Sind Sie der berühmte Shaolinpriester aus China¬town? Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir. Was sagen die Leute immer – 'komm nach China¬town, frag nach Caine, er wird dir helfen'?" Wehmütig lächelnd schüttelte Peter den Kopf. "Sie sprechen von meinem Vater, Kwai Chang Caine. Ich bin zwar auch Shaolinpriester, aber erst seit ein paar Monaten und auf diesem Gebiet noch ziemlich unerfahren. Mein Name ist Peter Caine." Mrs. Cheng hatte anscheinend ungefähr mitbekommen wovon die Rede war, denn sie legte ihre Hand auf Peters Arm und sagte vertrauensvoll, an die Polizisten gewandt: "Peter Caine, nicht Kwai Chang. Peter auch Shaolin, hilft Leuten in Chinatown. Hilft mein Mann und mich. Wir sehr dankbar. Peter guter Mensch." Der solchermaßen Gepriesene war sichtlich gerührt und ziemlich verlegen. Weil ihr Eingreifen augenscheinlich nicht nötig war, verabschiedeten sich die beiden Polizisten wieder: "Gut dass Ihnen nichts passiert ist, Madam, Mr. Caine. Jetzt müssen wir aber mit unserem Rundgang weiter¬machen. Wir wünschen Ihnen beiden noch einen angenehmen Flug." Ein kurzes Händeschütteln, ein Kopfnicken Richtung Molly, und die Beamten verließen das Café. Peter und Li-Yu hingegen konnten endlich ihren Tee genießen. Sie blieben sitzen bis ihr Flug aufgerufen wurde.
Als die Boeing mit einem kaum merklichen Ruckeln in San Francisco aufsetzte, stieß Mrs. Cheng einen er¬leich¬terten Seufzer aus. Endlich wieder fester Boden unter den Füßen! Ein wenig unheimlich war es schon ge¬wesen, sich hunderte von Metern in der Luft zu befinden. Auch wenn sie es durchaus genossen hatte, aus dem Fenster auf die sich immer wieder ver¬ändernde Land¬schaft zu blicken, oder nach dem Start zu beo¬bach¬ten, wie schnell die Häuser und Straßen zu schrump¬fen schienen, wie nach kurzer Zeit alles am Boden so klein aussah wie die Möbel in einer Pup¬pen¬stube. Dank Peters Fürsorge hatte sie auch die lange Flugzeit recht gut überstanden. Wenn sie ehrlich war, em¬pfand sie große Dankbarkeit dafür, dass nicht Mai-Lins Mann sondern Peter auf dem Platz neben ihr saß. Nicht dass sie John etwas Böses gewünscht oder sich gar über seinen Unfall gefreut hätte, o nein! Aber ihr Schwie-gerenkel war halt kein Shaolin mit erhöhter Wahrnehmungsfähigkeit, sondern ein ganz normaler Ge¬schäfts¬mann, und sie kannten sich kaum. Zwar schien John ein netter Mensch zu sein und hätte sich zwei¬fel¬los bemüht, ihr die Reise möglichst angenehm zu gestalten. Aber Peter hatte während der letzten drei Mo¬na¬te sehr viel Zeit mit ihrem Mann und ihr verbracht und wuss¬te inzwischen sehr genau, was ihr gut tat und was nicht. Er hat¬te während des Flugs immer wieder ihre An¬spannung mit Kräutern und Aku¬pres¬sur¬mas¬sa¬gen gelindert, hatte ihr auf diese Weise sogar zu einem Nicker¬chen über den Wolken verholfen. Jetzt lächelte er ihr zu und fragte: "Wie
