Teil 3
Autor: Ratzenlady
 

Nachdenklich trat Peter aus dem Haus und ging den Bürgersteig entlang. Es war mittlerweile dunkel und das Treiben auf der Straße hatte merklich nachgelassen. Mit dem Blick vor seine Füße trottete er an den Häusern entlang, bis er an die schmale Seitengasse kam, in der den Stealth geparkt hatte. Ohne aufzusehen bog er ab und ging auf seinen Wagen zu, er war völlig allein in der kleinen Straße.

Seine Füße schritten selbsttätig voran, während sein Kopf versuchte, aus dem, was Lo Si ihm gesagt hatte, nützliche Informationen für seine Situation zu ziehen. Aber es war, wie es früher immer gewesen war; er verstand einfach kein Wort, wenn die zwei Shambala-Meister in seinem Leben ihm nicht deutlich sagten, was sie meinten, sondern nur scheinbar zusammenhanglose Weisheiten verlauten ließen.

Grade als Peter aus seinen Gedanken auftauchte und in seine Jackentasche greifen wollte, um den Autoschlüssel herauszuziehen, wurde er plötzlich von hinten gepackt. Fest krallten sich zwei Hände in seine Jacke, auf Höhe der Schulterblätter, zogen daran und wirbelten ihn mit großer Kraft einige Meter durch die Gasse, wo Peter taumelnd zum Stehen kam. Er schüttelte sich kurz und bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten, aber ehe er aufsah, hörte er schon die vertraute Stimme.

"Woher kennst du sie?", brüllte der frühere Söldner.

Peter sah hoch. Sein Freund stand wütend vor ihm und sah ihn fordernd und zornig an. Peter aber antwortete nicht, sondern kehrte sich sofort nach innen und zog Schlüsse daraus, dass Kermit ihn zuvor auf dem Revier offensichtlich mit seiner Reaktion getäuscht hatte. Geduldlos kam der Cop jetzt auf ihn zu und packte ihn fest am Kragen.

"WOHER KENNST DU SIE?", wiederholte er seine Frage laut.

Peter versuchte Kermit in die Augen zu sehen, aber die Sonnenbrille war ihm im Weg, er konnte sie nicht überwinden.

"Warte doch mal Kermit", sagte er und versuchte halbherzig, sich aus dessen Griff zu lösen, schaffte es aber nicht.

"WARUM HAST DU NACH IHR GEFRAGT?", horchte der frühere Söldner nach, ohne auf Peters Kommentar zu reagieren. Der sah ihm jetzt nur zornig in die Augen, die Art wie Kermit mit ihm umsprang, passte ihm gar nicht, auch wenn er selbst den Stein ins Rollen brachte; und gewusst hatte, was er damit auslöste. Aber jetzt schaltete sich die Szene im Delancys in seine Gedanken, der Moment, in dem Kermit blind auf ihn losgegangen war. Der Moment, der ihn so furchtbar verletzt hatte.

Kermit ließ plötzlich los und machte einen Schritt zurück, seine Haltung aber verriet noch immer Angriffsbereitschaft. Peter zog sich seine Jacke wieder zurecht und sah seinen Freund dann an. Sie standen da, wie zwei Männer, die jede Sekunde aufeinander losgehen würden.
Ein junges Paar betrat die Gasse und wollte offensichtlich eine Abkürzung nehmen, drehte sich aber sofort wieder um, als es die zwei Streithähne entdeckte.

"Was weißt du über sie?", fragte er argwöhnisch, aber ruhiger.

Peter atmete tief durch. Sollte er die Wahrheit sagen, oder bei der Lüge, die er auf dem Revier vorgeschoben hatte, bleiben?

"Das hab ich dir doch schon gesagt. Der Name ist in einem Gespräch gefallen", entschied sich Peter für die Lüge. Gespannt wartete er auf Kermits Reaktion, beobachtete den Freund, konnte aber nichts aus ihm lesen.

"Und wer hat da gesprochen?", fragte der Ex-Söldner misstrauisch, er schien die Geschichte noch nicht ganz zu schlucken.

*Zu Recht*, fügte Peter in seinen Gedanken hinzu und überlegte, wie er aus der Situation wieder heraus kam. Schließlich hatte er die Reaktion bekommen, die er herausgefordert hatte. Er wollte jetzt nicht mit Kermit diskutieren, wollte sich nicht weiter in hanebüchenen Geschichten verstricken, wollte seinen Freund nicht anlügen müssen. Aber er hatte diesen Weg selbst gewählt.

"Keine Ahnung, wer die Typen waren. Ich war in einer Kneipe, in der sich die Einbrecher herumtreiben sollten, da hab ich an der Bar den Namen gehört. Es klang so, als könnte sie etwas damit zu tun haben", erfand er.

"Welche Bar?", fragte Kermit sofort. Er wirkte furchtbar angespannt. Peter geriet in die Bredouille und beschloss, in den Gegenangriff über zu gehen.

"Warum interessiert dich das überhaupt? Was hast du denn mit dieser Frau zu tun?", startete er eine Gegenfrage. Natürlich kannte er die Antwort, aber das konnte er ja nicht zugeben.

