1. Teil
Autor: Ratzenlady
 

Caine war seit nunmehr elf Monaten fort. Peter saß in der Wohnung seines Vaters und meditierte darüber, inwieweit seine Fähigkeiten sich seitdem verbessert hatten. Er hatte vieles gelernt, beherrschte jetzt manche Tricks im Handumdrehen, wie das Löschen der Kerzen einer kurzen Handbewegung, das Öffnen verschlossener Türen oder das Erhitzen von Gegenständen.

Der Alte hatte ihm das alles beigebracht, und nicht ohne schlechtes Gewissen musste sich Peter eingestehen, dass er bei Lo Si schneller und besser begriff als bei seinem Vater. Auch in der Kräuterkunde hatte er riesige Fortschritte gemacht, er konnte die meisten auseinanderhalten und auch Salben und Tees je nach gewünschter Wirkung mischen.

Er hatte den Platz von Caine eingenommen, auch wenn die Bewohner von Chinatown anfangs skeptisch gewesen waren, waren sie doch zu ihm gekommen. Peter war sich sicher, dass die Tatsache, dass Lo Si so große Stücke auf ihn hielt, der hauptsächliche Auslöser dafür war.

Er gab auch kleine Selbstverteidigungs- und Tai Chi-Kurse, lehrte Meditation und hatte diese auch für sich entdeckt. Er war ruhiger geworden, sein hitziges Temperament hatte sich abgeschwächt, er überlegte bevor er handelte und trug auch keine Waffe mehr.

Zu Anfang hatte er sich hilflos gefühlt ohne den kalten Stahl im Holster zu spüren, aber inzwischen hatte sich seine Sichtweise geändert: Er war ein Shaolin.

Er brauchte keine Waffe mehr, um sich zu verteidigen. Er brauchte kein Handy mehr, um zu wissen, wann und wo er gebraucht wurde. Aber trotzdem hatte er sich einigen Luxus nicht verkneifen können.

In Caines ehemaliger Wohnung stand nun ein Sofa und ein richtiges Bett, ebenso wie eine Kaffeemaschine. Auch ein Telefon hatte er installiert, um gelegentlich mit Annie oder seinen Freunden zu kommunizieren.

Er besuchte sie auch ab und an auf dem Revier, allerdings wurde ihm diese Welt zunehmend fremd. Was er damals an dem Job so liebte, stellte er nun in Frage.


Ehe er Schritte hörte, wusste Peter, dass jemand die Stufen zu ihm erklomm. Die Bewegungen waren langsam und schwerfällig.

"Caine?" fragte eine schwache Stimme im Flur. Peter war noch so tief in seiner Meditation versunken, dass er sie nicht erkannte. Sie klang ausgemergelt und schwach. Langsam erhob er sich aus seinem Schneidersitz.

Peter hörte ein Poltern im Flur, sein Besucher musste gestürzt sein. Mit federleichten, schnellen Schritten trat er in die Diele und sah einen Mann bewusstlos am Boden liegen, Peter sah nur seinen ergrauten Hinterkopf und die abgetragene Kleidung.

Er kniete sich neben den Mann und ließ seine Hände über dessen Rücken schweben. Er wollte sich erst ein Bild von der eventuellen Verletzung verschaffen, ehe er ihn bewegte. Er konnte aber nur totale Erschöpfung spüren, keine körperlichen Versehrtheiten.

Vorsichtig drehte er den Mann auf den Rücken, um ihn besser tragen zu können, als er stockte.

Er erkannte sofort Pauls Gesicht, auch wenn es ausgezehrt und alt wirkte. Und alt hatte sein Ziehvater niemals zuvor auf ihn gewirkt.

Schnell, aber dennoch mit Bedacht, trug Peter ihn in seinen Meditationsraum und legte ihn sorgfältig ab. Eilig wandte er sich dem Kräuterregal zu und nahm zielsicher ein Glas aus dem Regal.

Sicherheitshalber roch er noch einmal an den Pflanzen, bevor er einige Blätter hinausnahm und Paul unter die Zunge legte. In diesem Moment war er Lo Si für den Kräuterkundeunterricht unendlich dankbar.

