Teil 2
Autor: Ratzenlady
 

Peter parkte den Stealth dort, wo er in den letzten drei Jahren so oft den Kombi abgestellt hatte. Noch immer thronte dieser Zeitraum so deutlich und real in seinem Geist, dass er für ihn unmöglich ein Traum gewesen sein konnte. Den ganzen Weg zur Wohnung seines Vaters hatte er versucht, darüber nachzudenken, war aber zu keinem Schluss gekommen, welche Gegenwart real war.

Der junge Mann stieg aus und blickte an dem alten Backsteingebäude im Herzen Chinatowns empor. Hier hatte er vor zwei Jahren seinem Vater 'Lebe Wohl' gesagt, war eingezogen und hatte es für vier Monate wieder verlassen, um anschließend mit Cat zurück zu kommen und den alten Mauern neues Leben einzuhauchen. Die Erinnerung an seine Verlobte versetzte ihm einen Stich. Sie gehörte nicht zu dieser Welt, in der er am Morgen erwacht war, war nicht Teil dieses Lebens, in dem er noch immer Cop war und seinen Bestimmung noch nicht gefunden hatte.

Als er die ersten Schritte auf die Feuertreppe zumachte, bemerkte er das mulmige Gefühl in seinem Magen. Noch immer war er überzeugt, dass seine aktuelle Situation ein Trugbild war, eine Erinnerung an vergangene Zeiten, ein Abwandern seiner Seele in die Vergangenheit. Und wenn es wirklich so war und er dies nur träumte, so konnte ihm sein Unterbewusstsein unzählige Streiche spielen, wenn er den Loft betrat. Die Leiche seines Vaters tauchte wieder vor seinem inneren Auge auf, dieses Bild voller Verzweiflung, Trauer und Schmerz, das sich wie ein Negativ in sein Gedächtnis gebrannt hatte.

Das Kribbeln in seinem Bauch wurde schon auf den ersten Stufen unerträglich, ähnlich wie damals, als er den Krankenhausflur entlang gegangen war, voller Hoffnung und gleichzeitiger Panik davor, ob er sich nicht vielleicht doch geirrt hatte, doch wieder allein sein würde.

Auf dem Plateau der ersten Etage hielt er inne und schaute wieder nach oben, seine Hände zitterten. Was, wenn sein Traum ihm wieder nur die Erscheinung von Caines Leiche zeigte? Diesen Schmerz könnte er nicht verkraften, nicht noch einmal. Waren aber die letzten drei Jahre nur ein Traum oder eine Vision gewesen und befand er sich jetzt in der Realität, würde sein Vater am Leben sein. Er würde dort stehen, würde seinen Sohn ansehen und mit ihm sprechen.

Das Zittern verstärkte sich. Unsicher wie ein Kleinkind bei seinen ersten Gehversuchen erklomm er die zweite Etage und blieb wieder stehen. Sein Magen schlug Kapriolen, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er versuchte kontrolliert zu atmen und zur Ruhe zu kommen, aber diese Fähigkeit schien zusammen mit seinen Shaolin-Malen verschwunden zu sein.

Nervös und zittrig stieg er die letzten Stufen hoch, Hoffnung und Angst bekämpften sich in seinem Inneren. Die Tür des Lofts stand offen, ein vertrauter Duft von Kerzenwachs und Kräutern kam ihm daraus entgegen und trieb Freudentränen in seine Augen. Unsicher trat er in den Flur, wagte nicht, nach seinem Vater zu rufen.

*Bitte, lass ihn hier sein. Bitte lass ihn am Leben sein*, betete er in Gedanken, während er dem Türdurchbruch immer näher kam. Der junge Mann schloss die Augen, gefangen in seinen kontroversen Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten. Dann endlich öffnete er seine Lider wieder und machte den entscheidenden Schritt in den Türrahmen.