"Welche Bar?", wiederholte der Ex-Söldner und überging damit Peters Frage. Der aber wollte sich nicht geschlagen geben.

"Wer ist sie denn?"

Kermit schnaubte wütend. Peter war klar, dass er auf keinen Fall sagen wollte, was es mit Cat auf sich hatte. Und er behielt Recht.

"Das geht dich nichts an!", fauchte er und stierte den jungen Mann zornig an. Peter wippte unruhig auf einem Bein, langsam ging ihm die sprichwörtliche Munition aus.

"Also, welche Bar?"

"Das kann ich dir nicht sagen", antwortete Peter.

Sein Freund raffte die Brauen zusammen und sah ihn argwöhnisch an, jetzt hatte er verloren.

"Ich glaube dir kein Wort!", zischte er plötzlich und überbrückte den Abstand zwischen ihnen mit einem großen Schritt, um sich ganz nah vor ihn zu stellen und bedrohlich auf ihn einzuwirken. Peter wollte sich abwenden und weggehen, aber Kermit packte ihn mit einer Hand am Kragen und zog ihn zurück.

"Du sagst mir jetzt sofort, was du weißt, Peter!", presste er zwischen den Zähnen hervor.

Die Art, wie Kermit mit ihm umsprang, machte ihn jetzt plötzlich mehr als wütend. Er schlug mit einer gekonnten Bewegung Kermits Hand weg und entfernte sich zwei Schritte.

"Verdammt Kermit! Hör auf damit!", blaffte er. Dieselben Worte hatte er schon einmal zu seinem Freund gesagt, und damals hatten sie keinen Erfolg gezeigt.

"Dann sag mir die Wahrheit!", sagte Kermit, bedrohlich ruhig.

Peter fuhr sich durch die Haare. Dann huschte ein humorloses Lachen über seine Lippen. Die Wahrheit. Peter stellte sich die Reaktion des Freundes vor, wenn er ihm sagte, dass Castor Troy in drei Jahren zu seinen Freunden zählen, dass er Trauzeuge bei ihrer Hochzeit sein würde.

"Was ist so verdammt lustig?", horchte der frühere Söldner nach, seine Geduld neigte sich jetzt gefährlich dem Ende hin.

"Du würdest es nicht glauben", sagte Peter, diesmal wahrheitsgemäß.

"Wenn es darum geht, sie zu finden, glaube ich erstmal alles!", konterte Kermit.

Peter musste erneut auflachen, auch wenn ihm gar nicht danach zumute war. Offensiv sah er seinen Freund jetzt an.

"Warum? Um sie zu töten? Weil du glaubst, dass sie am Tod von deinen Kameraden Schuld ist? Weil du der Meinung bist, dass sie mit Gaverton zusammen gearbeitet hat?", schoss er jetzt los.

Kermit machte einen erschrockenen Schritt zurück, dann zog sich seine Stirn zusammen und er starrte Peter einfach einen Moment lang an. "Woher weißt du davon?", fragte er leise. Seine Verwirrung war deutlich zu spüren, sogar für einen Nicht-Shaolin-Peter.

"Hat Paul dir mal davon erzählt?" fügte er an, ehe Peter eine Antwort hatte geben können. Kermit konnte sich das eigentlich nicht vorstellen, aber es blieb keine weitere Lösung, wie Peter an diese Informationen gekommen sein konnte. Der aber schüttelte den Kopf.

"Glaubst du ernsthaft, Paul hätte mir SO ETWAS erzählt?", fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. Jetzt befand er sich in der Angriffssituation.

"Nein, aber woher willst du es sonst wissen?", sagte Kermit, noch immer schien der Schock in seinen Gliedern zu stecken, seine sonst so harte Fassade zerbröselte grade vor Peters Augen.

"Weil ich… ach was soll's! Weil ich es gesehen habe, weil sie es mir erzählt hat, kurz nachdem du sie umbringen wolltest!", ließ er jetzt das Unverständliche auf seinen Freund hageln. Der zog die Brille ab und blickte Peter an, als wüsste er nicht, wer von ihnen beiden jetzt völlig durchdrehte.

"Nenn es eine Vision oder was auch immer du willst! Ich weiß es einfach. OK!", blaffte der junge Mann jetzt und wollte aktuell nichts mehr, als aus dieser Situation heraus kommen, ohne dass Kermit weiter Fragen stellte. Aber sein Wunsch blieb ungehört.

"So einfach kommst du mir da nicht raus! Dein Vater ist den übersinnlichen Kram zuständig, also erzähl mir nicht, dass DU in die Zukunft gesehen hast!", brüllte er wütend, wirkte dabei aber auf seine Art hilflos.

Peter fragte sich unweigerlich, ob dieses Gespräch einen Einfluss auf die Zukunft haben würde, in die er gesehen hatte, beziehungsweise in der er vielleicht sogar eigentlich lebte. So wie damals, wenn es denn tatsächlich passiert war, als er und Kermit den Zugangskristall stehlen sollten und Caine und Karen im Zeitgefängnis waren. Peter hatte lange gebraucht, um irgendwann einen Zusammenhang zwischen seinen Traum von der fremden Frau und seines Vaters im Tempel und der Gefangenschaft herzustellen. Aber irgendwann hatte er es kapiert. Ob Kermit ihn wohl in der anderen Realität auch auf dieses Gespräch hier ansprechen würde?

