Autor: TempleGirl

 

Prolog

Matthew Caine saß in seinem Häuschen in dem kleinen französischen Ort St. Adèle in seinem Lieblingssessel und war in eine spannende Lektüre vertieft. Sein weißes Haar fiel ihm auf die Schulter, was ihn seinem ältesten Sohn sehr ähnlich machte. Auf seiner Nase saß eine Lesebrille, neben ihm auf dem Tisch stand eine Tasse dampfenden Tees und im Kamin knisterte ein Feuer. Draußen stürmte und schneite es, doch drinnen war es behaglich und warm. Wäre jemand vorbei gekommen und hätte durch das Fenster geblickt, so hätte er glauben können, dort säße ein Großvater, der im Begriff war, seinen Enkeln etwas vorzulesen.

Matthew sah auf die Uhr. In einer halben Stunde würde Martin vorbei kommen und mit ihm zu Abend essen. Das tat er regelmäßig, seit er nach St. Adèle gekommen war. Matthew war sehr überrascht gewesen, als Martin vor einem Jahr vor der Tür gestanden hatte und sagte, er sei sein Sohn. Doch es war eine Freude, ihn in der Nähe zu wissen, da Kwai Chang so weit fort war. Sein größter Wunsch war es, seinen ältesten Sohn noch einmal wieder zu sehen. Matthew seufzte. Er war nun weit über achtzig und hatte mit ein wenig Glück noch ein paar Jahre vor sich. Auch Kwai Chang war mit beinahe sechzig nicht mehr jung. Eine so weite Reise würde er nicht ohne einen guten Grund auf sich nehmen. War die Sehnsucht seines Vaters nach seiner Familie Grund genug? Ihm kam nun auch Peter, sein einziger Enkel in den Sinn. Wie alt war er? 28? 29? Er hatte ihn erst als Erwachsenen kennen gelernt. Wie gern hätte er Enkel um sich gehabt, fröhliches Kinderlachen, eine große Familie. Doch ihm war Einsamkeit beschert, ein Schicksal der Caines, wie es schien. Wieder seufzte er und ging schließlich in die Küche, um das Essen fertig zu machen.

Schritte knirschten im Schnee, schattenhafte Gestalten näherten sich dem kleinen Haus. Sie huschten hin und her, blickten durch die Fenster, schienen etwas oder jemanden zu suchen. Es wurden immer mehr, ein Raunen und Wispern war zu hören.

Matthew sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung vor dem Küchen-fenster und fuhr herum. Doch da war nichts mehr. Kopfschüttelnd widmete er sich wieder seiner Arbeit. Er rührte in der Suppe, schnitt Brot auf, entkorkte eine Flasche Rotwein. Als er ins Wohnzimmer ging, um den Tisch zu decken, glaubte er, Schritte vor dem Fenster zu hören. Er hielt inne und lauschte. Doch da war wieder nichts.

Sehe ich schon Gespenster? fragte er sich.

Da klopfte es an die Tür.

Das wird Martin sein, er ist heute ja überpünktlich!

Matthew stellte die Teller ab und ging zur Tür. Er öffnete und sagte lächelnd: "Komm rein, Martin, du bist aber…"

Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sich eine schwarz behandschuhte Hand über seinen Mund legte.

"Schweig still, alter Mann. Und mach schon mal dein Testament!"

Matthew riss die Augen in Panik auf und versuchte, sich zu befreien. Doch der finstere Mann, dem die Hand gehörte, lachte höhnisch und winkte seinen Komplizen, ihm ins Haus zu folgen.

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Caine saß in eine Meditation versunken auf dem Boden seines Wohnzimmers. In der Ferne hörte er die Geräusche der Straße, doch er ließ sie an sich herab plätschern, ohne ihnen Bedeutung beizumessen. Sie waren einfach da, drangen aber nicht in sein Bewusstsein vor. Etwas viel Eindringlicheres bahnte sich plötzlich den Weg zu ihm: Der Schrei eines Mannes. Ein Schrei voll Schmerz und Verzweiflung hallte in seinen Ohren und er sah das Gesicht seines Vaters vor sich, die Augen angstvoll aufgerissen. Caines Herz schlug schneller und er riss seinerseits die Augen auf.

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Martin Bradshaw stapfte durch den Schnee und zog seinen Mantel dichter um sich. Es war eine bitterkalte Januarnacht und sein Atem bildete Dampfwolken vor seinem Mund. Doch der Gedanke an seine Florence erwärmte ihn. Ein verzücktes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er an seine neue Freundin dachte.
Wenn Gott will, kommt Matthew doch noch zu ein paar kleinen Enkeln! Das hat er sich doch immer gewünscht!

Martin bog um die Ecke und blieb auf einmal ruckartig stehen. Matthews Haustür stand sperrangelweit offen. Da stimmte etwas nicht!

Er beschleunigte seine Schritte und rief schon von Weitem Matthews Namen. Doch er bekam keine Antwort. Er stürzte ins Haus und unterdrückte einen Schreckensschrei: Matthew lag reglos am Boden, das Gesicht aschfahl und schmerzverzerrt. Seine Hände hatten sich über der Brust in seinen Pullover gekrallt und er atmete nur mit größter Anstrengung.

 

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