Sein Herz setzte einen Schlag aus, Tränen bildeten sich in seinen Augen. Der junge Mann öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber seine Stimmbänder verweigerten ihre Arbeit. Erstarrt vor Glück und Liebe blickte er durch den Raum zu seinem Vater, der in alter Manier an seiner Arbeitsplatte stand und Kräuter mit dem Mörser bearbeitete. Nach einem Moment drehte sich der Shaolin-Priester um und sah ihn besorgt an.

"Peter?", fragte er vorsichtig und sah seinen Sohn mit schräg gelegtem Kopf an. Der aber war nicht in der Lage zu sprechen, seine Gefühle übermannten ihn, er konnte nur da stehen und Freudentränen über seine Wangen laufen lassen. Caine kam auf ihn zu.

"Alles in Ordnung, mein Sohn?", fragte Caine und musterte Peter genau. Aber noch immer reagierte er nicht darauf. Dann plötzlich machte der junge Mann einen Schritt auf seinen Vater zu und zog ihn fest in seine Arme. Überrumpelt stand Caine für einen Moment da, dann legte auch er die Arme um den Rücken seines Sohnes und erwiderte die Umarmung.

Peter hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. All die Trauer der letzten Jahre brachen stumm aus ihm heraus, sein Körper schüttelte sich immer wieder durch die Schluchzer, die seiner Kehle entwichen. Tief gruben sich seine Hände in das Hemd seines Vaters, als wollten sie es nie wieder hergeben. Am liebsten hätte er die Zeit angehalten und diesem Moment für immer erlebt, sich nie wieder von seinem Vater gelöst. Caine lebte, und Peter wollte in diesem Moment alles dafür geben, dass sich der Zustand nicht änderte.

Nach einer Weile schob Caine seinen Sohn sanft mit seinen Händen an den Schultern von sich, um ihn ansehen zu können. Noch immer hatte er kein Wort gesprochen.

"Was ist passiert?", fragte er ruhig. Peter starrte ihn mit verheulten Augen an, dann plötzlich lächelte er und wischte sich die Tränen weg.

"Ich dachte…", setzte er zu einer Antwort an, unterbrach sich dann aber selbst. Wollte er seinem Vater wirklich davon erzählen, wie verwirrt er war und was sich in seinem Verstand zutrug? Zu groß war die Angst davor, dass Caine ihm sagte, dass es tatsächlich nur ein Traum war, dass er wieder aufwachen und ohne Vater sein würde.

"Ich hatte einen Alptraum heute Nacht", gab er seinem Vater als Antwort.

Caine musterte ihn skeptisch. "Einen Alptraum? Worüber?", hakte er nach.

Peter sah ihn einen Moment stumm an, sog das Bild seines lebendigen Vaters tief ein.

"Ich habe geträumt, du wärst gestorben", sagte er und lächelte, "aber wie ich sehe, war das nur ein böser Traum."

"Woran bin ich denn gestorben?"

"Paps, bitte… können wir das nicht sein lassen. Du lebst, das ist das Wichtigste!" sagte Peter und meinte jedes Wort ernst. Er wollte seinem Vater nicht alles sagen. Auf der anderen Seite wusste er genau, dass sein Vater spüren würde, was in ihm vorging, so wie er selbst es die letzten Jahre bei anderen (*bei Cat!*) gespürt hatte.

"Es interessiert mich, was dich bewegt. Und unsere Träume…"

"…sind Wege unseres Geistes, die der Körper nicht gegangen ist", beendete Peter den angefangenen Satz. Sein Vater hatte gewonnen.

"Du bist an Gift gestorben, das du selbst zu dir genommen hast, um einen anderen Menschen zu retten", sagte der junge Mann unwillig und wollte am liebsten wieder das Thema drehen, aber Caine fragte sprach sofort weiter.

"Nun, wenn ich ein anderes Leben dadurch gerettet habe…", begann er, aber Peter drehte sich weg und ging zum Fenster. Diese abweisende Haltung bewegte den Shambala-Meister dazu, den Satz abzubrechen und einen neuen zu beginnen.