Er legte Paul eine Hand auf die Stirn, die andere auf den Brustkorb. Der alte Mann war so unglaublich schwach, dass Peter beschloss, sein Chi zu stärken. Danach würde er sich um die angeschlagene Psyche kümmern müssen, die er überdeutlich spürte.

Er knöpfte das verschlissene Hemd auf und legte ihm eine Hand auf die nackte Brust. Dann schloss er die Augen und ließ sein Chi fließen, bis er merkte, dass Paul stärker wurde.

Peter hatte nicht allzu viel seiner Lebensenergie abgeben müssen, um seinem zweiten Vater zu helfen, er spürte kaum Schwäche danach.

Pauls Atmung ging nun tiefer und kräftiger, er würde sich erholen. Um den angeschlagenen Geist konnte Peter sich erst kümmern, wenn Paul aufwachte und ihm von den Dämonen erzählte, die ihn verfolgten.

Erst jetzt begann Peter so richtig darüber nachzudenken, was grade passiert war. Paul war wieder da. Aber er hatte Caine aufsuchen wollen, den alten Caine.

Peter fragte sich, ob noch jemand von Pauls Rückkehr wusste? Kermit vielleicht? Oder Annie? Peter glaubte nicht daran. Es war durchaus schlüssig, dass sein einer Vater als erstes den anderen aufsuchte, um sich Hilfe zu holen, besonders wenn es ihm so schlecht ging.

Schließlich wusste auch Paul um Caines besondere Kräfte. Er wusste nur nicht, dass Peter jetzt auch eben diese Kräfte, wenn auch in abgeschwächter Form, besaß. Und trotzdem spürte Peter einen winzigen Stich bei dem Gedanken, dass Paul zuerst zu Caine und nicht zu seiner Familie gegangen war.

Peter verfiel wieder in die Gedanken, die ihm schon so manche schlaflose Nächte bereitet hatten: Alles drehte sich um seinen Vater; Er war immer da, er half, ihm traute man alles zu.

Er hatte lange in dessen Schatten gestanden. Und in gewisser Weise war er froh, dass Caine gegangen war und ihm seinen eigenen Weg überlassen hatte. Auch wenn er ihn liebte und vermisste; und er war sich sicher, dass Caine das wusste.

Paul begann, sich zu regen. Er murmelte etwas unverständliches, wand den Kopf hin und her und keuchte schwer. Peter kniete sich neben ihn und hielt sanft seine Schultern und drückte sie auf die Matte.

Am liebsten hätte er den alten Mann einfach umarmt, er war unglaublich froh, dass Paul wieder da war. Allerdings spürte er, dass nicht alles gut und schön war. Vielleicht musste Paul auch wieder gehen, er konnte es nicht sagen. Für den Moment war er einfach froh zu wissen, dass es seinem Ziehvater den Umständen nach entsprechend gut ging.

Paul schlug die Augen auf, er zappelte wild unter Peters Druck und blickte sich im Zimmer um, ohne wirklich etwas wahr zu nehmen.

"Caine?" keuchte er hastig, als wäre er in Panik.

"Schhhh", versuchte Peter ihn zu beruhigen. Erst jetzt sah Paul in sein Gesicht.

"Peter? Wo ist...?" fragte Paul, der wieder wild im Raum umher sah.

"Er ist fort", sagte Peter enttäuscht darüber, dass Paul auch jetzt noch lieber den älteren Caine vor sich gesehen hätte.

Paul versuchte sich aufzurichten, aber Peter hielt ihn zurück.

"Du brauchst Ruhe, Paul. Dein Körper ist schwach."

"Ich muss..."

"Nein", gab Peter bestimmend zurück. "Du brauchst Ruhe!"

Paul sah seinem Adoptivsohn in die Augen und erkannte, dass dieser keine Widerrede zulassen würde. Er gab sich geschlagen und hörte auf, sich gegen Peters Druck zu wehren.

Peter nahm seine Hände von den Schultern und strich Paul über die Stirn, als dieser plötzlich sein Handgelenk griff und sich die Unterarme genauer betrachtete. Fragend sah er seinen Sohn an.