"Glaub es, oder lass es bleiben. Ich hab dafür jetzt keine Zeit", sagte Peter und wollte sich zum Stealth drehen, aber Kermit packte ihn wiederum an der Jacke, wenngleich er auch sofort wieder los ließ.

"Nicht so schnell! Angenommen ich glaube diese komische Geschichte. Wenn du es also tatsächlich wusstest, warum hast du mich dann darauf angesprochen?"

Peter biss sich auf die Unterlippe, das wollte er seinem Freund nun wirklich nicht erzählen, wollte ihm nicht die Verwirrung offenbaren, die in ihm tobte.

"Kermit, ich…", er brach ab und fuhr sich durch die Haare. Wie sollte er ihm das jetzt erklären, wenn er selbst keine wirkliche Erklärung dafür hatte?

"Ich… ich habe dich für einen Test benutzt, es tut mir leid! Ich bin heute Morgen im hier und jetzt aufgewacht, obwohl mein Leben eigentlich schon drei Jahre weiter vorangeschritten ist. Und ich habe keine Ahnung, ob diese drei Jahre ein Traum waren, eine Vision, oder vielleicht doch die Realität. Ich habe dich nach ihr gefragt, um herauszufinden, ob es Castor Troy tatsächlich gibt, um auszuschließen, dass es einfach nur ein Traum war." Fahrig plapperte der junge Mann die Sätze heraus und musste nun doch seine Unsicherheit preisgeben. Um seine Selbstbeherrschung war es allmählich gänzlich geschehen.

Kermit sah ihn lange an, sein Kopf lag schief, als würde er nach einem Hinweis suchen, ob Peter ihm jetzt die Wahrheit erzählte oder eine weitere Geschichte auftischte. Auf der anderen Seite war das, was er grade gesagt hatte so abwegig, dass es nicht erfunden sein konnte. Peter entschuldigte sich ein weiteres Mal dafür, dass er ihn und diesen Gefühlsausbruch nur benutzt hatte, um sich seiner etwas sicherer zu werden. Nach einer gefühlten Ewigkeit breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, so wie damals, als Peter wegen Mordes angeklagt war und Kermit ihn um Mitternacht getroffen hatte.

"Na wenn das so ist. Ich versteh zwar kein Wort, und es passt mir überhaupt nicht, dass du darüber Bescheid weißt, aber ich bin mir sicher, dass du es für dich behältst!" Keine Vermutung, keine Bitte. Eine Drohung. "Und wenn dies, wie du sagtest, gar nicht die Realität ist, hat dieses Gespräch ja auch nie stattgefunden!" sagte er, drehte sich rum und ging.

*Wenn du wüsstest*, fügte Peter in Gedanken an und stieg dann in seinen Wagen, um in sein altes Apartment zu fahren und sich dort weiter mit den Ereignissen des Tages zu beschäftigen und Schlüsse für sich daraus zu ziehen.

*

Bei den ersten Sonnenstrahlen des Morgens stand Peter auf und fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage, um anschließend zu seinem Vater zu fahren. Er hatte die Nacht nicht geschlafen, und seine Glieder waren müde und schwer, während sein Kreislauf durch Unmengen von Kaffee aufgeputscht war.

Die ganze Nacht hatte nachgedacht und versucht, herauszufinden, wo er sich befand, wer er wirklich war und welche Zeit die seine. Er hatte sogar versucht, zu meditieren, rein aus Gewohnheit, aber es hatte nicht geklappt. Er hatte mit Abstand nicht die Bewusstseinsebene erreicht, in die er früher spielend eindrang.

*Früher*, dachte Peter ironisch lächelnd. *Wohl eher 'in Zukunft'*, verspotte er sich selbst.

Lo Sis Aussage, dass er ihm das Geheimnis nicht anvertrauen konnte, ließ ihn darauf schließen, dass es tatsächlich eines gab, und auch Kermits Reaktion verriet ihm dasselbe. Cat existierte, sie musste es einfach. Dieses Gefühl erwärmte sein Herz, aber an einer anderen Ecke tat es auch furchtbar weh, weil es bedeutete, dass Caine in Wahrheit tot war.

Deshalb hatte er nicht schlafen wollen. Er war sich sicher, dass er in seine Zeit zurückkehren würde, sollte er schlafen. Dazu aber war er noch nicht bereit, noch konnte er Caine nicht loslassen, nicht wenn er Gelegenheit hatte, seine Nähe noch einige Stunden zu spüren.

Diesmal ging er die Stufen schnell hoch und trat in den Loft, sein Vater war schon dabei, den Trainingsraum herzurichten. Dieser Mann schien wirklich nie zu schlafen, während Peter schon nach einer durchgemachten Nacht fix und fertig war. Aber er wusste schließlich aus eigener Erfahrung, dass es als Shaolin durchaus möglich war, Schlaf durch Meditation zu ersetzen. Und Nahrung durch Training, wenn das auch nur begrenzt.

