"Ich glaube, da hatte noch jemand den Wunsch, dich zu besuchen, junger Shaolin", witzelte der Apotheker mit einem Blick zu Kermit. Peter stand der Mund offen. Es schien, als hätte Lo Si gespürt, dass er ihn brauchte. "Lo Si, gut das du da bist", begrüßte Peter ihn mit einer leichten Verbeugung, "wir brauchen deine Hilfe." "Wir?" "Ja, wir." Peter bat ihn mit einer Geste in den Raum, in dem Paul sich aufhielt. Lo Si trat um die Ecke und kam Paul sofort mit ausgestreckter Hand entgegen, als er ihn erblickte. "Mr. Blaisdell! Ich freue mich, sie wieder zu sehen", begrüßte er ihn lächelnd. Irritiert schüttelte Paul die Hand des alten Chinesen, auch wenn Peter genau wusste, dass die Geste des Alten noch einen anderen Hintergrund hatte. Kermit blieb in der Tür stehen und besah sich die Szenerie. Er beobachtete aufmerksam die drei Personen und wartete darauf, was als nächstes passierte. Schließlich hatte er keine Ahnung, ob Peter inzwischen wusste, was passiert war, auch wenn es ganz danach aussah. "Lo Si, warum bist du eigentlich gekommen? Nicht, dass ich dich nicht gerne meinen Gast nenne, aber ein bisschen merkwürdig ist das schon", sagte Peter mit hochgezogener Augenbraue. "Nun, ich dachte einfach, ich komme mal auf eine Tasse Tee vorbei", schmunzelte der Alte. Peter schüttelte lachend den Kopf, dieser Mann konnte ihn immer wieder aufs Neue überraschen. "Du sagtest, ihr braucht meine Hilfe?" griff Lo Si auf das von Peter angeschnittene Thema zurück und blickte dabei zu Paul. Peter nickte und schaute dann noch einmal zu seinem Pflegevater, um sich über dessen Einverständnis zu vergewissern. "Paul wird von den Sing Wah verfolgt", gab Peter eine knappe Situationsbeschreibung. Kermit richtete sich auf und hörte genauer hin, auch Lo Si hatte den Kopf aufmerksam gehoben. Kermit versuchte sich an die wenigen Begebenheiten zu erinnern, in denen er mit dieser Gruppe konfrontiert wurde. Es war immer um Caine oder Peter gegangen, diese Vereinigung gehörte auch zu den mysteriösen Dingen im Leben der Beiden, die er nie wirklich verstanden hatte, vielleicht auch nie hatte verstehen wollen. Es waren dunkle Gestalten, die aus dem Nichts auftauchten und angriffen. Gestalten, die mehr als die irdischen Mittel zur Verfügung hatten. Jedenfalls war ihm das immer so vorgekommen. Und jetzt war Paul offensichtlich in eine deren Machenschaften hineingeraten. "Wie ist es dazu gekommen?" fragte Lo Si. Paul blickte zu Peter und bat ihn mit seinem Blick, die Geschichte zu erzählen. Peter setzte an. "Es geht um Rache. Paul hat in Notwehr einen Mann erschossen, dessen Tochter eine Sing Wah ist. Und jetzt sinnt sie auf Vergeltung und verfolgt ihn." Peter warf einen unauffälligen Blick zu dem Apotheker, um sicher zu gehen, dass er Pauls Angst beim Händedruck gespürt hatte und wusste, wie es in seinem Ziehvater aussah. Lo Si nickte. "Ich verstehe", gab er nachdenklich zur Antwort. "Ich aber nicht!" sagte Kermit, der jetzt zwei Schritte in den Raum gekommen war. Der ehemalige Söldner blickte die anderen an, sein Gesichtsausdruck wirkte verbissen. Er schaute Paul direkt in die Augen. "Die Geschichte ist doch so löchrig wie ein Schweizer Käse. Entweder ist sie frei erfunden, oder es fehlt die Hälfte", sagte er energisch. Peter setzte zu einem Konter an, aber bevor er auch nur einen Ton herausbrachte, hielt Kermit die flache Hand in seine Richtung und bedeutete ihm damit, zu schweigen. Seinen Blick hatte er nicht von Paul abgewendet. Paul seufzte. Er konnte seinem langjährigen