fühlen Sie sich, jetzt, wo wir wieder heil unten angekommen sind?" "Nichts zu danken, deswegen komme ich ja schließlich mit", wehrte Peter bescheiden ab und fügte hinzu: "Am besten bleiben wir noch eine Weile sitzen und lassen die anderen Passagiere vor. Wir können dann in aller Ruhe zur Gepäckausgabe gehen und sparen uns das Schlangestehen. Bis das ganze Gepäck aus¬ge¬la¬den ist und abgeholt werden kann, vergeht ohnehin noch etwas Zeit, wir brauchen uns nicht zu beeilen." Gesagt, getan. Sie ließen sich Zeit und kamen am Fließband an, als das gerade anlief. Bald darauf tauchten die ersten Gepäckstücke auf. Mrs. Chengs schwerer Koffer und Peters kleine Reisetasche waren gleich am An¬fang mit dabei, so dass Peter und seine Begleiterin ohne weitere Verzögerung den Ankunftsbereich ver¬las-sen konnten. Mrs. Cheng war sehr enttäuscht, als sie ihre Enkelin nicht unter den Wartenden entdeckte. Ob¬wohl sie kein Wort sagte, spürte Peter es doch und versuchte sie zu beruhigen: "Mai-Lin kommt bestimmt bald – wahrscheinlich steckt sie im Stau oder sucht gerade einen Parkplatz. San Francisco ist um einiges größer als Sloan¬ville, da ist der Verkehr garantiert auch sehr viel dichter. – Sehen Sie, da drüben ist eine Bank, da kön¬nen Sie sich hinsetzen." Doch zehn Minuten später war von Mai-Lin immer noch nichts zu sehen. So langsam schlug die Ent¬täu¬schung in Sorge um. War möglich etwas passiert? Plötzlich bemerkte Peter einen älteren Mann, der das Flughafengebäude be¬trat, sich suchend umsah und dann auf die Glastür zueilte, die den allgemein zugänglichen Bereich von der Ge¬päckausgabe trennte. Er hielt etwas (ein Photo?) in der Hand und blickte immer wieder zwischen den an¬kom¬men¬den Passagieren und seiner Hand hin und her. Offensichtlich wollte er jemanden treffen, den er nicht kannte. Vielleicht war er ja ihretwegen hier – war Mai-Lin etwas dazwischengekommen? Peter hatte da so eine Ahnung. Er ging auf den Un¬be¬kann¬ten zu und sprach ihn an: "Entschuldigen Sie bitte, hat Mai-Lin Wong Sie geschickt?" Ein vorsichtig abschätzender Blick traf ihn. "Und wenn es so wäre, junger Mann?" "Dann sind Sie sicher hier, um ihre Großmutter abzuholen, Mrs. Cheng? Sie sitzt dort drüben." Peter deutete auf die Bank, auf der sein Schützling saß, und streckte dann dem Unbekannten die Hand hin. "Ich freue mich, Sie zu treffen. Mein Name ist Peter Caine, ich be¬gleite sie." Peter spürte, wie sein Gegenüber auf einmal misstrauisch wurde. "So?", erwiderte der alte Mann fast feind¬selig, die ausgestreckte Hand geflissentlich ignorierend. "Mai-Lin sagte mir, ihre Gro߬mutter würde mit einem Shao¬linpriester reisen. Habe ich da etwas falsch ver¬standen?" Obwohl er es nicht laut aussprach, stand die Aussage 'Dafür sind Sie sind doch viel zu jung!' sehr deutlich im Raum. Peter unterdrückte einen Seufzer. Das kannte er schon zur Genüge, er hatte es in den ersten Wo¬chen seines neuen Lebens immer wieder erlebt. Anscheinend glaubten viele, um Shaolin zu werden müsste man sehr alt sein, und wenn dann plötzlich ein junger Mann vor ihnen stand, kam ihnen das gar nicht ge¬heuer vor. Inzwischen hatte Peter gelernt, dieses Misstrauen gelassen hin¬zu¬neh¬men, denn zum einen konn¬te er zunächst sowieso nichts dagegen tun und zum anderen ver¬schwand es in der Regel ohnehin von selbst, sobald die Leute ihn näher kennengelernt und sich davon über¬zeugt hatten, dass er kein Angeber oder gar Schwindler war. *Wenigstens muss ich hier nicht auch noch gegen meinen schlechten Ruf als Hot-shot-Cop ankämpfen*, dach¬te er, während er die Ärmel seiner schwar¬zen Lederjacke und seines Hemdes hoch¬krem¬pelte und dem Un¬bekannten seine Brandmale zeigte. Ruhig sagte er: "Nein, nein, Sie haben das völlig richtig verstanden. Mai-Lin hat von mir