"Wie kam es dazu?", fragte er stattdessen. Er wusste, wie viel Schmerz er seinem Sohn durch die Fragen zufügte, aber es musste sein. Und Peter würde es verstehen, wenn die Zeit dafür reif war.

"Ich weiß es nicht", sagte er kleinlaut nach einem Moment des Schweigens. Seine Stimme hatte jetzt wieder einen verzweifelten und traurigen Tonfall. Caine reagierte nicht darauf und Peter sprach kurz danach weiter.

"Du bist fort gegangen, um nach Mutter zu suchen. Und dann warst du tot." Er bemühte sich, seine Stimme gleichmäßig und ruhig klingen zu lassen, aber sein Vater fühlte den inneren Schmerz, der in Peters Herz schnitt.

"Nach deiner Mutter?", fragte Caine mit hochgezogenen Augenbrauen.

Peter nickte nur, dann fuhr er sich durch die Haare und drehte sich wieder zu ihm, den Blick in dessen Augen haftend. Wollte er ihm das wirklich alles erzählen?

"Ja, du bist losgezogen um sie zu suchen, weil der Alte dir ein Foto von ihr gereicht hat. Das war wenige Tage nachdem… ist ja auch egal, es war doch nur ein Traum"; unterbrach er sich und versuchte sich einzureden, dass seine Worte wahr waren. Die Gegenwart seines Vaters, die Tatsache, dass er am Leben war, veranlassten ihn, nichts anderes mehr glauben zu wollen. Cat rutschte in seinem Bewusstsein nach hinten, alles wurde von der strahlenden Erscheinung Caines überschattet, von dem Glücksgefühl, das die Trauer der letzten Jahre wegschwemmte und, so hoffte Peter, für immer vertrieb.

"Wenige Tage wonach?", unterbrach Caine die Gedanken seines Sohnes. Peter brauchte eine Sekunde, um sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. Warum konnte sein Vater nicht locker lassen?

*Weil er es weiß*, sagte Peters innere Stimme traurig, *Weil dies ein Traum ist.*

Peter versuchte den Gedanken zu vertreiben, ehe er weiter sprach und seinem Vater Antwort gab. Kurz schloss er die Lider und atmete tief durch.

"Wenige Tage nachdem ich meiner Bestimmung gefolgt bin."

Caine hob eine Braue und sah ihn fragend an, als wüsste er nicht im Entferntesten, wovon Peter sprach.

"Deine Bestimmung?"

"Ja, meine Bestimmung! Jetzt tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche!", entfuhr es ihm plötzlich rüde und grober, als er beabsichtigt hatte. Nervös fuhr er sich durch die Haare, dann entschuldigte er sich leise bei seinem Vater. Die Zeit mit ihm war zu kostbar, um sich zu streiten.

"Ich wollte dich nicht aufregen, es tut mir leid", sagte Caine anschließend.

Peter begann, in der Wohnung auf und ab zu laufen, er war völlig aufgewühlt und wusste nicht, wie er jetzt mit der Situation umgehen sollte.

"Schon gut, Paps. Ich möchte nur nicht mehr drüber reden, ok? Der Traum war schon schlimm genug", bezog er sich auf den Teil, in dem er seinen Vater so schrecklich vermisst und schließlich nur tot wieder gesehen hatte. Cat blendete sein Unterbewusstsein aktuell völlig aus, um sich voll und ganz über das Zusammensein mit Caine freuen zu können.

Sein Vater akzeptierte mit einer ausladenden Handbewegung. Grade als er etwas sagen wollte, kamen zwei junge Leute, eine Frau und ein Mann, in die Wohnung und betraten zaghaft den Raum, in dem sich die beiden Caines aufhielten.

"Sind sie Caine?", fragte die junge Frau.

Peters Vater nickte, während er die beiden musterte. Es war deutlich erkennbar, dass sie ein Drogenproblem oder etwas in der Art hatten.