"Ja, ich bin jetzt Shaolin-Priester. Den Cop habe ich an den Nagel gehängt", gab Peter auf die nicht gestellte Frage Antwort.

"Wie der Vater so der Sohn, was?" sagte Paul, aber Peter hörte deutlich den unglücklichen Unterton.

"So war es bei uns beiden doch auch", sagte Peter schulterzuckend.

Paul gab sich geschlagen, sein Sohn hatte Recht.

"Willst du mir erzählen, was passiert ist?" fragte Peter ruhig und ließ nicht erkennen, dass er bereits Pauls angeschlagene Psyche gespürt hatte.

"Nein, das ist zu gefährlich", gab Paul ihm zurück, während er sich erhob und auf die Ellenbogen stützte.

"Warum warst du dann hier?" fragte Peter und kam damit direkt auf den Punkt.

"Weil ich Caine erwartet habe. Ich hätte seine Hilfe gebraucht."

"Ich bin auch ein Shaolin, ich kann dir auch helfen!" sagte Peter jetzt etwas trotzig.

"Nein!" reagierte Paul sofort. "Zu gefährlich!"

"Und für meine Vater nicht?"

"Peter, du bist mein Sohn, ich will nicht, dass dir etwas zustößt!" sagte Paul energisch, sank dann aber geschwächt auf die Matte zurück.

Peter strich ihm erneut über die Stirn und spürte die dunklen Verwirrungen, die Pauls Geist beherrschten.

"Ich wollte dich nicht aufregen, entschuldige", sagte Peter, während er Paul liebevoll anblickte.

Paul schloss für einen Moment die Augen, dann sah er Peter wieder an: "Nein, du hast ja Recht. Aber ich kann da niemanden mit reinziehen."

Peter gab sich für den Moment geschlagen, behielt aber in seinen Hintergedanken, dass er auf jeden Fall erfahren wollte, was den labilen Zustand des sonst so starken Paul Blaisdell ausgelöst hatte.

"Weis jemand, dass du hier bist?", wechselte der junge Mann das Thema.

Paul schüttelte heftig mit dem Kopf. "Nein. Und es soll auch niemand wissen. Versprich mir, dass du es niemandem sagst, auch nicht Annie oder Kermit!"

Paul sah ihm eindringlich in die Augen. Peter nickte, auch wenn er der Meinung war, dass zumindest Annie ein Anrecht darauf hatte, es zu wissen.

In diesem Moment hörten sie ein Geräusch im Flur.

"Pete?"

Das war eindeutig Kermit. Paul sah Peter panisch an, während dieser aufsprang und versuchte, Kermit entgegen zu kommen und ihn im Flur abzuwimmeln. Aber er war zu langsam, noch ehe Peter den Flur erreichte, stand Kermit in der Tür und blickte über Peters Schulter, der jetzt vor ihm stand, auf Paul, der regungslos am Boden lag und ihn anstarrte.

"Paul?" fragte Kermit ungläubig. Dann besah er sich die Situation und fügte hinzu: "Was ist hier los? Wolltest du mich etwa zurückhalten, Peter?"

Eine gewisse Wut war deutlich im Gesicht des ehemaligen Söldners zu erkennen. Peter senkte den Kopf und gab Kermit dann den Weg in den Raum frei, jetzt hatte er schon gesehen, was er nicht sehen sollte.

Kermit machte ein paar Schritte in den Raum hinein und warf Peter dabei einen bösen Seitenblick zu, dem dieser gelassen Stand hielt. Ein schlechtes Gewissen für eine, seiner Meinung nach richtige, Handlung zu haben, gehörte auch zu den Dingen, die er sich als Shaolin nahezu gänzlich abgewöhnt hatte.

Zudem hatte er schon lange keine Angst mehr vor Kermit, seit er einige Gelegenheiten hatte, ihm in die Augen und die Seele zu schauen, wusste er, dass der harte Kerl ein unendlich weiches Herz und zudem Schuldgefühle wegen seiner Vergangenheit hatte.

"Lass den Jungen in Ruhe, Kermit! Ich wollte nicht, dass jemand weiß, dass ich hier bin", sagte Paul mürrisch.