gesprochen; ich bin Shaolin, wenn auch noch nicht sehr lange. – Kommen Sie, gehen wir zu Mrs. Cheng hinüber. Sie macht sich schon große Sorgen. Ist Mai-Lin etwas passiert dass sie nicht selbst kommt?" "Nein, ihr Wagen ist nicht angesprungen, und der ihres Mannes ist ja ein Schrotthaufen. Also habe ich schnell aus¬geholfen." Sie waren inzwischen bei der alten Dame angelangt, wo sich der Unbekannte als Deng Sung vorstellte. Ihm ge¬höre das Häuschen neben den Wongs, und er habe ein kleines Souterrain-Appartement, in dem Peter schla¬fen könne, weil die Wongs kein eigenes Zimmer für ihn hätten. Herausfordernd blickte er den jungen Shao¬lin an, als er hinzufügte: "Die Vorbesitzer haben es als Lagerraum verwendet, ich habe dann eine Nass¬zelle eingebaut, damit ich es als Gästezimmer nut¬zen kann. Dadurch ist es recht eng darin geworden, aber für ein paar Nächte wird es wohl gehen. Shaolin sind ja bescheiden, nicht wahr?" Peter ließ sich jedoch nicht provozieren, sondern deutete eine Verneigung an und erwiderte: "Herzlichen Dank für Ihre Gastfreundschaft." * Nach einer guten halben Stunde Fahrt kamen sie schließlich in Chinatown an, wo sie von Mai-Lin und ihren drei¬jäh¬rigen Zwillingen Teresa und Jackie bereits sehnlichst erwartet wurden. Die Kinder waren schon ganz hib¬be¬lig, und kaum hörten sie das Auto vorfahren rannten sie auch schon laut jubelnd nach draußen, um die langer-sehn¬te Uroma stürmisch zu begrüßen. Mai-Lin folgte etwas langsamer, denn sie war hochschwanger und bewegte sich deshalb eher gemächlich. Sie hieß ihre Großmutter und Peter herzlich willkommen und bat auch Mr. Sung auf eine Tasse Tee herein. Doch der war schlecht gelaunt und meinte, mit einem beredten Seitenblick auf den jungen Shaolin: "Nein, danke, viel¬leicht ein anderes Mal, wenn es bei Ihnen nicht mehr so hoch hergeht." Dann wandte er sich direkt an Peter und forderte ihn kurz angebunden auf: "Kommen Sie mit, Shaolin. Ich zeige Ihnen, wo das Gäste¬zimmer ist und gebe Ihnen den Schlüssel. Es hat einen eigenen Eingang, Sie können also kommen und gehen wie Sie wollen, und wir brauchen uns nicht ständig über den Weg zu laufen. Wenn Sie wieder fahren, geben Sie den Schlüssel einfach Mai-Lin." Das war deutlich! Mai-Lin blickte ihren Nachbarn verblüfft an; eine solche Unhöflichkeit, ja fast schon Grob¬heit, war sie von ihm überhaupt nicht gewohnt. Peter jedoch zuckte nur die Achseln, verneigte sich ge¬las¬sen und folgte Mr. Sung. Dass er dabei genau wie ein jüngeres Abbild seines Vaters aussah, fiel ihm gar nicht auf. Mrs. Cheng jedoch hatte es bemerkt, sie lächelte still in sich hinein und dachte: *Wenn Kwai Chang von sei¬ner Reise zurückkehrt, wird er seinen Sohn gar nicht mehr erkennen, so sehr hat der sich in dieser kurzen Zeit zu seinem Vorteil verändert.* Als Peter zurückkam, saß die Familie im Garten am Teetisch. Da es in San Fran¬cis¬co bereits einige Grad wär¬mer war als in Sloanville, konnte man an windgeschützten Orten schon sehr gut im Freien die Sonne ge¬nie¬ßen. Mrs. Cheng schien sich in der Wärme sehr wohl zu fühlen, sie erzählte den Kindern, die wie gebannt an ihren Lippen hingen, ein chinesisches Märchen. Mai-Lin dagegen war ziemlich blass und sah aus als ob sie Schmerzen hätte. Peter fragte leise: "Ist Ihnen nicht gut? Kann ich etwas für Sie tun?" Sie schüttelte