Freund einfach nichts vormachen. "Die Geschichte ist soweit wahr, aber du hast Recht, es fehlt was", gab er zu und stand zum ersten Mal heute richtig auf. Er taumelte für einen kleinen Moment, stand dann aber sicher auf seinen Beinen und begann, durch den Raum zu tigern. "Der Mann, den ich getötet habe, war mein Bruder." "Lenard, nicht wahr?" fragte Kermit dazwischen. Paul nickte. "Er wollte auf mich schießen. Aber ich wahr schneller und so...", er machte eine vielsagende Pause, "und jetzt werde ich von meiner Nichte gejagt und gequält." "Gequält?", hakte sein alter Freund sofort nach. Paul blickte hilfesuchend zu Peter, aber Kermit fixierte noch immer ihn. "Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll", gestand Paul den Grund seiner Reaktion. Jetzt bezog der Mann mit der Brille seinen ehemaligen Partner mit ein. "Pete?" "Sie ist eine Sing Wah. Sie hat Fähigkeiten, die besonders du dir wohl kaum vorstellen magst. So ähnlich wie wir Shaolin, nur böse. Sie dringt in Pauls Geist ein und greift sein Chi an. Es gibt kaum etwas schmerzhafteres und schlimmeres als solch eine Vergewaltigung der Seele!" Peter wurde immer zorniger, während er die Worte sagte. Die Tatsache, dass er sie so deutlich hatte aussprechen müssen, schmerzte ihn um Pauls Willen. Der hatte voller Scham den Kopf gesenkt. Kermit blickte zu seinem ehemaligen Captain rüber, es tat ihm Leid, dass er es so genau hatte wissen wollen. Und auch wenn er es sich nicht direkt vorstellen konnte, so glaubte er jedes Wort, das Peter sagte. Schließlich schmerzte es ihn selbst schon genug, wenn er nur glaubte, dass jemand seine Gedanken lesen konnte, so wie er es manchmal von seinem Shaolin-Freund vermutete. Unterdessen kam Peter eine Idee. Er wandte sich an Paul. "Du hast gesagt, dass deine Nichte der Schützling eines hohen Tieres sei und deshalb die Sing Wah hinter ihrem Vorhaben stünde." "Ja. Sie hatte bei unserer ersten Begegnung, als sie erzählte, was sie alles mit mir tun wird, so etwas gesagt. Aber ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Wortlaut", antwortete Paul auf die indirekte Frage. "Vielleicht musst du das auch nicht. Ich habe da eine Idee... Lo Si, würdest du hier bei Paul bleiben?" sagte Peter, plötzlich in hektischer Aufbruchstimmung. "Selbstverständlich", bejahte der alte Apotheker Peters Bitte. Kermit blickte kurz zwischen dem Alten und Peter hin und her. "Ich begleite dich", rief er Peter hinterher, der schon im Flur war. * * * Peter eilte schon fast die Straßen durch Chinatown entlang, aber Kermit konnte mit ihm mit halten. "Sag mal, wohin willst du eigentlich?" keuchte er hinter Peter her. "Genau hierhin!" sagte der junge Shaolin und blieb abrupt stehen. Kermit blickte das Haus empor, dann runzelte er die Stirn. "Bon Bon Hi? Ich hatte eigentlich eine nur halb so lebensmüde Idee erwartet", tat er seinen Unmut kund. Peter aber trat entschlossen auf die Tür zu. "Ich glaube, es ist besser, wenn du hier wartest", sagte Peter, als er merkte, dass Kermit direkt hinter ihm war. "Und dich allein da rein gehen lasse? Jetzt spinnst du aber völlig!" widersetzte sich Kermit. "Sie werden mir nichts tun. Aber du hast eine, naja, sagen wir 'aggressive Ausstrahlung'. Ich bin gleich wieder da. Unbeschadet und vielleicht sogar ein wenig schlauer", begründete Peter sein Vorhaben. Kermit nahm sich eine Sekunde, um darüber nachzudenken, die Sache schmeckte ihm nicht. "Wenn du in fünfzehn Minuten nicht wieder da bist, komme ich rein!" gab er sich geschlagen und