"Schon gut, ich werd's überleben", erwiderte Peter gelassen.

Paul stützte sich wieder auf, während Kermit an sein Lager trat und sich neben ihn hockte. Dass Paul schlecht aussah, fiel dem Ex-Söldner auch ohne Shaolin-Fähigkeiten auf.

"Paul, was ist passiert?" fragte Kermit unvermittelt.

Der alte Mann schüttelte erneut den Kopf. "Ich will da niemanden mit reinziehen, Kermit. Ich kann es euch nicht erzählen", sagte er matt.

Kermit zog die Brille ab und rieb sich kurz die Augen. Dann sah er seinem Freund fest in die Augen.

"Ich bin jetzt aber hier", begann er. "Und ab sofort werde ich nicht locker lassen, bis ich weiß, was los ist."

Kermits Stimme klang fest, sowohl Paul als auch Peter wussten, dass er diese Worte genau so meinte, wie er sie sagte. Aber so schnell wollte sich Paul nicht geschlagen geben. Erneut schüttelte er den Kopf.

"Nein Kermit."

"Warum bist du dann überhaupt hier?" fragte Kermit forsch, während er sich wieder erhob.

"Er wollte zu meinem Vater", gab Peter Antwort.

Er beobachtete die Situation aufmerksam, hoffte, dass Kermit vielleicht mehr aus Paul heraus bekam als er selbst in seinem ersten Versuch. Schließlich kannten sich die beiden länger und besser.

Kermits Blick wurde besorgt. "In was bist du da reingeraten, wo du die Hilfe eines Shaolin-Priesters brauchst?" fragte er seinen langjährigen Freund. Dann warf er noch einen Seitenblick zu Peter. "Oder die eines Shambhala-Meisters", fügte er hinzu.

Paul schwieg. Er lehnte sich wieder zurück und schloss erschöpft die Augen. Peter unterdessen wandte sich seinem Kräuterregal zu und nahm aus verschiedenen Töpfen diverse Kräuter und braute daraus einen Tee.

Kermit trat an seine Seite. "Was soll das alles?" fragte er flüsternd.

"Ich hab keine Ahnung! Er ist hier aufgetaucht und zusammengebrochen. Seitdem schweigt er sich aus", antwortete Peter seinem Freund. Dann fügte er hinzu: "Aber es muss irgendwas schlimmes sein, wenn er die Hilfe meines Vaters suchte."

Peter verschwieg Kermit die Zerrissenheit, die er in Paul gesehen hatte. Der Bebrillte glaubte ohnehin nur schwer an diese mystischen Dinge, da hielt er sich lieber zurück. Außerdem wollte er Pauls Wunsch trotz allem noch so gut wie möglich respektieren.

Kermit drehte sich und lehnte sich mit dem Rücken an die Arbeitsplatte, auf der Peter gerade den Tee aufgoss. Kermit beobachtete Paul, der noch immer die Augen geschlossen hatte und sich ausruhte.

"Wie geht es ihm?" fragte Kermit leise mit einem Nicken in Pauls Richtung. Schließlich wusste er, dass Peter so was erspüren konnte.

Peter machte einen kleinen Seitenblick und wandte sich dann wieder seinen Kräutern zu. Kermit war besorgt, das wusste er, aber auf der anderen Seite war er sich nicht sicher, inwieweit er Pauls Privatsphäre damit verletzte.

"Er ist schwach", sagte er knapp. Dann drehte er sich mit einer kleinen Schale des dampfenden Tees um und ging zu Paul. Er ließ sich auf die Knie sinken, direkt neben seinen Ziehvater.

"Paul?" Er schlug die Augen auf.

"Trink das", gab ihm Peter führsorglich Anweisung.

"Was ist das?"

"Es wird dir helfen."

Paul sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an, richtete sich dann aber auf und nahm einen Schluck.

"Du wirst deinem Vater immer ähnlicher", sagte er mürrisch über die Anweisungen, die Peter ihm erteilte.

Peter gab ihm nur ein Schulterzucken zurück; schließlich hatte Paul absolut Recht.

Paul schluckte den Rest des Tees hinunter und blickte dann zu Kermit.