den Kopf und antwortete ebenso leise: "Es ist nur mein Sodbrennen. Immer wenn ich etwas esse, bekomme ich kurze Zeit später Sodbrennen, das ist normal so kurz vor der Geburt." "Ja, das habe ich vor kurzem erst erfahren. Der Ehrwürdige Lo Si hat ein paar Patientinnen, die we¬gen ihrer Schwan¬gerschaft unter starkem Sodbrennen leiden. Er hat mir gezeigt, wie ich es mit Aku¬pressur lin¬dern kann. Wenn Sie möchten, kann ich das auch bei Ihnen versuchen. Ich habe zwar noch nicht sehr viel Er¬fah¬rung in Kräuterkunde und chinesischer Medizin, aber das habe ich schon ein paar¬mal erfolgreich ange¬wandt." Mai-Lin sah ihn mit großen Augen an. "Ach Peter, das wäre wunderbar! Mein Arzt hat mir Tabletten ver¬schrie¬ben, aber die vertrage ich gar nicht, also lasse ich sie weg. Ich meine, es dauert ja auch nicht mehr lan¬ge bis das Kind kommt, da halte ich das bisschen Sodbrennen schon aus. Aber es wäre zu schön, wenn Sie Abhilfe hätten. Wollen wir es versuchen? Was brauchen Sie dafür?" "Nur eine ruhige Umgebung, in der Sie sich hinlegen und entspannen können. Es wäre gut, wenn Sie da¬nach noch ein paar Minuten liegen bleiben könnten." Mai-Lin überlegte kurz: "Dann bleibt eigentlich nur das Schlafzimmer, das ist der einzige Raum, in dem ich wirk¬lich ungestört bin. Wenn Ihnen das nichts ausmacht?" Peter verneinte; also gaben sie Mrs. Cheng kurz Bescheid, die versprach in der Zwischenzeit auf die Kinder auf¬zupassen, und gingen ins Schlafzimmer. Auf Peters Anweisung hin legte sich Mai-Lin auf das Bett und schloss die Augen. "Entspannen Sie sich und versuchen Sie, an nichts zu denken. Ja, gut so, sehr gut. Nicht erschrecken, ich beginne jetzt mit der Akupressur. Atmen Sie tief ein... und wieder aus... und ein..." Peters Stimme klang so angenehm und beruhigend, dass Mai-Lin gar nicht anders konnte als ruhig zu atmen und sich ganz automatisch zu entspannen. Sie spürte, wie der Schmerz langsam nach¬ließ und einer ange¬neh¬men Müdigkeit Platz machte. Peter konnte der Ver¬su¬chung nicht widerstehen und ließ die junge Frau mit einem sanften Griff in den Nacken endgültig einschlafen. Sie würde in etwa einer halben Stun¬de wieder aufwachen. Leise schloss er die Tür und ging zurück zu den anderen. Dort kam er gerade rechtzeitig, um zu verhindern, dass die Kinder Unfug anstellten. Mrs. Cheng war nach der langen und aufregenden Reise mittlerweile doch sehr müde (umso mehr als ihre 'innere Uhr' ihr sig¬na¬li¬sier¬te, es sei nicht Spätnachmittag, sondern bereits halb neun Uhr abends), und die Zwillinge hatten keine Lust mehr auf Märchen. Sie fingen an sich zu langweilen und wollten lieber herumtoben, aber das war na¬tür¬lich nichts für die Uroma, die konnte ja nicht mehr gut laufen. Und sonst war niemand da, der mit ihnen spiel¬te. Aus lauter Frust fingen sie an, sich zu streiten. Doch glücklicherweise kam in diesem Moment Peter zu¬rück; vielleicht war mit ihm ja etwas anzufangen? Der junge Shaolin war in der nächsten Stunde sehr dankbar für die Erfahrungen, die er beim Spie¬len mit seinem Patenkind Jamie gesammelt hatte. Während Li-Yu sich zum Ausruhen ins Wohn¬zim¬mer zurück¬zog, tollten Peter, Teresa und Jackie durch den Garten und verbrachten eine sehr ange¬neh¬me, wenn auch für Peter ziemlich anstrengende, Zeit im Freien, bis Mai-Lin sie zum Abendessen hineinrief.