"Guten Morgen, Peter", sagte Caine fröhlich, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Sein Sohn brummte gähnend eine Erwiderung, ehe er beobachtete, was sein alter Herr da tat. Caine breitete Matten auf dem Boden aus und legte dann Waffen an jedes Ende. Einen langen Kampfstock, einen Säbel und zwei Kurschwerter an jeder Seite der Trainingsfläche.

"Paps, was wird das?", fragte Peter interessiert, aber auch mit etwas Unbehagen, was gleich mit ihm passieren sollte.

"Dein Training", antwortete Caine und zuckte mit den Schultern. Sein Vater wies Peter einen Platz mit den Waffen zu und er folgte der Aufforderung. Er positionierte seine Füße direkt vor der Matte und den Kampfwerkzeugen. Er dachte, dass Caine sich ihm gegenüberstellte, aber entgegen dieser Erwartung kam er auf ihn zu und zog ein Tuch aus seiner Hosentasche, womit er Peter die Augen verband.

"Paps, was…"

"Du brauchst deine Augen nicht, um mich zu sehen", unterbrach er seinen Sohn. Jede weitere Erwiderung blieb Peter im Halse stecken, ohne Gegenwehr ließ er sich sein Augenlicht vorübergehend nehmen. Er war sich jetzt schon sicher, dass er die Anforderungen seines Vaters nicht erfüllen konnte. Selbst wenn die Fähigkeiten irgendwo in ihm stecken sollten, damals vor drei Jahren, wäre er jetzt viel zu müde und erschöpft, um sie abrufen zu können.

Dennoch ließ er sich darauf ein ohne zu widersprechen, denn es war Zeit, die er mit seinem Vater verbrachte, Zeit die sie nie wieder haben würden.

"Du bist sehr müde, mein Sohn", stellte Caine fest, während er den Knoten hinter Peters Kopf verschnürte.

"Ja, ich… ich hab nicht viel geschlafen."

"Nicht viel, oder gar nicht?", hakte Caine nach.

"OK, du hast mich. Können wir jetzt anfangen?" wich Peter aus und versuchte, das Thema abzuwenden, bevor sein Vater wieder näher darauf einging. Diesmal ging sein Plan tatsächlich auf.

"Dann musst du dich nun umso mehr konzentrieren", war alles, was er dazu sagte.

Dann entfernte sich Caine von ihm, Peter hörte es deutlich, wie seine Füße über die Matte schritten. Er musste es mit Absicht so geräuschvoll tun, denn eigentlich bewegte er sich lautlos. Als er nichts mehr hörte, war er sich sicher, dass sein Vater nun an seiner Startposition für das Training stand. Aufmerksam lauschte er und konzentrierte sich auf sein inneres Auge. Instinktiv verbeugte er sich, als Caine genau dasselbe tat.

"Wähle eine Waffe", wies sein Vater ihn an. Peter ging in die Knie und erinnerte sich an das Bild von eben, um direkt nach der Waffe greifen zu können. Der lange Stock hatte links von ihm gelegen, also führte er den Arm hinab, öffnete die Faust und griff danach. Tatsächlich ergriff er sofort das glatte Holz und kam damit wieder in den Stand, ihn sofort abwehrend vor sich haltend.

"Sehr gut", lobte Caine sofort. Peter erwiderte ein müdes Grinsen. Er versuchte, sich zu konzentrieren, aber es wollte kein Bild in seinem Geist entstehen, das ihm seine Umgebung und seinen Gegner zeigte. Blind stand er dort, ohne auch nur einen akustischen Hinweis, wo sein Vater im Raum war.

Langsam drehte er sich zur Seite, den langen Stock in Abwehrhaltung. Eigentlich war so etwas inzwischen eine seiner leichtesten Übungen, und noch vor zwei Tagen hätte er sie mit Sicherheit problemlos bewältigt, aber diesmal würde er kläglich versagen, das wusste er jetzt schon.

Nach einigen Sekunden drückte sich die Stockspitze seines Vaters in seine Kniekehle und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Nur durch das Aufstützen auf dem Stab konnte er sich im Stand halten. Er drehte sich schnell in die Richtung, obwohl er sicher war, dass Caine dort schon nicht mehr stand.

Aus einer anderen Richtung knallte nun dessen Stock gegen seinen, wieder wirbelte Peter herum. Aber er war noch immer blind, sah nichts, fühlte nichts, war einfach nur müde und erschöpft. Dennoch wollte er die Stunde nicht abbrechen, seinen Vater nicht vor den Kopf stoßen. Die Nähe Caines erfüllte ihn mit Wärme und Glück.

Erst nach unzähligen Angriffen, die Peter nicht hatte abwehren können, nach Ermahnungen und Aufforderungen, sich doch zu konzentrieren, und vielen Stürzen brach Caine das Training ab und gab Peter sein Sehvermögen wieder.

"Was ist mit dir los, mein Sohn?", fragte sein Vater und musterte ihn besorgt, "so unbeholfen bist du doch sonst nicht, wenn wir üben."

"Entschuldige, Vater, aber ich bin einfach kaputt."

"Warum hast du denn nicht geschlafen?", kam sofort die Frage, die Peter hatte eigentlich vermeiden wollen. Er fuhr sich durch die Haare, sein Unterbewusstsein sagte ihm, dass sein Vater die Antwort längst kannte. Dennoch wollte er sie nicht aussprechen.