"Du verschwendest deine Zeit. Sobald ich wieder auf den Beinen bin, werde ich wieder verschwinden", sagte Paul zu ihm.

"Und wer soll dir dann helfen; jetzt, wo du Caine nicht angetroffen hast?" fragte Kermit ernst.

"Niemand. Dann muss ich da eben allein durch", erklärte Paul überzeugt. Kermit wollte gerade etwas erwidern, als Paul urplötzlich auf die Matte zurücksank und die Augen zuschlug. Kermit machte besorgt einen Schritt auf ihn zu.

"Keine Angst. Das war der Tee. Er wird die nächsten Stunden schlafen und sich ausruhen."

Kermit nickte verständig. Dann schüttelte der den Kopf, als sei er völlig fertig und murmelte: "Alter Dickkopf!"

"Du kennst ihn besser als ich, Kermit. Hast du denn keine Idee, was passiert sein könnte?" fragte Peter und hoffte, zumindest einen Hinweis darauf zu bekommen, warum Paul so labil war.

"Ich hab keine Ahnung, Peter. Aber es gefällt mir nicht." Kermit rieb sich erneut die Augen. Peter konnte ihm nur zustimmen, auch er hatte Bedenken.

Überraschend blickte Kermit auf die Uhr. "Ich muss zurück ins Revier. Ich versuche, so schnell wie möglich wieder zu kommen. Tu mir einen Gefallen und behalte ihn hier", sagte Kermit zum Abschied.

"Ich versuch's; aber wenn er gehen will, werde ich ihn nicht mit Waffengewalt davon abhalten", gab Peter zurück.

Kermit sah ihn grimmig an. "Er hat Recht, du wirst deinem Vater wirklich immer ähnlicher." Dann wand er sich um verließ die Wohnung.

Peter blickte auf seinen Adoptivvater, der unruhig schlief. Er war sich sicher, dass das, was Paul verfolgte, jetzt einen Weg in seine Träume gefunden hatte. Allerdings kam ihm in diesem Moment die Idee, dass diese Tatsache auch eine Möglichkeit war.

Er trat an Pauls Lager und setzte sich neben ihn. Zunächst musste er für einen kleinen Moment meditieren, um wieder zur Ruhe zu kommen und sich richtig konzentrieren zu können.

Nach einigen Minuten öffnete er wieder die Augen, rieb seine Hände aneinander und legte dann eine Hand auf Pauls Stirn, die andere auf sein Herz. Dann schloss er seine Lider und konzentrierte sich ganz auf Paul, der nun mit Schweiß überzogen unter Peter Händen hin und her zuckte.

Nahezu sofort wurde Peter in einen wilden Strudel gezogen. Er spürte Pauls Angst und Verwirrung so deutlich, als wären es seine eigenen Gefühle. Noch konnte er nichts sehen, außer verzerrten, dunklen Farben, verschiedene Grautöne, die sich langsam in ein tiefes Schwarz vermischten.

Die Stimmung war düster. Peter wurde noch immer durch den Strudel geschleudert, immer weiter in Richtung der totalen Dunkelheit. Nur wirkte es jetzt langsamer, er konnte zwischen den grauen Schleiern jetzt einzelne Fragmente aus Pauls Geist erkennen.

Gesichter rauschten an Peter vorbei, Stimmen surrten um ihn herum. Jemand schrie, Schüsse fielen. Die meisten Bilder und Töne waren so unklar, dass er sie nicht erkennen konnte. Dann aber kam plötzlich ein Bild in solch einer Schärfe und Genauigkeit, dass Peter überzeugt war, es handele sich um einen der Gedanken, der Paul so quälte.

Es war ein Mann, älter als Peter, aber jünger als Paul. Er hatte eine Waffe gehoben, doch bevor er abdrücken konnte wurde er plötzlich durch einen Schuss zurückgeworfen. Er lag auf der Erde, Peter blickte durch Pauls Augen auf ihn hinab. Der Sterbende sah ihn entsetzt und vorwurfsvoll an, dann schloss er für immer die Augen.

Ehe Peter das Gesehene irgendwie zuordnen konnte, wurden ihm die Beine weggerissen, es zog ihn wieder tiefer in den Strudel hinein. Er wirbelte wieder herum, bis sich ihn das nächste klare Bild eröffnete.