sogleich verschwand Peter im Inneren des Hauses. Peter wusste, dass er von vielen Augen beobachtet wurde, aus dem Dunkel heraus, aber man ließ ihn unbehelligt bis zu Bon Bon Hi vordringen. Auch die bösen Jungs wussten, dass ein Shaolin nicht von sich aus angriff. Der bullige Chinese saß an einer reich gedeckten Tafel, hinter ihm standen zwei muskulöse Männer so bewegungslos, dass man sie auch für Statuen hätte halten können. Peter verbeugte sich zur Begrüßung. Bon Bon Hi setzte ein falsches Lächeln auf. "Welch Glanz in meinem Heim. Ich freue mich, einen Shaolin meinen Gast nennen zu dürfen", sagte er aalglatt. Peter verbeugte sich wieder für diese höfliche Bemerkung. Er wusste, dass der örtliche Sing Wah-Vertreter keinen Krieg mit den Shaolin gebrauchen konnte; das beeinträchtigte nur seine Geschäfte. "Was kann ich für sie tun, Caine?" "Oh, ich hörte, sie haben Besuch. Da wollte ich mich persönlich vorstellen", sagte Peter ausweichend und wartete auf die Reaktion seines Gegenübers. Der Chinese wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und sah Peter dann mit zusammengezogenen Augenbrauen an. "Nun ja, bei so hohem Besuch dachte ich, dass sie sich bestimmt ins Zeug legen, um ihrem Gast den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten", stichelte Peter weiter. Bon Bon Hi letzte sein Lächeln wieder auf. "Nun ja, ich weiß leider nicht, wovon du sprichst, Shaolin", antwortete er genauso ausweichend. Er glaubte nicht, dass Peter wusste, was er vorgab zu wissen. "Also wurde Chi Sung nicht von ihnen empfangen?" rückte er ein wenig mehr heraus, "das wäre doch auch für sie eine willkommene Gelegenheit, sich bei ihren Oberhäuptern ins rechte Licht zu rücken, oder etwa nicht?" Bon Bon Hi sah ihn argwöhnisch an, er konnte sich nicht vorstellen, woher der Shaolin davon wusste. "Nun, zugegeben. Aber was interessiert es dich, ob ich bei Sako Tain einen Stein im Brett habe oder eben nicht, elender Shaolin?" gab der Sing Wah Führer unbemerkt die Information preis, die Peter haben wollte. "Ich wollte nur wissen, ob ich mich auf einen Angriff einstellen sollte?" sagte Peter, als wäre es ihm wirklich darum gegangen. "Ich kann mir vorstellen, dass ein noch so unerfahrener Shaolin-Priester Angst vor einer Muse hat. Aber selbst wenn ich ihre Pläne kennen würde, würde ich sie bestimmt nicht in die feindlichen Reihen tragen!" sagte Bon Bon Hi und wandte sich wieder seinem Essen zu. Das Gespräch war damit beendet. Peter verließ ebenso unbehelligt, wenn auch scharf beobachtet, wie er gekommen war, das Gebäude Kermit trat nervös auf der Stelle und schaute auf seine Uhr, als Peter aus der Tür kam. "Da hast du aber Glück gehabt, gleich wäre ich rein gekommen!" zischte Kermit ihn an. "Ganz ruhig, Partner", sagte Peter mit einem Grinsen im Gesicht. "Hast du was?" fragte Kermit erwartungsvoll. "Oh Yeah", gab er grinsend zurück, auch wenn Kermit diese Adaption zu sich selbst nur mäßig witzig fand. * * * Peter hatte auf dem Weg zurück seinem ehemaligen Kollegen nicht verraten, was er erfahren hatte. Eingeschnappt stapfte Kermit jetzt neben seinem Freund her zu dessen Wohnung. Leichtfüßig sprang Peter die Stufen hoch, immer zwei auf einmal nehmend, bis er plötzlich stoppte und Kermit fast in seinen Rücken stolperte. Dann spürte auch der seine Instinkte anspringen. Lautlos schlichen die Beiden durch die Tür und den Flur entlang. Sie hörten ein lautes Rumpeln aus dem Raum, in dem sie Paul und Lo Si zurückgelassen hatten, dann die schmerzerfüllten