"Man sagte uns, sie könnten uns helfen", fügte der Mann jetzt unsicher hinzu. Caine nickte abermals, dann warf er einen Seitenblick zu seinem Sohn, der auch von den beiden Fremden immer wieder skeptisch und schüchtern beäugt wurde. Besonders seine Waffe am Gürtel schien ihnen Sorge zu machen.

Peter wusste den Blick seines Vaters zu deuten, aber sein Geist wehrte sich dagegen. Er wollte nicht gehen, wollte sich nicht entfernen, nicht nachdem er seinen toten Vater in die Arme hatte schließen können. Seine innere Stimme schrie, er wolle bleiben, wolle nicht gehen, aber sein Kopf nickte und sein Mund fragte, wann er denn wieder kommen könne. Caine zuckte die Schulter.

"Morgen früh, zu deiner Lektion", war seine Antwort. Peter dachte an die leere Seite in seinem Taschenkalender, die nichts weiter als die Spätschicht auf dem Revier angekündigt hatte. Aber er beschloss, nicht näher darauf einzugehen, schließlich hatte er nicht immer alles darin niedergeschrieben.

Er verabschiedete sich von seinem Vater und nickte den beiden Fremden zu, dann verließ er widerwillig die Wohnung.

*

Nachdem er den Loft verlassen hatte, begann sein Verstand wieder logisch und nicht gefühlsgesteuert zu arbeiten. Die Fragen, die er schon am Morgen gehabt hatte, keimten wieder auf und sein Geist suchte nach Lösungsansätzen.

Er war eine halbe Stunde ziellos durch die Stadt gefahren, bis er endlich darauf gekommen war, dass die Erinnerung an Cat ihm den Ansatz für seine Erforschung der Realität brachte. Sie war der Ansatz, und Kermits Reaktion auf ihren Namen würde eventuell ein Lösungsweg sein.

*

Peter fühlte sich mulmig, als er das Revier betrat. Broderick sah ihn skeptisch an, als er müde lächelnd an ihm vorbei trat, auch Skalany und Blake schauten irritiert.

"Ich dachte, du hast frei", sagte der ältere Polizist mit der großen Brille. Peter brachte ein schwaches Lachen zustande.

"Ich wollte nur kurz zu Kermit", erklärte er seine Anwesenheit.

"Hast du denn gestern Abend gut überstanden, ja?" begann Mary-Margaret ein Gespräch, das Peter gar nicht führen wollte. Nicht zu diesem Zeitpunkt.

"Jaja, ein wenig Kopfschmerzen, sonst ging's. Aber jetzt muss ich…" er machte eine Geste in die Richtung von Kermits Büro und setzte sich wieder in Bewegung.

"Detective Caine! Schön, dass sie an ihrem freien Tag hier sind, mir fehlt noch ihr Bericht!" sagte Karen Simms in bestimmendem Tonfall. Völlig perplex starrte Peter sie an, ehe er antwortete.

"Ich mache ihn morgen fertig, Ka… ptain", sagte er hastig und verschwand dann in dem Einzelbüro, dessen Tür offen gestanden hatte. Peter schloss sie hinter sich.

Kermit hatte seine Füße auf dem Schreibtisch hochgelegt und hämmerte wild auf die Tastatur ein, welche auf seinen Oberschenkeln thronte. Ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen, während er in rasender Geschwindigkeit unendliche Zahlen- und Buchstabenreihen auf den Bildschirm zauberte. Peter hob erstaunt die Brauen, als er ihn sah. Er war ihn mit langen Haaren und Vollbart gewöhnt, wodurch er rüde und unnahbar wirkte. Jetzt allerdings sah er ihn mit kurzen Stoppeln auf dem Kopf und glatt rasiertem Gesicht, dazu noch wesentlich schmaler in der Statur.

"Hi Pete", sagte der Ex-Söldner nebenher, ohne aufzusehen.