"Ich weiß auch nicht", log er.

"Du weißt, dass du immer mit mir sprechen kannst, nicht wahr?", verdeutlichte der ältere Mann seinen Wunsch nach Erklärung.

*Nein, das kann ich nicht! Du bist tot! Ich kann nicht mehr mit dir sprechen!*, schrie Peter die Trauer der letzten Jahre in seinem Inneren heraus. Sein Äußeres aber zeigte nichts davon.

"Ja, das weiß ich", war alles, was er zurückgab.

"Kennst du das Märchen von Schneewittchen?", fragte Caine plötzlich ohne erkennbaren Zusammenhang. Peter starrte ihn verwirrt an, die Müdigkeit nagte an seinem Verstand.

"Natürlich, aber was…", weiter kam er nicht. Sein Vater wischte die folgenden Worte mit einer Handbewegung weg und begann zu sprechen.

"Wenn Schneewittchen damals die Wahl gehabt hätte, was glaubst du, hätte sie getan?", fragte er. Peter sah ihn noch immer an, versuchte zu verstehen, was sein Vater ihm sagen wollte. Aber die Müdigkeit ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen.

"Die Wahl? Was meinst du?", hakte er nach, um ihm folgen zu können.

"Nun, die Zwerge haben sie schweren Herzens an den Prinzen übergeben. Aber was glaubst du, wenn es ihre Entscheidung gewesen wäre, hätte sie getan? Hätte sie die Zwerge verlassen, um mit dem Prinzen glücklich zu werden?", fragte Caine, während er mit seiner Handfläche Kreise in die Luft zeichnete.

Peters Geist wirbelte in seinem Kopf. Was wollte sein Vater von ihm mit dieser alten Kindergeschichte? Aber auf der anderen Seite hatte Caine immer einen Grund, wenn er etwas fragte, also beschloss der junge Mann, darauf einzusteigen und zu sehen, was am Ende rauskommen würde.

"Ich weiß nicht. Wahrscheinlich hätte sie ein schlechtes Gewissen gehabt", antwortete er das erstbeste, das ihm zu dem Thema in den Sinn kam.

Caine neigte den Kopf. "Und war sie mit dem Prinz glücklich?", fragte sein Vater weiter.

"Natürlich. Schließlich haben seine tollpatschigen Gehilfen dafür gesorgt, dass sie wieder zum Leben erwachte", sagte Peter und wartete gespannt darauf, dass Caine endlich herausließ, was er bezweckte. Allerdings wurde er enttäuscht.

"Also war es letztendlich gut, dass die Zwerge sie verlassen haben?"

"Ja, natürlich, aber was willst du mir damit sagen, Dad?"

Caine zuckte langsam mit den Schultern. "Eine Metapher", war die dünne Antwort, die er seinem Sohn gab. Dann drehte er sich weg und widmete sich dem Aufräumen der Trainingsfläche. Peter stand auf und trat neben ihn, sein Blick zeugte von absoluter Verwirrung und Unverständnis.

"Eine Metapher? Für was? Ich verstehe das nicht. Was ist die...", er fuhr sich durch die Haare, "die Moral von der Geschichte?", griff er die märchenhafte Beschreibungsart auf.

Caine sah kurz zu ihm rüber und zuckte abermals mit den Schultern. "Iss niemals einen vergifteten Apfel."

Jetzt war es ganz um Peter passiert. Er verstand gar nicht mehr. Schneewittchen? Apfel?

"Paps, ich verstehe kein Wort", sagte er und schaute ihn eindringlich an.

"Wenn es soweit ist, wirst du es verstehen", schloss Caine.

Peter öffnete den Mund, um nachzuhaken, seinen Vater so lange zu nerven, bis er ihm endlich sagte, was er ihm damit sagen wollte, schloss die Lippen dann aber wieder, ohne sein Vorhaben ausgeführt zu haben. Instinktiv wusste er, dass der Ausflug in die Märchenwelt beendet war und sein Vater ihm nichts weiter dazu erzählen würde.

Müde fuhr er sich übers Gesicht. Dann setzte er sich wortlos ans Fenster und starrte hinaus, während Caine weiter aufräumte und sich anschließend neben seinen Sohn setzte.

"Woran denkst du?"

Peter wendete seinen Blick nicht von der Fensterfront und dem Nichts, in das er starrte, ab. Seine Gedanken lagen weit in der Vergangenheit, seiner Kindheit im Tempel und etwas, das sein Vater ihm mal erzählt hatte.

"Paps, erinnerst du dich daran, dass wir mal über die Zukunft gesprochen haben? Damals im Tempel?" sagte er gegen die Scheibe.

"Nun, wir haben oft darüber gesprochen."

"Aber ich meine ein ganz besonderes Gespräch. Es ging um meine Zukunft, was sein wird, wenn ich mal erwachsen bin, wo ich dann leben werde und wo du dann sein wirst. Weißt du noch?"

"Ich bin mir nicht sicher", gab Caine eine ehrliche Antwort zurück.

Peter konnte es ihm nicht verübeln. Auch seine Erinnerung daran kam erst vor kurzem zurück, weil es erst jetzt von Bedeutung für ihn war.