Schreie von Paul. Peter deutete Kermit an, bloß ruhig zu bleiben, und so pirschten sie sich weiter heran. Die Schreie hatten auf beide Männer die Wirkung von glühenden Nadelstichen in ihren Herzen. Peter blickte als erstes um die Ecke. Lo Si lag vor dem Kräuterregal, er war bewusstlos. Paul kniete zusammengesunken auf der Matte und hielt sich schreiend seine Schläfen. Vor ihm, mit dem Rücken zur Tür, hatte sich eine Frau in flatterndem Gewand aufgebaut, die Arme ausgebreitet, eine unverständliche Beschwörungsformel murmelnd. Ihre langen, schwarzen Haare flatterten wild um ihren Kopf, ohne dass ein einziger Lufthauch zu spüren gewesen wäre. Peter sprang ihr mit einem Tritt in den Rücken, so dass sie nach vorne taumelte. Paul hörte augenblicklich auf zu schreien und sank erschöpft in sich zusammen. Blitzschnell hatte sich Chi Sung wieder gefangen und drehte sich zu ihren Angreifern um. Als sie Kermit sah, der die Waffe auf sie richtete, fing sie an zu lachen. Die grelle Stimme bohrte sich brennend in ihre Gehirne, aber Peter unterdrückte das Schmerzgefühl und nahm Angriffshaltung ein. Zum ersten Mal blickte er real in diese toten, grünen Augen, die ein Gefühl des Unbehagens in ihm auslösten. Mit einem tiefen Atemzug gelang es dem Shaolin, alle negativen Gefühle abzuschütteln und sich allein auf sich und die Frau zu konzentrieren. Kermit hingegen wirkte wie paralysiert, was Peter allerdings ignorierte. Sein Freund konnte ihm in diesem Kampf vermutlich ohnehin nicht helfen. Ihr Lachen verstummte und Chi Sung blickte Peter nun wütend an. "Halte dich da raus, dreckiger Shaolin!" donnerte sie Peter entgegen, der sich allerdings wenig beeindruckt davon zeigte. Der Körper der zierlichen Frau baute sich plötzlich auf, sie zog die Hände an ihrem Körper hoch und schleuderte eine Kugel aus schwarzen Blitzen in Peters Richtung. Mit einer schwungvollen Bewegung wich Peter dem Angriff aus, drehte sich um die eigene Achse und schob mit der Handfläche eine Druckwelle auf Chi Sung, die zurückgeworfen wurde und gegen die Wand knallte. Unterdessen hatte die Blitzkugel das Kräuterregal getroffen, aus dem nun einige Gläser heraus fielen und auf dem Boden zerschellten. Die Muse, wie Bon Bon Hi sie genannt hatte, sammelte nun erneut ihre Kräfte, ihre Augen funkelten voller Zorn. Aber wieder war Peter schneller, mit einer erneuten Druckwelle unterbrach er ihre Bemühungen. Ein wütender Aufschrei entwich ihrer Kehle, als sie sich auf dem Boden wiederfand und sich erneut aufrappeln musste. Peter aber hatte sich in ihre Richtung geworfen, auf dem Boden abgerollt und kam im selben Moment vor ihr zum stehen, als auch sie sich wieder völlig aufgerichtet hatte. Der Shaolin packte die Oberarme der Frau und blickte für den Bruchteil einer Sekunde durch die grünen Augen in ihre schwarze Seele, als sie sich plötzlich in dunklen Rauch auflöste und sofort danach verschwunden war. Fluchend musste Peter feststellen, dass er sie zwar bekämpft, aber nicht besiegt hatte. Erst jetzt erwachte Kermit aus seiner Erstarrung, er konnte nicht glauben, was er grade gesehen hatte. "Wo ist sie hin?" fragte er verdutzt. "Sie sammelt neue Kräfte", beantwortete Lo Si die Frage, während er sich an der Arbeitsplatte abstützte, um wieder auf die Beine zu kommen. Peter eilte zu Paul, der regungslos auf der Matte lag. Er legte seine Fingerspitzen auf dessen Schläfen und fühlte nach Pauls Chi. "Er ist schwach", murmelte Peter und wollte sich gerade daran machen, die Energien seines Ziehvaters wieder