Als Peter sich gegen neun Uhr verabschiedete, um sein winziges Zimmerchen aufzusuchen, war er recht¬schaf¬fen müde. Er war seit sechs Uhr morgens auf den Beinen, und es war ein langer, anstrengender Tag ge¬wesen. Trotz¬dem konnte er jetzt nicht gleich ins Bett gehen, dafür war in den vergangenen 18 Stunden ein¬fach zuviel passiert, über das er erst noch nachdenken, das er verarbeiten musste. Aber zunächst einmal brauchte er frische Luft und ein bisschen Bewegung, denn bis auf das Herumtoben mit den Zwil¬lin¬gen hatte er den ganzen Tag über keine Gelegenheit gehabt, sich körperlich zu verausgaben. Er be¬schloss, noch einen klei-nen Streif¬zug durch das abendliche Chinatown zu machen und bei dieser Ge¬le¬gen-heit auch ein paar Klei¬nig¬kei¬ten zu besorgen. Vor allem Kerzen, denn in seiner Sardinenbüchse von Un¬ter¬kunft hatte er am Nach¬mit¬tag keine entdeckt. Eine gute Stunde später entzündete er die frisch gekauften Kerzen, setzte sich im Lotussitz auf den Fu߬boden und ließ den Tag noch einmal an sich vorüberziehen. Da waren zunächst Mrs. Chengs schmerzlicher Abschied von Sloanville und der langen Flug. Die alte Dame hat¬te versucht, sich ihre Furcht nicht anmerken zu lassen, doch kurz vor dem Start hatte sie sich an Peters Hand regelrecht festgeklammert wie an einem Rettungsanker. Auch während der Fluges hatte sie gele¬gent¬lich Angst bekommen. Einmal war sie sogar fast in Pa¬nik geraten, als die Maschine etwa eine halbe Stunde nach dem Start in kleinere Tur¬bulenzen geraten war, wie sie immer wieder vorkommen. Peter hat¬te es nur mit viel Mühe geschafft, seine Begleiterin wieder zu be¬ruhigen. Er hatte sich ziemlich hilflos gefühlt und mach¬te sich deswegen bittere Vorwürfe, wieder einmal nicht richtig reagiert zu haben. Er dachte: *Lo Si hätte sie viel leichter aus ihrer Angst wieder herausgeholt, wahrscheinlich hätte sie sich in seiner Ge¬sell¬schaft gar nicht erst so hineingesteigert. Aber ich habe das natürlich nicht geschafft. Ein schöner Shaolin bin ich! Typisch Peter! Ich frage mich ernsthaft, ob es wirklich eine gute Idee von Lo Si war, mich an seiner Stel¬le nach San Fran¬cis¬co zu schicken. Mrs. Cheng vertraut mir blind, doch ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob ich diesem Ver¬trauen wirk¬lich gerecht werden kann. Während des Fluges hat es ja schon mal nicht ge¬klappt. Auch Mai-Lin hat nach dem bisschen Aku¬pressur eine völlig überzogene Vor¬stel¬lung von mei¬nen Fähig¬keiten. Das war ganz und gar nicht meine Absicht, ich wollte sie doch nur von ihren Schmerzen be¬freien, sonst nichts. Aber nun scheint sie zu glauben, ich könne wahre Wunder voll¬bringen. Das stimmt doch gar nicht, ich bin doch noch ein An¬fän¬ger. Was habe ich da nur wieder angerichtet! Bei so viel un¬ver¬dien¬ter Bewunderung komme ich mir ja fast vor wie ein Hochstapler.* Ihm entfuhr ein bitteres, höhnisches Lachen. *Da habe ich dann ja gleich etwas gemeinsam mit diesem arg¬wöh¬nischen Nachbarn, der mir heute überdeutlich zu verstehen gegeben hat, dass er mich für einen Schwind¬ler hält. Was der wohl gegen mich hat? Ich fühle dass da weit mehr ist als bloßes Miss¬trauen weil ich ihm für einen Shaolin zu jung bin. Als er mir das Zimmer gezeigt und dabei versucht hat, mich aus¬zu¬hor¬chen, hat er extra betont, dass er sich als Mai-Lins Beschützer versteht, solange ihr Mann im Kran¬ken¬haus ist. Mir ist klar, dass er befürchtet, ich würde versuchen aus ihrer misslichen Lage einen Vorteil zu zie¬hen und Mai-Lin irgendwie auszunutzen. Aber wie kommt er zu dieser Annahme? Was mag er erlebt haben, dass er gar so miss¬trauisch ist? Ich spüre eine große Bitterkeit und Trau-rigkeit, die er tief in sich begraben hat und die ich jetzt wieder aufrühre. Das tut mir so leid! Wenn ich ihm doch helfen könnte! Aber ich habe keine Ahnung, wie ich überhaupt an ihn herankommen soll, geschweige denn ihm helfen kann. Lo Si mit seiner großen Erfahrung könnte das bestimmt! Aber Lo Si ist nicht hier, da muss ich es eben alleine ver¬suchen. Es wird nicht gerade einfach werden...