"Du erzähltest mir damals, dass ich irgendwann eine Familie hätte und ein Haus und dass du, wenn ich es denn wollte, dann auch dort sein würdest. Und die Nachbarn würden fragen, wer denn der komische alte Mann sei, der im Innenhof sitzt und Flöte spielt", sagte Peter mit einen leicht amüsierten Lächeln auf den Lippen. Die Erinnerung an die Worte war schön, aber die Unmöglichkeit leider nicht.

"Ja, jetzt erinnere ich mich", sagte Caine, auch in der Erinnerung lächelnd.

Peter drehte jetzt den Kopf und sah seinen Vater an. Der Blick des jungen Mannes wurde traurig.

"Wirst du dort sein? Wenn ich es mir wünsche, wirst du dann dort sein, wenn es soweit ist?", fragte Peter und musste die Tränen unterdrücken, die jetzt in ihm aufstiegen, weil er genau wusste, dass es nicht ging. Nicht mehr. Aber er baute auf den winzigen, unerklärlichen und unlogischen Funken Hoffnung, der tief in ihm glomm.

Caine hob seine Hände und schloss sie um Peters Gesicht, der die Augen schloss. Das war er, der sprichwörtliche Schlag ins Gesicht, die Wahrheit. Dieser Moment war nicht die Realität, jedenfalls nicht die seine, und sein Vater hatte den letzten Beweis dafür allein durch diese Geste erbracht.

"Ich wünschte, ich könnte es, mein Sohn", sagte Caine, auch seine Stimme wirkte brechend. Jetzt gab es kein Versteckspiel mehr, keine Finten und keine Suche nach Hinweisen. Peter wollte so gerne etwas sagen, seinen Vater trösten, dem jetzt eine einzelne Träne über die Wange rollte. Der junge Mann war sich nicht sicher, ob er Caine jemals hatte weinen sehen. Der ältere von ihnen ergriff als erster wieder das Wort.

"Aber wenn du in dein Herz schaust, Peter, wirst du mich immer sehen können, wie ich dort sitze. Und der Wind wird das Spiel meiner Flöte zu deinen Ohren tragen", sagte Caine und legte seine Handfläche auf Peters Brust.

Peter fühlte einen warmen Strom von der Hand ausgehen und auf seine Brust und sein Herz einwirken. Er schmiegte sich in die auf seiner Wange verbliebene Hand und schloss traurig die Augen. Ein leiser Schluchzer entwich seiner Kehle.

"Warum Paps?", wisperte er hilflos. Er fühlte seine Kraft aus seinem Körper schwinden und die Erschöpfung Besitz von ihm ergreifen. Aber er wollte nicht schlafen, wollte noch nicht weg.

"Du musst jetzt schlafen, Peter", sagte Caine sanft und legte ihm wieder die zweite Hand ums Gesicht, sanft die Schläfen seines Sohnes massierend.

"Nein, noch nicht, bitte!", flehte der junge Mann mit geschlossenen Augen und müder Stimme.

"Ich liebe dich", sagte Caine und legte den Körper seines Sohnes sachte zurück.

Peter murmelte etwas unverständliches, ein letzter Widerspruch, ein letzter Ausdruck des Unwillens darüber, seinen Vater verlassen zu müssen. Sobald aber sein Rücken den Boden berührte, hob und senkte sich seine Brust gleichmäßig und tief im sofort eingetretenen Schlaf.

Caine zeichnete die Konturen seines Gesichtes liebevoll mit den Fingerspitzen nach und hauchte ihm dann einen Kuss auf die Stirn. Voller Liebe schaute er auf den erwachsenen Mann hinunter, den er solange verloren hatte. Dem er nicht die Liebe zeigen konnte, die er für ihn empfand. Den er so oft hatte enttäuschen und verletzen müssen, wenn auch immer nur zu seinem Besten. Eine weitere Träne bahnte sich ihren Weg.

"Ich liebe dich, mein Sohn. Und ich werde immer bei dir sein, tief in deinem Herzen wirst du mich finden können", sagte er leise zu dem schlafenden Peter.

*** *** ***

Peter ließ die Augen geschlossen, als er aufwachte. Er ließ sein Bewusstsein wandeln, richtete seine Sinne nach außen und musste die Lider nicht öffnen, um zu wissen, wer und wo er war. Er musste die Male auf seinen Unterarmen nicht sehen, um zu wissen, dass sie dort waren; musste nicht in den Raum blicken, um zu sehen, dass er im Loft war. Musste nicht die Hand zur Seite ausstrecken, um zu fühlen, dass Cat schon aufgestanden war und nicht mehr neben ihm lag.

Jetzt fühlten sich alle Entscheidungen der letzten zwei Jahre wieder richtig und völlig nachvollziehbar an. Nun war er wieder Shaolin, nun hatte er die Frau seiner Träume wieder an seiner Seite, jetzt war er wieder zu Hause.

Er lächelte, als er über das nachdachte, was er bis zum Aufwachen erlebt hatte. Jetzt, mit dem scharfen Verstand eines Shaolin, wusste er sofort, was sein Ausflug in die Vergangenheit zu bedeuten hatte, was sein Vater ihm hatte sagen wollen. Etwas Wehmut beschlich ihn, als er sich bewusst wurde, dass er und sein Vater sich vermutlich bestens verstanden hätten, auf einer Wellenlänge gewesen wären, jetzt da auch er eine höhere Bewusstseinsebene erreicht hatte.