aufzuladen, als er von Lo Si zurückgezogen wurde, welcher sich sogleich selbst neben Paul kniete. "Du brauchst deine Kräfte für den Kampf gegen die Sing Wah! Ich kümmere mich um deinen Vater", sagte der Alte entschieden. Peter ließ ihn gewähren. * * * Nachdem Lo Si Pauls Chi soweit gestärkt hatte, dass er außer Gefahr war, und sich anschließend ein wenig selbst erholt, fragte er Peter nach den Ergebnissen seines Ausflugs. "Bon Bon Hi hat mir verraten, dass Chi Sung wohl eine Art Muse sein muss." Lo Si horchte sofort auf, dann fragte er eindringlich: "Von wen? Hat er auch gesagt, wessen Muse?" "Die eines gewissen Sako Tain. Ich weiß, dass ich den Namen schon mal gehört habe, aber ich kann ihn einfach nicht zuordnen", fügte Peter noch an. "Sako Tain, Bado Chai und Miko Chin", sagte der Alte ohne weiteren Kommentar. Jetzt dämmerte es Peter. "Das Triumvirat", flüsterte er ebenso nachdenklich wie besorgt. "Wer sind diese Typen? Und welches Triumvirat? Ich bin kein Shaolin, also erklärt mir bitte mal, was das alles zu bedeuten hat!" platzte Kermit dazwischen. "Neben dem Fürsten der Sing Wah, Lo Si unterbrich mich bitte, falls ich mich irre, existiert das sogenannte Triumvirat. Bestehend aus eben diesen drei Genannten. Sie sind Hexenmeister, Zauberer, und man sagt, sie seien unsterblich." Peter ließ die Worte sich erst einmal setzen. "Die Namen tauchen schon in den alten Schriften auf. Und diese mächtigen Männer beraten den Fürsten, ernennen ihn, stürzen ihn. Und sie sind dafür bekannt, dass sie sich Musen ausbilden. Wunderschöne Frauen, die sie ausbilden und in den dunklen Künsten lehren." Kermit zog merklich die Augenbrauen zusammen. Abgesehen davon, dass ihm die Sache schon wieder viel zu mystisch wurde, beunruhigte sie ihn auch. "Wenn ich mich recht erinnere, diente das im Ursprung dazu, eine würdige Frau für den Fürsten auszubilden, mit der Zeit ist es aber einfach zu einem Brauch verkommen. Die Fürsten nehmen sich, wen sie wollen, das Triumvirat bildet aber trotzdem weiter aus." Peter zuckte mit den Schultern. "Man sagt, diese Frauen sind die mächtigsten und gefährlichsten Geschöpfe der Sing Wah, natürlich neben dem Fürsten und dem Triumvirat. Ihre Seelen sind so schwarz wie eine Neumondnacht." Lo Si nickte anerkennend: "Besser hätte ich es nicht beschreiben können." "Aber wenn sie so mächtig ist", warf Kermit irritiert ein, "warum konntest du sie dann so einfach vertreiben?" Peter hob ahnungslos die Schultern und reichte die Frage durch Blickkontakt an Lo Si weiter. "Ich nehme an, dass du sie einfach überrascht hast. Sie war so sehr im Siegesrausch versunken, dass sie dein Kommen nicht bemerkt hat", gab er zur Antwort. Peter und Kermit nickten. Plötzlich regte sich Paul wieder, er wachte auf. "Wie geht es dir?" fragte Peter, der sogleich zu ihm geeilt war und sich neben ihn gesetzt hatte. Prüfend hielt er seine Hand an Pauls Stirn. "Wie ausgekotzt. Und ich hab Kopfschmerzen", sagte Paul etwas müde. Peter spürte aber, dass er neben den Kleinigkeiten, die er aussprach, eine große Narbe von dem Angriff davongetragen hatte. Paul sah Peter direkt an. "Was zur Hölle hat sie mit mir gemacht?" "Sie ist in deinen Geist eingedrungen, um dir möglichst große Schmerzen zuzufügen und in dir den Wunsch zu sterben zu wecken. Wenn wir nicht rechtzeitig wiedergekommen wären, dann...", Peter beendete den Satz nicht. Paul nickte nur ansatzweise. "Und was hast du rausgefunden?" fragte er. Peter erklärte es Paul, wie er es eben Kermit erklärt hatte, und