* Mit diesem guten Vorsatz beendete Peter seinen Tagesrückblick. Jetzt sollte er besser ins Bett gehen, denn auch der nächste Tag würde anstrengend werden. Peter hatte bemerkt, wie erschöpft Mai-Lin war, und er hoff¬te auf die Gelegenheit, sich nütz¬lich zu machen und ihr eini¬ges abzunehmen. Vor allem was die leb¬haf¬ten Zwil¬linge betraf – wie Mai-Lin erzählt hatte, hatten die beiden seit dem Unfall ihres Vaters nie¬mand mehr, der mit ihnen or¬dent¬lich herumtobte, und waren dementsprechend in den letzten Tagen ziemlich quen¬ge¬lig ge¬wesen. Das konn¬te man ihnen nicht einmal verdenken, aber Peter würde schon dafür sorgen, dass sie in nächs¬ter Zeit ihren na¬tür¬lichen Bewegungsdrang wieder auf friedliche Art auslebten. Vielleicht konnte er ihnen ja auch ein wenig Kung¬Fu beibringen? Jamie fand das immer toll, vielleicht hatten auch Teresa und Jackie Freude daran? Ja, das war eine gute Idee – gleich morgen früh würde er Mai-Lin fragen, ob sie etwas da-gegen hatte, wenn er mit den beiden im Garten übte. * "Peter! Peeeter! Endlich bist du wieder da! Komm spielen!" – "Peeeter! Wir sind schon sooo lange wach! Machst du jetzt wieder KungFu mit uns?" Zwei Wirbelwinde stürzten sich auf den jungen Shaolin, kaum dass dieser den Garten betrat. Lachend warf er sie nacheinander in die Luft und fing sie wieder auf. Jackie fragte vorwurfsvoll: "Wo warst du denn? Wir warten schon sooo lange auf dich, du wolltest doch wieder zurücksein, wenn wir vom Mittags¬schlaf aufwachen. Jetzt ist schon vieeel später." Peter strich ihm beruhigend übers Haar. "Ich war zuerst für eure Mama einkaufen und dann in der Apotheke bei Meister Feng, Tee besorgen. Dabei haben wir uns wohl etwas zu lange über Heilkräuter unterhalten, das tut mir leid. Aber ihr wisst doch, dass Uroma Li-Yu ihren Tee braucht." "Ja, und Dad braucht Kräuter und Massagen, damit er nicht wieder so schlimmes Kopfweh bekommt", er¬gänz¬te Teresa, während sie und ihr Bruder Peter bei der Hand nahmen und ihn in Richtung Klet¬ter¬gerüst zogen. Doch dieser wehrte sich und rief: "Halt, halt,
ihr Rasselbande, lasst mich erst noch eure Ur¬oma und ihren Besuch
begrüßen und sie fragen, ob sie etwas brauchen. Geht schon
mal vor, ich komme gleich nach." Ihre Urgroßmutter hatte die kleine Szene lächelnd vom Teetisch aus beobachtet, an dem sie mit ihrem rei¬zen¬den neuen Nachbarn, Mr. Sung, saß. Doch dieser hatte bei Peters Anblick unwillkürlich die Stirn ge¬run¬zelt, und als er ihn jetzt so unvermutet auf sich zukommen sah, wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich un¬durch¬dring¬lich. Schweigend hörte er zu wie dieser Möchtegern-Shaolin die alte Dame anscheinend re¬spekt¬voll be¬grü߬te und sie ihm mit offensichtlicher Zuneigung und einem liebevollen Lächeln antwortete. Eifer¬sucht stieg in ihm hoch. *Ich würde was darum geben wenn sie mich so nett anlächeln würde! Aber nein, es muss dieser ko¬mi¬sche Vogel da sein, dieser Amerikaner. Wie schafft der es bloß, alle Leute so ein¬zu-wickeln?