Die Wärme der Berührung in seinem Brustkorb war noch immer spürbar, als wäre sie eine Hinterlassenschaft dieser Reise in die Vergangenheit. Sein Vater hatte ihn ein letztes Mal zu sich geholt, um ihm dieses Gefühl zu geben und ihm zu zeigen, warum er gegangen war, davon war der junge Priester überzeugt. Wieder schweiften seine Gedanken zu den Worten Caines ab. Schneewittchen.

Dann hörte er leise die Tür auf gehen und Cat auf Socken vorsichtig ins Schlafzimmer kommen, sie ging an die Schranktür, legte etwas hinein.

"So früh schon gebügelt?", fragte er grinsend und öffnete die Lider.

Erschrocken fuhr sie zu ihm herum, dann lächelte sie. "Früh? Es ist schon Mittag, Honey! Aber nach gestern Abend verzeih ich dir das", lachte sie und setzte sich zu ihm aufs Bett.

Verträumt sah er ihr in die Augen, den Mund zu einem glücklichen Lächeln geformt. Sie entgegnete seinen Blick mit derselben Liebe darin, aber nach einer Weile zog sich ihre Stirn in Falten.

"Was?", fragte sie gedehnt, aber lächelnd.

Peter schlang den Arm um ihre Taille und zog sie über sich, sodass sie neben ihm landete. Verliebt schauten sie sich in die Augen, wobei Cat versuchte zu deuten, was in ihren Verlobten gefahren war. Diesen Blick bekam sie normalerweise nur in besonderen Momenten, und dies war eigentlich kein solcher Moment. Sie legte ihm die Hand auf die Wange und blickte tief in seine braunen Augen.

"Alles in Ordnung, Peter?", fragte sie sanft. Er nickte und lächelte sie an.

"Es könnte kaum besser sein, Liebling."

Er machte eine Pause und sah sie weiter an, als könnte er nicht genug von ihrem Anblick bekommen. "Ich möchte dir eine Geschichte erzählen", fügte er plötzlich an.

Erstaunt hob sie die Brauen. "Was für eine Geschichte?", horchte sie nach. Neugierig gespannt blickte sie jetzt in seine Pupillen.

Peter lächelte schüchtern. "Ein Märchen."

Cat nickte nur und wartete erwartungsvoll auf das, was jetzt kam. Peter legte sich auf den Rücken und starrte verträumt zur Decke, seine Hand ergriff Castors, die jetzt den Kopf auf ihre andere Hand stützte und ihn ansah. Peter leckte sich die Lippen, dann begann er zu erzählen.

"Es war einmal ein junger Prinz. Seine Mutter war schon früh gestorben und er lebte mit seinem Vater in einem kleinen und beschaulichen Königreich. Als er etwas älter war, wurde der Palast aber angegriffen und die Kunde vom Tod des Königs wurde verbreitet. Das Reich zerbrach und der junge Königssohn war allein. Nur ein alter Vertrauter des Königs nahm sich seiner an und brachte ihn aber nach einer kurzen Zeit ins Waisenhaus, weil er ihn nicht beschützen konnte. Dort war der junge Prinz sehr unglücklich."

Peter starrte noch immer ins Leere über sich, während er redete. Cat schaute ihn gebannt an, ihr war sofort klar gewesen, dass ihr Verlobter von sich selbst sprach, aber das bedurfte keiner Erwähnung, außerdem war sie gespannt, was Peter ihr mit diesem Märchen sagen wollte.

"Nach einer Weile wurde der Prinz von einem Paar aufgenommen, das nichts von seiner königlichen Herkunft wusste, ihn aber dennoch aufnahm und umsorgte, ebenso wie seine eigenen zwei Töchter. Dort war der Königssohn glücklich und er wuchs heran, bis er schließlich in die beruflichen Fußstapfen seines Pflegevaters trat."

"Fünfzehn Jahre, nachdem das Königreich zerbrochen war, traf der mittlerweile erwachsene Mann seinen Vater, den ehemaligen König, wieder. Die Freude über diese Zusammenkunft war beiderseits enorm, denn auch der König hatte gedacht, sein Sohn sei damals zu Tode gekommen. Der Vater blieb bei seinem Sohn, auch wenn er nicht viel über die Zeit erzählte, die seit der Zerstörung des Königreichs vergangen war. Sie lernten sich neu kennen und verbrachten sehr schöne vier Jahre miteinander, ehe der König auf eine Reise aufbrach, von der er nicht lebendig zurückkam."

Peter wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Aber trotzdem wirkte er auf seine Weise immer noch glücklich, während er erzählte. Cat bewegte sich nicht, auch wenn sie unschlüssig war, ob sie ihn vielleicht trösten sollte. Sanft drückte sie seine Hand, die sich um ihre verschlossen hatte.

"Der Prinz war natürlich sehr traurig darüber, dass sein Vater starb. Lange haderte er mit sich und der Welt, warum ein so lebenserfahrener und kampferprobter Mann wie der König sterben musste. Auf dem langen Heimweg von der Beerdigung seines Vaters aber entdeckte er den Sinn darin, auch wenn er ihn erst wesentlich später verstehen lernen sollte."