Der junge Mann stand unschlüssig im Türrahmen, dann lehnte er sich zu seinem alten Freund auf den Schreibtisch und atmete tief ein. Das war der Moment des ultimativen Tests darüber, was es mit den Erinnerungen von drei Jahren auf sich hatte, mit denen er an diesem Morgen aufgewacht war. Waren sie ein Traum, würde vermutlich nichts passieren. Waren sie eine Vision, würde er ihn zornig anspringen. Waren sie real, und er jetzt in der Vergangenheit, würde er ebenso ausrasten. Und war das hier und heute ein Traum, konnte seine Phantasie alles passieren lassen.

"Kannst du jemanden für mich durchleuchten?", fragte Peter zaghaft. Sein Magen rebellierte aufgrund der großen Verwirrung und Unsicherheit. Seine Nerven spannten sich vor Neugier, wie Kermit reagieren würde.

"Wenn das einen Moment Zeit hat. Ich kann hier nicht unterbrechen, sonst muss ich von vorne anfangen," sagte der Cop mit der Sonnenbrille, ohne sein Tippen zu unterbrechen.

"Was machst du denn da?", fragte Peter, um zum einen wie er selbst zu klingen, und zum anderen um sich selbst noch Zeit zu geben, vielleicht doch zurück zu ziehen und sein Unterfangen abzubrechen.

"Ich hacke mich in Houston ein."

"Das 'Houston wir haben ein Problem' –Houston?", fragte Peter mit hochgezogenen Augenbrauen nach.

"Ja! Genau das Houston", antwortete Kermit breit grinsend. Peter schüttelte lächelnd den Kopf, dann aber verdüsterte sich sein Blick schnell wieder.

"Also, wen soll ich überprüfen?", kam Kermit auf das eigentliche Thema zurück.

Peter atmete tief durch, seine Augen genau beobachtend auf den Freund gerichtet. "Ihr Name ist Castor Troy", sagte er und hielt die Luft an. Aber Kermit hatte sein Tippen nicht unterbrochen, nicht gezuckt, eigentlich überhaupt nicht reagiert.

"Hat sie was mit deiner Einbruchserie zu tun?", fragte Kermit mit normalem kollegialem Interesse nach.

"Ich weiß noch nicht, der Name ist in einem Gespräch gefallen, das ich zufällig gehört habe", log Peter, seine Gedanken waren schon wo anders. Kermit wandte den Blick noch immer nicht vom Bildschirm ab.

"Ich kümmere mich drum und sag dir dann Bescheid", sagte er und lehnte sich dann ein Stück vor, den Kopf im Takt seiner Finger hin und her schiebend. Peter murmelte ein leises 'Danke' und verließ das Büro mit hängenden Schultern.

Auf seinem Weg aus dem Revier und zum Stealth dachte er über Kermits Reaktion nach, beziehungsweise darüber, dass es keine gegeben hatte. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren daran, zu analysieren, welche seiner zwei Realitäten die Wahre war, die Wirklichkeit. Sein Herz sagte ihm, dass es Cat wirklich gab, dass sie einander liebten und heiraten wollten. Aber sein Geist verwarf alles, was passiert war als Illusion. Und er führte Kermits Verhalten als obersten Grund dafür an.

Am Wagen angekommen lehnte sich Peter dagegen und dachte nach. Langsam ging er alles durch, was in den drei Jahren, an die er sich erinnerte, passiert war. Und sein Geist leitete die entsprechenden Fragen daraus ab. Unbewusst strich er sich über die Unterarme.

Würde er wirklich die Shaolin-Male annehmen? Fühlte er sich wirklich dazu berufen? War es wirklich SEIN Wunsch?

Würde sein Vater tatsächlich fort gehen, wegen eines Fotos von Laura? Musste er nicht wissen und fühlen, dass sie wirklich tot ist, hatte er sie nicht am Sterbebett begleitet?

War es nicht unwahrscheinlich, dass Caine einfach so an einer Vergiftung starb? Hätte er nicht einen anderen Weg finden müssen, um die Frau zu schützen, ohne sich dabei selbst zu opfern?

Wäre er, Peter, der Mensch dazu, auf Wanderschaft zu gehen, wie einst sein Vater? Widersprach das nicht seinem Wesen?