* Als Peter auch ihn begrüßte, zwang er sich dazu, wenigstens höflich zu sein, denn er wollte es sich nicht mit Li-Yu verderben. Doch dieser war schon mehrfach aufgefallen, dass Deng Sung Peter aus dem Weg ging und ihn, wenn ein Zusammentreffen unvermeidlich war, mit eisiger Höflichkeit behandelte. Dabei hat¬te Peter ihm doch gar nichts getan. Solch seltsames Verhalten passte gar nicht zu diesem sym¬pa¬thi¬schen älteren Herrn, der sonst immer die Freundlichkeit und Güte in Person war. Sie beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen und ihn dar¬auf an¬zu¬spre¬chen, auch wenn er sie dann höchstwahrscheinlich für schrecklich neugierig und un¬höf¬lich hielt. Sobald Peter am anderen Ende des Gartens mit den Kindern spielte und damit außer Hörweite war, be¬merk¬te sie schüchtern: "Bitte ver¬zei¬hen Sie mir meine Unhöflichkeit, wenn ich Sie so direkt darauf an¬spre¬che, ob¬wohl es mir nicht zusteht. Mir ist schon öfter aufgefallen, dass Sie Peter sehr miss¬billigend ansehen. Hat er Ihnen dazu Veranlassung ge¬ge¬ben, es viel¬leicht am nötigen Respekt fehlen lassen?" Es hätte sie zwar gewundert, wenn das zuträfe. Aber das schien ihr der einzige Einstieg in das Gespräch zu sein, bei dem Deng Sung sich nicht gleich angegriffen fühlen würde. Dieser schwieg lange, dann erwiderte er lang¬sam: "Nun ja, nicht direkt. Er scheint respektvoll und ist immer höflich. Aber genau das macht mich miss¬trauisch. Ich meine, er ist nicht einmal Chinese, sondern Amerikaner und will trotzdem ein Shao¬lin sein? Noch dazu in seinem Alter? Und diese ständige Freundlichkeit! Ich kann mir nicht helfen, aber das finde ich sehr seltsam. Ich ha¬be das Gefühl, er hat irgendwas vor. Warum macht er sich hier unentbehrlich, was hat er davon?" Er sah Li-Yu fast vorwurfsvoll an und fuhr in anklagendem Tonfall fort: "Er schmei-chelt sich ein, jawohl das tut er! Er ist noch nicht einmal eine Woche hier, und seitdem höre ich nichts anderes als Peter hier und Peter da. Die Kin¬der spre¬chen nur noch von ihm, Mai-Lin schwört auf seine Akupressurbehandlung und sogar John hat mir heu¬te morgen ganz begeistert erzählt wie Peter ihn von seinen Kopf¬schmer-zen befreit hat. Dabei kennt er ihn doch noch gar nicht richtig, er hat ihn vor¬ges¬tern zum erstenmal ge¬trof¬fen, als er aus dem Kran¬ken¬haus ent¬las¬sen wurde!" Li-Yu blickte verständnislos drein. "Peter ist eben hilfsbereit. Was ist falsch daran, wenn er sei¬ne besonderen Fähig¬keiten einsetzt, um unsere Beschwerden zu lindern? Oder daran, dass meine Fa¬mi¬lie ihn sehr mag? So wie Sie das gerade gesagt haben, klingt es als befürchten Sie er würde uns aus¬nut¬zen wol¬len oder sich als Betrüger entpuppen." Deng Sung fühlte sich ertappt und erwiderte heftiger als beabsichtigt: "Ja, genau das tue ich! Glauben Sie mir, da ist etwas faul, ich habe das selbst schon..." Er verstummte und wandte sich ab, zum Zeichen dass er nicht wei¬ter darüber sprechen wollte. Doch Li-Yu konnte das nicht so stehen lassen. Das wollte sie jetzt genau wissen. So gern sie ihren neuen Nach¬barn inzwischen schon hatte – wenn er Peter für einen Betrüger hielt, war er ziemlich dumm. Oder aber er hat¬te eine schlechte Erfahrung gemacht, die ihn Peter gegenüber voreingenommen sein ließ. Darauf deu¬te¬te auch der Satz hin, den er so abrupt beendet hatte. Sie bohrte nach: "Was wollten Sie gerade sagen? Ha¬ben Sie einmal erlebt, dass jemand sich Ihr Vertrauen erschlichen und sich dann als Schwindler her¬aus¬gestellt hat?" "Ja." Dengs Blick schien in weite Ferne zu gehen, er sagte leise, mehr zu sich selbt als zu Li-Yu: "Ich hatte eine Tochter. Ihr Name war