Es war ein Augenpaar. Grüne, tote Augen, die nichts als Dunkelheit und Bösartigkeit dahinter vermuten ließen. Sie gehörten einer Frau, und auch wenn Peter nicht ihr ganzes Gesicht sehen konnte, war er überzeugt, dass diese Frau schön war.

Ihre Augen hatten etwas katzenhaftes, einen leicht asiatischen Schwung, mit Eyeliner betont, und diese giftig grüne Iris. Beim Blick hinein spürte Peter eine enorme Angst, eben diese Angst, die Paul beim Blick hinein empfinden musste. Und es war da noch ein anderes Gefühl, aber das konnte Peter nicht zuordnen. Aber er glaubte, dass diese Frau von einer dunklen Macht umgeben war, einer überirdischen, bösen Kraft.

Peter musste seinen Blick mit Gewalt von diesen Augen abwenden, die Pauls Geist zu beherrschen schienen. Er schloss die Augen und brachte sich in die Realität zurück.

Erschöpft löste er seine Hände von Pauls Körper und sank neben ihm zurück. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und richtete sich wieder auf. Jetzt hatte er eine ungefähre Vorstellung von den Dämonen, die Paul heimsuchten.

Die Augen der unbekannten Frau tauchten in seinem Bewusstsein auf. Die Dunkelheit, die diese Augen umgeben hatte, machte Peter Sorgen. Und wahrscheinlich spürte Peter nur einen Teil der Brutalität, welche dieser Blick auf Paul ausübte.

Der alte Mann lag nun etwas ruhiger, vielleicht hatte Peter ihm etwas abnehmen können, etwas, das nun er mit sich herumtragen würde. Der junge Shaolin stand auf und streckte sich durch. Die Reise in Pauls Gedanken hatte ihn geschwächt.

Er ging hinüber zum Balkon und ließ sich die kühle Abendluft ins Gesicht wehen, während sein Blick über Chinatown wanderte. So viele Menschen lebten hier, mit so vielen Problemen, und wann Peter immer durch die Straßen ging, spürte er Ängste und Sorgen.

Manchmal konnte er helfen, manchmal aber auch nicht. Und die Tatsache, dass er nicht alle Probleme beheben konnte, nagte an ihm.

Erst jetzt realisierte er die Bürde, die sein Vater so lange getragen hatte und die nun die seine war.

Peter dachte darüber nach, wie er Paul ansprechen konnte, ohne ihm zu offenbaren, dass er ungefragt in seine Seele eingedrungen war. Dabei kam ihm die Erinnerung, wie Annie öfter mal am Frühstückstisch erwähnt hatte, dass Paul im Schlaf sprach. Vielleicht war das ein Weg.

Er fühlte sich ungut bei dam Gedanken. Sein Vater hätte keine linken Tricks angewandt, um an die Information zu kommen. Er hätte gewartet, bis man sie ihm freiwillig mitteilte. Aber in diesem Fall war Peter zu besorgt, um so besonnen zu agieren.

Die nächtliche Dunkelheit legte sich nun über Chinatown, als Peter sich umdrehte und wieder auf Paul hinab blickte. Er würde bald aufwachen, die Wirkung des Tees sollte in der nächsten Stunde nachlassen.

Peter setzte einen Kaffee auf, weil er nicht vor hatte, diese Nacht schlafend zu verbringen. Hoffentlich redend, mit Paul, aber vielleicht auch nur über das Geschehene meditierend.

Während er auf die Kaffeemaschine starrte flogen immer wieder die Bilder durch seine Gedanken. Peter versuchte zu verstehen, was er gesehen hatte.

Vermutlich hatte Paul den Mann erschossen, aus Notwehr. Aber der Blick des Fremden schien mehr zu bedeuten, da war noch etwas, so wie der Sterbende ihn angesehen hatte.

Und diese Frau, deren Blick so übermächtig in Pauls Seele herrschte. Peter konnte nur raten, ob sie mit dem anderen Bild etwas zu tun hatte, oder ein davon unabhängiger zweiter Dämon war.