Peter ruckte plötzlich aus seinen Überlegungen und starrte in die Luft. "Natürlich!", murmelte er leise und stieg in den Stealth, ließ den Motor an und brauste davon. Er hatte einen weiteren Weg gefunden, wie er vielleicht herausfinden konnte, wie viel Realität seine Erinnerungen an die letzten drei Jahre beinhalteten.

Auf der Fahrt durch Chinatown schalt er sich selbst dafür, nicht früher darauf gekommen zu sein. Der Gedanke an die Wanderung hatte ihn darauf gebracht, Erinnerungen an das, was er auf ihr erlebt und erfahren hatte.

Peter stellte den Wagen in einer kleinen Seitengasse ab, weil die Parkbuchten an der Hauptstraße alle belegt waren. Schnell stieg er und ging wieder zurück in das belebte Herz des Stadtteils, wo er auf dem Bürgersteig stehen blieb und an dem Haus empor sah. Im Fenster flackerte das unstete Licht von Kerzen. Er war zu Hause. In seinem Magen breitete sich wieder das vor Aufregung zerberstende Gefühl aus, als er in den Eingang trat und die Treppe zum ersten Stock erklomm.

Er verharrte einen Moment vor der Tür, ehe er seine Fingerknöchel leise gegen das Holz schlug. Nervös wartete er darauf, dass Lo Si ihn herein bat, was nach wenigen Sekunden auch geschah.

"Hallo Peter", sagte der alte Mann freundlich und bot ihm einen Platz auf seinem Sofa und eine Schale Tee an. Dankbar nahm Peter an und war froh darüber, damit noch ein wenig Zeit überbrücken zu können, ehe er seinen Freund angehen würde. Denn darauf würde es zwangsläufig hinauslaufen; dass er ihn der Lüge bezichtigte und die Wahrheit einforderte. Und sollte er tatsächlich im Unrecht sein, würde der Vorwurf vermutlich auf ewig einen Keil in ihre Beziehung treiben.

Er wartete schweigend auf seinem Platz, bis Lo Si eine Tasse Tee vor ihn stellte, sich neben ihn setzte und erwartungsvoll auf den Grund für Peters Anwesenheit wartete. Der rieb seine schwitzenden Hände und versuchte, die richtigen Worte zu finden.

"Du bist sehr durcheinander, Peter", stellte der Alte fest, bevor Peter sagen konnte, was ihn bewegte. Er nickte stumm und fuhr sich durch die Haare.

"Ja, das ist richtig. Ich wollte auch mit dir darüber reden, aber ich weiß nicht so recht, wie ich anfangen soll, ohne…" *… ohne dich zu verletzen*, beendete er den Satz nur in Gedanken.

Der Alte breitete die Arme aus und wartete freundlich darauf, dass Peter seine Worte weiterführte. Unruhig rutschte er auf seinem Platz hin und her, wie sollte er bloß seine Unsicherheit und Verwirrung formulieren?

"Peter, wenn du eine Frage hast, dann stelle sie. Aber sei dir bewusst, dass die Antworten, die wir bekommen, meist nicht die sind, die wir hören wollen."

Der junge Mann sah ihn mit großen Augen an. Die Aussage des alten Mannes schien ihm sagen zu wollen, dass er ohnehin keine Antwort bekam, die ihm weiterhalf, sich in seiner Situation zurechtzufinden. Aber er musste es versuchen, er wollte einen Hinweis haben, dass nicht alles einfach geträumt, dass Cat kein Geschöpf seiner Phantasie war, dass sie tatsächlich existierte und er mit ihr glücklich war.

"Lo Si, fühl dich bitte nicht angegriffen, aber es gibt da etwas, das ich wissen muss." Wieder rutschten seine Finger durch die braunen Strähnen, die Zunge befeuchtete seine Lippen.

"Sag mir bitte, hast du mich jemals belogen?", sprach er aus, was ihn bewegte.

Mit angehaltenem Atem verfolgte er, wie der Alte darauf reagierte. Er beobachtete ein leises Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenüber und hoffte, nun eine ehrliche Antwort zu bekommen.