Cho, sie war wun¬der¬schön, sanft und lieblich. Mai-Lin erinnert mich sehr stark an sie. Cho ist sehr be¬hütet aufgewachsen und hat früh ge¬hei¬ra¬tet, einen jun¬gen Mann, der sie sehr liebte. Aber nach ein paar Jah¬ren durchlebten sie eine schwierige Zeit, man wür¬de das heutzutage wohl Ehekrise nen¬nen. Cho hatte das Gefühl, ihr wüchse alles über den Kopf. In dieser Si¬tu¬a¬tion hat sie einen gut¬aus¬sehen¬den, höf¬li¬chen, schein¬bar perfekten jun¬gen Mann kennengelernt – Ihrem Peter hier nicht unähnlich. Der hat ihre Lage ausgenutzt und ihr völlig den Kopf ver¬dreht, so dass sie sei¬net¬wegen ihren Mann und ihre Kinder ver¬lassen hat, kaum einen Monat nachdem sie ihn zum ers¬ten Mal ge¬trof¬fen hatte. Doch die¬ser Schuft war ein Hochstapler und wollte auch noch dass meine Tochter ihm bei seinen Be¬trü¬ge¬reien hilft. Als sie sich wei¬ger¬te, hat er sie ein¬fach sitzen lassen. Und Cho, sie... sie hat... die Schan¬de nicht ertragen und sich..." er stock¬te, begrub das Gesicht in den Händen, "...das Leben genommen." Li-Yu war entsetzt. Nun verstand sie, warum ihr Nachbar so übertrieben misstrauisch reagierte. Sie saß schwei¬gend neben ihm, wartete bis er sich wieder ge¬fan¬gen hatte. Erst als er sich wieder ihr zuwandte, sag¬te sie sanft: "Das tut mir so leid. Jetzt verstehe ich, wa¬rum Sie vor¬sich¬tig sein wollen und sich Peter ge¬gen¬über so ablehnend verhalten. Sie haben Angst davor, dass Mai-Lin und ihrer Familie ein Leid zugefügt wird, und Sie wollen sie beschützen." "Ja." Deng nickte. Li-Yu fuhr fort: "Das ehrt Sie. Aber es ist Peter gegenüber ungerecht, das hat er nicht ver¬dient. Glau¬ben Sie mir, er ist kein Schwindler, sondern ein guter und ehrlicher Mensch." "Kennen Sie ihn wirklich so gut, dass Sie das sicher sagen können?", fragte Deng, keineswegs überzeugt. "Inzwischen ja." Li-Yus Stimme klang absolut sicher. "Bevor Peter Shaolinpriester wurde, kannte ich ihn nur flüch¬tig. Viele seiner Vorfahren waren Shaolin gewesen, auch sein Vater Kwai Chang, aber Peter arbeitete als Polizist. Ehrlich gesagt mochte ihn nicht sehr, denn ich fand ihn ziemlich unbeherrscht. Er war unge¬dul¬dig, auf-brau¬send und leichtsinnig. Deshalb hat es mich ziemlich erstaunt dass er schließlich doch eine Shao¬lin¬ausbildung machte, und noch viel mehr dass von allen Kandidaten ausgerechnet Peter dazu auserwählt wor¬den war, Priester zu werden. So wie mir ging es vielen in Chinatown, etliche Leute standen ihm anfangs ab¬leh¬nend gegenüber. Inzwischen genießt Peter hohes Ansehen in der Gemeinde, aber das musste er sich sehr hart erarbeiten. Als der Ehrwürdige Lo Si ihn in unser Haus mitgebracht hat, damit er ihm bei der Pflege mei¬nes Mannes half, hat¬ten wir anfangs große Bedenken. Wir ha¬ben uns nur aus Rücksicht auf Lo Si darauf ein¬ge¬las¬sen. Aber wir ha¬ben es nicht bereut. Es ist als wäre Peter mit der Annahme der Brandmale charakterlich gereift, hät¬te sei¬ne frühere Ungeduld und seinen Leichtsinn hinter sich gelassen. Wenn Sie miterlebt hätten, wie auf¬opfernd er meinen Mann gepflegt hat und wie sehr er nach seinem Tod um ihn getrauert hat, würden Sie nicht mehr an ihm zweifeln." Lange Zeit herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann sagte Deng Sung leise: "Sie haben Recht. Mein ei¬ge¬nes Leid hat mich un¬ge¬recht werden lassen. Ich sollte mich nicht von meinen Ängsten leiten lassen. Es tut mir leid. Ich werde dem jungen Mann eine Chance geben, und ich werde ihn um Verzeihung bitten für mein bis-heriges Verhalten."
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