er sah, wie die Angst in den Augen seines Pflegevaters wuchs. Gerade jetzt wirkte Paul auf ihn wie ein nervliches Wrack, verstört und ausgelaugt. Peter tat der Anblick im Herzen weh. Mit einer merkwürdigen Entschlossenheit stand Paul plötzlich auf. "Wenn sie so mächtig ist, wie du sagst, wäre es vielleicht besser, wenn ich gehe. Dann kann mich nichts mehr retten. Aber ich kann euch vielleicht noch retten", sagte er mit fester Stimme und wandte sich zum Gehen. Kermit aber stellte sich ihm in den Weg. "Das wäre dein Tod!" widersprach er. "Ich weiß", sagte Paul und legte Kermit die Hand freundschaftlich auf die Schulter, "aber wenn ich euch damit raus halten kann, dann ist es das auf jeden Fall wert!" "Paul, bitte, wir können sie besiegen", sagte Peter, der noch immer dort stand, wo Paul eben noch gelegen hatte. "Und wie?" fragte er, ohne sich umzudrehen. Hilfesuchend blickte Peter zu Lo Si, der aber auch nur mit den Schultern zuckte. "Ich weiß es nicht", flüsterte Peter resignierend. "Dann ist es besser so!" gab Paul bestimmt, wenn auch traurig, zurück und drückte sich an Kermit vorbei. Der wollte ihm nachgehen, aber Peter rief ihn zurück. "Sein Entschluss steht fest, da können wir nichts machen. Wir können höchstens weiter versuchen, ihn zu retten, indem wir Chi Sung ausschalten." Kermit nickte zustimmend, auch wenn es ihm absolut nicht gefiel, seinen alten Freund alleine auf die Straße zu lassen, verfolgt und mit dem Tode bedroht. * * * Chi Sung lief aufgebracht auf und ab. Plötzlich trat ein schlanker, hochgewachsener Mann zu ihr, mit einem Kapuzenmantel bekleidet, dessen schwarze Augen darunter hervorstachen. Chi Sung senkte ihren Blick, um dem Mann ihre Untertänigkeit zu demonstrieren. "Du hast versagt!" donnerte er. Zornig hob sie ihren Blick. "Es war nicht meine Schuld…" Sako Tain schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Seine Augen funkelten wütend. "Wenn eine Muse versagt, dann ist es ihre Schuld! Ich habe dich nicht ausgebildet, damit du dein Ziel verfehlst!" Chi Sung senkte wieder ihr Haupt. "Verzeiht, Meister", flüsterte sie unterwürfig, "der Shaolin hat mich überrascht." "Ja, genau das hat er getan. Wozu habe ich deine Sinne erweitert, wenn du nicht einmal die Anwesenheit eines kleinen Shaolin spürst? Er trägt noch kein Jahr die Male, und meine Muse lässt sich von ihm überrumpelt!" polterte er weiter. "Verzeiht, mein Herr. Ich werde meinen Fehler wieder gut machen." "Ich habe dir meine Unterstützung zugesagt. Solltest du aber ein weiteres Mal fehlschlagen, dann ist dein Rachefeldzug beendet!" zürnte Sako Tain und verließ sie dann. Kaum dass er weg war, wurde Chi Sungs
Blick wieder finster. Sie war wütend über seine Reaktion, auf
der anderen Seite sah sie aber auch, dass er Recht hatte, schließlich
hatte sie sich von dem kleinen Shaolin tatsächlich überrumpeln
lassen. "Sie wird sich an dir rächen wollen", sagte Lo Si plötzlich und holte Peter damit aus seinen Gedanken zurück. Er hatte am Balkon gestanden und über die Stadt geblickt, in der Hoffnung, dass Paul irgendwo dort ein sicheres Versteck finden würde; auch wenn er wusste, dass er sich damit selbst belog. Nirgends war man sicher vor den Sing Wah. Kermit hatte an der Wand gelehnt und ebenfalls vor sich hin gestarrt, auch er hob jetzt den Blick. "Und was kann ich dagegen tun? Ich bin nicht stark genug für einen Kampf gegen sie", sagte Peter. Auch er wirkte jetzt resignierend. "Du kannst dich wehren!" sagte Lo Si, der genau spürte, dass Peter innerlich