"Der Begriff 'Lüge' ist sowohl eine sehr wage Formulierung, als auch ein schwerer Vorwurf. Wählt man dieses Wort, sollte man sich der Folgen bewusst sein."

"Lo Si, ich möchte dich nicht angreifen, aber ich muss es einfach wissen. Also sei bitte ehrlich, wenn du ein Geheimnis vor mir hast."

Der Ehrwürdige breitete die Arme aus, dann begann er zu sprechen. "Ein Geheimnis dient dem Schutz einer Sache, einer Information oder sogar eines oder mehreren Menschen. Sein Zweck liegt darin, dass es ein Geheimnis und somit geschützt bleibt."

Peter sprang auf und lief vor dem Tisch auf und ab. Argwöhnisch betrachtete er ihn und war sich mittlerweile sicher, dass der Alte genau wusste, was Peter von ihm wissen wollte, dass er in seinem Geist gesehen hatte, dass es um Ping Hai ging.

"Aber warum kannst du mir dieses Geheimnis nicht anvertrauen? Siehst du denn nicht, wie wichtig das für mich ist?", stieß er hilflos hervor. Flehend schaute er dem Shaolin-Priester in die Augen.

"Es tut mir Leid Peter, aber ich kann dir nicht geben, was du hören willst."

"Warum denn nicht? Bin ich denn nicht vertrauenswürdig?", fragte er plötzlich wütend.

Das Gefühl der unmittelbar auftretenden Wut, das damals sein Tun bestimmte, war ihm inzwischen nahezu unbekannt. Mittlerweile war er sich sicher, dass Lo Si genau wusste, worum es ging und in welcher Situation er sich befand.

"Verzeih mir. Aber ich muss einfach wissen, welche Realität die Wahre ist, welche Zeit die Richtige", sagte er wesentlich leiser und setzte sich wieder.

"Peter, hast du bisher schon einmal darüber nachgedacht, dass es möglich sein könnte, dass es keine zwei unterschiedlichen Wahrheiten sind. Dass es nur eine ist, aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet?"

Peter sah ihn mit großen Augen an, sein Verstand versuchte, die Information zu verarbeiten, aber er schien zu verwirrt, um sie zu verstehen.

"Nein das habe ich nicht, aber es ist doch auch nicht möglich. Ich meine, wie kann es EINE Realität sein, wenn es ZWEI Zeiten sind? Ich verstehe das einfach nicht!", plapperte er. Lo Si lächelte leicht belustigt.

"Peter, du bist einfach zu schnell. Sei geduldig. Die Zeit wird kommen, in der du wissen wirst, was wahr ist und was nicht." Peter fuhr sich übers Gesicht, um nicht sofort wieder ungeduldig loszuschießen, und vielleicht etwas falschen zu sagen.

"Warum könnt ihr mir nie einfach sagen, was los ist? Warum müsst ihr mir immer Rätsel aufgeben, deren Lösung unendliche weit entfernt ist? Könnt ihr nicht schlichtweg sagen, das ist so und fertig?", machte er den Fragen Luft, die in seinem Geist umherschwirrten.

"Nun gut, wenn es dein Wunsch ist. Alles was jemals war, alles was heute ist, alles was je sein wird, ist real. Es kommt nur immer auf den Blickwinkel an. Das ist so und fertig."

Peter erhob sich langsam und blickte auf seinen Freund hinab, der noch immer auf seinem Platz auf dem Sofa saß. Er war zornig, die Wut durchflutete seine Adern und seinen Geist, aber er wollte sie nicht heraus lassen. Es war wohl das Beste, wenn er hier und jetzt das Katz und Maus Spiel beendete, bevor er wirklich unfreundlich und unkontrolliert sauer wurde.

"Ich danke dir", sagte er mäßig freundlich, verabschiedete sich murmelnd und trat dann aus der Tür.

Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4

zurück zum Autoren Index      zurück zum Story Index