Er füllte zwei Tassen und ging zurück, in den Raum, in dem Paul schon aufrecht saß und sich das Gesicht rieb. Wortlos gab Peter ihm eine Tasse und setzte sich dann seinem Ziehvater gegenüber im Schneidersitz auf die Matte.

Paul betrachtete den Kaffee und sah dann zu Peter.

"Ist die Wirkung davon genauso durchschlagend wie von deinem Tee?", fragte er argwöhnisch. Peter konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

"Nein, der Kaffee ist koscher", sagte er lächelnd und nahm einen Schluck aus seiner eigenen Tasse. Paul tat es ihm nach.

Sie saßen eine Viertelstunde schweigend dort, ehe Peter die Stille brach.

"Paul, was quält dich so?", fragte er besorgt. Paul funkelte ihn skeptisch an.

"Woher willst du wissen, dass mich etwas quält?", hakte er nach.

"Weil ich dir beim Schlafen zugesehen habe. Du hast dich wild hin und her gewälzt und immer wieder irgendwas Unverständliches gemurmelt."

"Es ist nichts", sagte Paul kurz angebunden.

"Verdammt noch mal, ich mach mir Sorgen um dich!" schoss es aus Peter heraus, ehe darüber nachgedacht hatte. Langsam wurde er aufgrund des offenbar mangelnden Vertrauens in ihn wütend.

Paul senkte den Kopf. "Ich will dich da nicht mit rein ziehen, ebenso wenig wie Annie oder Kermit", gab Paul schuldbewusst zurück.

"Aber ich bin jetzt drin. Und du hättest dich meinem Vater anvertraut, also warum nicht auch mir?", fragte Peter, dessen Stimme jetzt einen trotzigen Unterton annahm. Er atmete mehrere Male tief durch, um wieder zur Ruhe zu kommen.

"Ich bin noch nicht so erfahren, wie mein Vater, das weiß ich, aber auch ich bin ein Shaolin. Ich kenne mich auch mit dunklen Mächten", Pauls Blick zuckte augenblicklich nach oben, "aus, ebenso wie er", sagte Peter ruhig. Er hatte Pauls Reaktion auf seine Worte bemerkt, und beabsichtigt.

Paul blickte eine Zeit lang in seine Kaffeetasse, ehe er Peter wieder ansah. Es fiel ihm schwer, sich von seinem Sohn helfen lassen zu müssen. Denn schließlich war es normalerweise an dem Vater, seinem Sohn zu helfen, und nicht umgekehrt. Auf der anderen Seite war aber weder sein eigenes noch Peters Leben als normal zu bezeichnen.

"Also gut", sagte Paul matt. Er hatte keine Kraft, sich Peter weiter zu widersetzen. Unterdessen hoffte Peter, dass Kermit sich noch einige Stunden Zeit lassen würde, ehe er wiederkam.

"Ich war in Asien. Eigentlich aus anderen Gründen, aber die tun hier nichts zur Sache. Auf einmal fand ich mich in einem Krieg zwischen mehreren Waffenschieberbanden wieder. Irgendwie war ich da rein geraten und hatte keine Möglichkeit mehr, wieder raus zu kommen."

"Und plötzlich, vor etwa zehn Wochen, begegnete ich meinem kleinem Bruder. Ja, ich habe einen Bruder. Sein Name ist Lenard, er ist mit achtzehn von zu Hause abgehauen und seit dem hatte ich nichts mehr von ihm gehört."

Paul machte eine kurze Pause.

"Wir hatten nie ein besonderes Verhältnis, daher hatte mich sein Fortgang nicht weiter berührt, ich hatte damals schon meine eigenen Probleme. Auf jeden Fall habe ich ihn dann in China wieder getroffen. Er war die rechte Hand eines dieser Bandenbosse."

"Ich habe ihn erschossen. Er hatte auf mich gezielt, ich hatte keine Wahl, er oder ich."

Peter merkte, dass Paul den Tränen nahe war. Er wirkte nun schwächer und älter als jemals zuvor.