bereits aufgab. "Mir fehlt die Kraft dazu!" entgegnete Peter laut. Er sammelte sich aber sofort wieder und entschuldigte sich bei Lo Si. Kermit rappelte sich auf einmal auf. "Ich wird mich noch mal am Computer versuchen, vielleicht finde ich was raus", sagte er und wollte gehen, wurde aber von Peter unterbrochen. "Was willst du denn finden? Wir reden hier von der Sing Wah!" "Verdammt noch mal Peter! Lass mir doch wenigstens etwas Hoffnung! Ich kann nicht einfach hier sitzen und darauf warten, dass man Pauls Leiche findet!" schrie Kermit und verließ die beiden Shaolin-Priester. Peter ließ den Kopf hängen. "Gibt es noch Hoffnung?" fragte er den Alten. "Es gibt immer Hoffnung. Das Licht wird die Finsternis überdauern." "Du redest wie mein Vater. Ich wünschte, er wäre hier. Er könnte sie besiegen", sagte Peter leise. "Auch du kannst sie besiegen", gab ihm Lo Si zurück. Peter sah ihn fragend an. "Nimm meine Kraft." "Ich soll was?" fragte Peter irritiert. "Wir können uns verbinden, du kannst meine Kräfte in dich aufnehmen", erläuterte er dem jungen Shaolin seine Idee. "Und was ist mit dir?" fragte Peter. "Ich falle in eine Art Trance-Zustand. Aber solange du die Verbindung innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder rückgängig machst, passiert nichts." "Und wenn ich das nicht tue? Oder es nicht kann? Oder getötet werde?" fragte Peter besorgt. "Dann ist es unser beider Ende. Denn auch dein Körper kann die übergroße Kraft nur begrenzt aushalten." "Overload", flüsterte Peter. "So kann man es auch nennen", sagte Lo Si und reichte Peter seine Hände, der sich allerdings abwandte. "Ich kann das nicht Lo Si. Ich weiß ja nicht mal, wann sie angreifen wird", versuchte er sich gegen den Vorschlag zu wehren. "Sie wird bald angreifen. Sako Tain wird sie tadeln und sie unter Druck setzen. Die Zeit wird reichen", sagte der Alte und trat zu Peter, der ihn jetzt direkt ansah. "Wenn deine Kraft ausreicht, warum kannst du dann nicht gegen sie antreten?" fragte Peter, allerdings nicht, um die Verantwortung abzuwälzen, sondern weil er es einfach nicht verstand. "Weil in dir noch eine weitere Waffe liegt: Die Liebe zu deinem Pflegevater! Sie wird dir die Stärke geben, die du brauchst." Peter sah Lo Si lange in die Augen, dann schließlich nickte er zustimmend. "Wenn das der einzige Weg ist, dann will ich ihn gehen", sagte Peter abschließend. Mit einer geschwungenen Handbewegung entzündete er die Kerzen rund um die Matte und setzte sich. Lo Si tat es ihm nach und platzierte sich gegenüber. Die beiden Männer reichten sich die Hände und schlossen ihre Augen. "Unsere Seelen müssen verschmelzen. Konzentriere dich, Peter", beschwor der Alte den jungen Mann. Es dauerte nicht lange und ihre beiden Körper leuchteten hell auf, Peters Kopf wurde zurückgerissen, als ihn die Kraft des Apothekers traf. Lo Si sank leblos zurück, als Peter die Augen öffnete. Er fühlte sich merkwürdig rein und klar, seine Gedanken waren so scharf wie Rasierklingen, sein Verstand arbeitete mit doppelter Geschwindigkeit. Jetzt erschien es ihm völlig dämlich, die Idee vorher in Frage gestellt zu haben. Er hatte sich noch nie so gut, so richtig, gefühlt. Peter sah auf seine Uhr, es war genau Mitternacht, und er hatte vierundzwanzig Stunden Zeit, um Chi Sung zu besiegen, Paul zu retten, und Lo Si sein Chi wiederzugeben. Wenn er das nicht tun würde, hätte er das Leben dieser beiden Männer und vermutlich auch sein eigenes verwirkt.
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