"Er traf eine wunderschöne Maid, die alleine lebte und auch alles verloren hatte, was ihr lieb und teuer war. Schnell verliebten sie sich ineinander und der Prinz kehrte wieder nach Hause, zusammen mit seiner Liebsten."

Ein Lächeln huschte über Peters Lippen, Cat sah ihn gerührt an.

"Sie lebten schon eine ganze Weile glücklich zusammen, aber der junge Prinz haderte noch immer mit seiner Vergangenheit und dem Tod seines Vaters, es gab immer wieder traurige Momente in seinem Leben, obwohl er mit der Maid an seiner Seite eigentlich unendlich glücklich hätte sein müssen."

Cat hörte ein schlechtes Gewissen aus diesen Worten heraus, das ihrer Ansicht nach völlig unangebracht war. Aber darüber hatten sie bereits lange und breit nach Peters Zusammenbruch gesprochen und das Thema abgehandelt. Keiner von ihnen musste stark sein, jeder hatte einen, der ihn auffing, wenn es nötig war. Und genau dies war ein solcher Moment. Peter erzählte ihr aus seinem Innersten, wie er sich fühlte.

"Kurz vor der Hochzeit des Paares wurde der Prinz wieder traurig, weil er seinen Vater nicht bei diesem Ereignis dabei sein konnte. Aber im Traum holte ihn der König plötzlich zu sich. Der Königssohn war zunächst völlig verwirrt, aber sein Vater blieb ruhig und erklärte ihm seine Situation und das, was geschehen war, mit einer Metapher. Einem Sinnbild über Schneewittchen."

Peter machte eine kurze Pause, seine Augen hafteten an der Decke und sein Gesicht wirkte ruhig und entspannt. Cat dachte darüber nach, was als nächstes kam. Zunächst konnte sie mit dem Wort Schneewittchen in diesem Zusammenhang nichts anfangen, dann kam ihr die Idee, dass sie selbst gemeint sein konnte, mit ihrer blassen Haut und den schwarzen Haaren. Erwartungsvoll hoffte sie auf eine baldige Auflösung dieses Rätsels.

"Schneewittchen hatte alles verloren, was sie hatte; ihr Zuhause und ihren Vater. Sie fand ein neues Zuhause bei einer neuen Familie, so wie der junge Prinz sein neues Zuhause zunächst bei einer neuen Familie gefunden hatte, dann wieder bei seinem leiblichen Vater."

Jetzt wurde der jungen Frau bewusst, dass Peter das Schneewittchen war, und die Zwerge sein Vater.

"Als Schneewittchen aber vergiftet wurde und tot in ihrem Sarg lag, kam der Prinz vorbei. Er war so sehr in Schneewittchen verliebt, dass die Zwerge sie schließlich verließen, weil sie fühlten, dass der Prinz sie noch mehr liebte.
So hatte auch der König seinen Sohn in unserem Märchen verlassen, weil er gewusst hatte, dass es das Beste für den Prinzen war, weil er gespürt hatte, dass sein Sohn dadurch jemanden finden würde, der ihn noch glücklicher machen konnte, als er selbst."

Cat rollte eine Träne über die Wange. Vor Rührung biss sie sich auf die Lippe und starrte Peter an, noch nie hatte sie eine so schöne Liebeserklärung erhalten. Ihr Freund aber starrte noch immer an die Decke.

"Hätte Schneewittchen sich entscheiden müssen, hätte sie die Zwerge vermutlich nicht gehen lassen. Von daher war es eigentlich gut, dass sie ihr die Entscheidung abgenommen haben. Denn sie hätte ja nicht ahnen können, dass ihr trotz oder sogar durch großes Unglück ein noch größeres Glück widerfahren würde."

Peters Augen wurden auch feucht. Endlich drehte er sich zu Cat und strahlte sie mit seinen braunen Augen an, all seine Liebe und sein Glück in diesem Moment lagen darin, und sie erwiderte es vollständig. Sie war unendlich gerührt durch Peters Worte und wusste gar nicht, ob sie ihm jemals etwas ähnlich Schönes entgegenbringen können würde, so sehr traf diese Geschichte ihr Herz.

"Nur schade, dass Schneewittchen die Zwerge nicht mehr wieder sah", sagte Cat mit gedrückter Stimme, sie war jetzt so emotional berührt, dass sie nicht sicher war, ob sie auch nur ein weiteres Wort herausgebracht hätte, ohne anzufangen zu weinen. Peter strahlte noch immer.

"Nicht ganz. Manchmal kamen sie zu Besuch. Leise und unbemerkt schlichen sie sich zu Schneewittchen, so dass kein anderer, nicht einmal der Prinz, sie bemerkte" schloss Peter.

Jetzt umschlich auch Cats Lippen ein leises Lächeln, dann kuschelte sie sich ganz nah an Peter, der sich wieder in die Rückenlage gebracht hatte und den Arm um ihren Körper schlang. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und den Arm um seine Taille. Still lagen sie da und folgten ihren Gefühlen in eine Welt, in der es nur sie gab und die gut und schön und friedlich war.


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