"Naja, danach war ich natürlich im Fadenkreuz seiner Kumpanen. Und zudem habe ich dann erfahren, dass er eine Tochter hatte. Chi Sung. Eine wunderschöne Frau; und abgrundtief böse."

Peter schoss sofort durch den Kopf, dass die Augen, die er in Pauls Seele gesehen hatte, dieser Tochter, Pauls Nichte, gehören mussten.

"Sie ist nicht einfach ein schlechter Mensch. Nein, sie ist böse. Ich habe noch nie soviel Kälte und Bösartigkeit in den Augen eines Menschen gesehen. Verstehst du, was ich meine?"

Peter nickte. Er kannte das sehr gut, und im Moment hatte er auch eine Idee zu dem Beschriebenen, und zu dem Gefühl, welches er schon beim Blick in diese Augen gespürt hatte.

"Sing Wah", sagte Peter knapp. Er konnte sich sonst keine Macht vorstellen, die einen Menschen wie Paul in Angst und Schrecken versetzten konnte. Sein Adoptivvater riss die Augen auf.

"Ja, woher...?"

"Bei deiner Beschreibung bleibt kaum eine andere Möglichkeit", antwortete Peter, ehe die Frage richtig gestellt war.

Peters Sorge wuchs nun. Wenn Paul von den Sing Wah verfolgt wurde, hatte er ein ernsthaftes Problem.

"Sie verfolgt mich, verstehst du? Sie taucht einfach auf, sie quält mich mit ihrem Blick, ihrem schrillen Lachen. Sie kommt bis in meine Träume, um mich zum Wahnsinn zu treiben!" Pauls Augen nahmen einen merkwürdigen Glanz an. Der alte Mann hatte Angst, verrückt zu werden.

"Ist sie dir in die Stadt gefolgt?", fragte Peter, als wäre Pauls vorherige Aussage völlig normal gewesen. Was sie für Peter auch war.

"Ich... ich weiß nicht. Ich denke schon. Ich werde sie nicht los. Sie hat gesagt, sie wird mich umbringen. Aber vorher wird sie mich so sehr quälen, dass ich sie anflehen werde, mich zu töten."

In Pauls Augen sah Peter nun nackte Angst. Sein Ziehvater glaubte jedes Wort dieser ominösen Sing Wah. Und Peter befürchtete, dass er auch allen Grund dazu hatte. Aber zunächst war er dankbar, dass Paul sich ihm endlich anvertraut hatte.

"Ist sie allein, oder hat sie die Unterstützung der Gemeinschaft?", fragte Peter nach.

"Ich weiß es nicht, aber ich denke schon, dass sie die Unterstützung hat. So wie ich gehört habe, ist sie wohl der Schützling eines hohen Tieres bei denen." Paul strich sich übers Gesicht. Er wusste nicht mehr, was er noch machen konnte.

Peter nickte, dann stand er auf und ging im Zimmer hin und her.

"Es wird am sichersten sein, wenn du vorerst hier bleibst. Mit deinem Einverständnis würde ich gerne den Alten um Rat fragen", gab Peter den Zwischenstand seiner Überlegungen bekannt.

"Und wenn sie mich hier findet?" fragte Paul nahezu panisch.

"Dann bist du immer noch sicherer, als irgendwo auf der Straße; allein."

Paul nickte. Peter fiel noch eine weitere Frage ein.

"Was ist mit Kermit? Ich muss zugeben, ich hätte ihn lieber auf unserer Seite. Du weißt, wie er reagieren kann, wenn er verärgert wird", gab er zu bedenken.

"Ich fürchte, du hast Recht. Auch wenn ich ihn ungern da rein ziehe. Ich will weder dich noch ihn in Gefahr bringen."

"Das ist mir schon klar, aber du solltest jede Hilfe annehmen, die du kriegen kannst. Und außerdem würde er sich nicht mehr abwimmeln lassen."

Paul lächelte müde, Peter hatte absolut Recht. Beide drehten ihren Kopf, als sie Schritte auf der Treppe hörten. Peter machte drei große Schritte durch den Raum und trat in den Flur, um gegebenenfalls unerwünschte Besucher wieder loswerden zu können. Aber es war Lo Si, der um die Ecke kam, dicht gefolgt von Kermit.

 

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