Teil 4
Autor: TempleGirl

 

Die Uhr schlug halb zwölf. Vor dem Fenster hatte eine Gestalt die Szene beobachtet und ballte wütend die Hand zur Faust.

"Verdammt, er liegt seiner Familie schon in den Armen. Ich hätte nie gedacht, dass sie ihn so schnell aufnehmen würden. Schließlich war Damon ihr Todfeind!" murmelte der Mann vor sich hin und huschte davon.

Drinnen waren alle so mit sich selbst beschäftigt, dass ihn niemand bemerkt hatte. Allein Caine horchte auf, er spürte die Anwesenheit von etwas Bösem. Lo Si bemerkte, dass er sich versteifte und warf ihm einen fragenden Blick zu.

"Was hast du, Kwai Chang Caine?"

"Sie sind da." erwiderte er.

"Wer ist da?" fragte Peter arglos.

"Die Sing Wah. Sie wissen, dass Dominic hier ist. Wir müssen uns beeilen."

"Was werden sie tun, wenn wir ihren Fluch brechen?" wollte Peter wissen.

"Sie werden mit allen Mitteln versuchen, das zu verhindern. Sie werden es nicht zulassen, dass Dominic mit seiner wirklichen Familie vereint wird, denn lange Zeit waren sie seine Familie."

"Die Sing Wah… sind eifersüchtig?" Peter musste lachen.

"So kann man auch sagen." Caine zog eine Schulter hoch.

"Es sind die Anhänger der Bruderschaft der Glocke." erklärte Dominic. "Du hast sie ja gesehen, sie hielten sich alle für die Nachfahren von berühmten Schurken. Darüber lachen die Obersten der Sing Wah, sie nehmen sie nicht ernst. Die Bruderschaft ist so etwas wie das schwarze Schaf der Familie und sie hatte gehofft, mit meiner Hilfe in der Achtung der Obersten zu steigen. Auch deshalb zürnen sie mir jetzt."

"Aber warum haben sie dann nicht dich verflucht?" wunderte sich sein Neffe.

"Krankheit und Schmerzen auszuhalten ist für einen, der ein Sing Wah war, keine Strafe. Aber da ich mich zu meiner wahren Familie hinwenden wollte, war es nur logisch mich dort zu treffen. Sie glaubten, mein Vater wäre als einziger bereit, mich trotz meiner Vergangenheit aufzunehmen." Dominic schluckte. "Nach dem, was sie... wir... mit Caine damals vorhatten, nahmen sie an, mein Bruder würde mir nicht verzeihen."

"Na, inzwischen sollten sie ihn allerdings besser kennen!" grinste Peter.

Im selben Moment hörten sie die Haustür mit einem dumpfen Knall auffliegen. Schritte und Rufe mehrerer Männer ertönten. Im nächsten Augenblick stürmten einige dunkel gekleidete Gestalten in das Schlafzimmer. Ihre Gesichter waren verhüllt, nur Zorn blitzende Augen waren zu erkennen. Caine und Peter gingen beinahe gleichzeitig in Verteidigungsstellung, Lo Si folgte ihrem Beispiel, während Martin zurück wich. Dominic trat vor und sah die Eindringlinge ruhig an.

"Ich bin hier." sagte er und machte eine friedfertige Geste. "Es gibt keinen Grund, meine Familie anzugreifen."

"Diese Entscheidung kannst du ruhig uns überlassen, Damon!" Der finstere Mann spuckte den Namen aus, als habe er etwas Ekel erregendes im Mund.

"Was wollt ihr? Seid ihr wütend, weil ich nicht mehr euer Papa sein will?" Dominics Stimme triefte vor Spott. "Dann sucht euch doch einfach einen anderen! Es gibt schließlich genug unter euch, die sich darum reißen würden!" empfahl er mit einem Grinsen. Peter erkannte mit Schaudern den alten Damon in diesem Verhalten. Da war ihm der neue Dominic doch bedeutend lieber.

"Pass auf, was du sagst!" drohte eine andere Gestalt. "Niemand kann die Sing Wah einfach verlassen, wie es ihm beliebt. Entscheide dich jetzt! Kehrst du zu uns zurück, nehmen wir den Fluch von deinem Vater. Stellst du dich aber gegen uns, ist nicht nur er des Todes!"

Sie begannen, Dominic zu umkreisen und redeten abwechselnd in hypnotischem Tonfall auf ihn ein.

"Wir sind deine Familie!"

"Du gehörst zu uns!"

"Komm zurück, Damon Caine!"

Dabei streckten sie die Arme nach ihm aus. Dominic wandte sich verwirrt mal hierhin, mal dorthin und seine Augen wurden auf einmal stumpf und kalt.
Peter wollte sich auf die dunklen Gestalten stürzen, Wut und Hass überfluteten ihn, doch sein Vater hielt ihn zurück.

"Lass mich, Paps, sie verhexen ihn! Wir müssen ihm helfen, sonst verlieren wir ihn und auch Großvater!" stieß er panisch hervor.

"Nein, Peter!" sagte Caine scharf. "Wenn sein Wille stark genug ist, schafft er es allein."

Die Uhr schlug dreiviertel Zwölf.

Dominic schloss die Augen, alles drehte sich um ihn, die Gesichter der Anhänger der Bruderschaft wirbelten auch vor seinem inneren Auge umher. Er presste die Hände an die Schläfen. Dunkelheit umfing ihn und drohte, ihn in einen Abgrund zu reißen. Es war, als ob sein Verstand aus seinem Schädel gesogen würde. Dominic kämpfte dagegen an und riss mit großer Anstrengung die Augen wieder auf. Sein Blick fiel auf Caine, der zwischen seinem Sohn und Martin stand und ihn ruhig ansah. Von diesem Blick schien eine andere Kraft auszugehen, eine helle, warme Kraft, die ihn glücklich machte. Die Energie der Sing Wah dagegen war wirr, kalt und dunkel. Dominic sah Caines ruhige, dunkle Augen, Peters besorgte, haselnussbraune und Martins angstvolle, hellere. Immer noch führten die Sing Wah ihren sonderbaren, hypnotischen Tanz auf, doch Dominic fühlte ein Band zwischen sich und den drei Menschen dort außerhalb des Kreises. Er erinnerte sich an Caines offene Arme; erst vor wenigen Minuten war das gewesen. Er erinnerte sich, wie Martin ihm heißen Tee angeboten hatte, als er durchgefroren hier angekommen war. Wie Peter alles daran gesetzt hatte, seinen wahren Namen heraus zu finden. Und er dachte an den alten, kranken Mann, der nur wenige Meter entfernt in seinem Bett lag und mit dem Tod rang.

Nein! entschied Dominic. Nicht die Sing Wah sind meine Familie. Nicht die Bruderschaft. Diese Menschen sind es! Er sah Caine unverwandt in die Augen, ballte die Fäuste, holte tief Luft und rief dröhnend: "Ich bin Dominic Matthew Caine!"

Der Name hatte auf die Sing Wah die Wirkung eines Zauberspruchs.
Er schien ihnen körperliche Schmerzen zuzufügen, denn sie hielten in ihrem Tanz und Singsang inne und wanden sich gequält. Peter ließ sich nun nicht mehr zurück halten und trat den ihm am nächsten Stehenden kräftig ins Kreuz. Dieser sackte mit überraschtem Gesichtsausdruck in sich zusammen und blieb reglos liegen. Ehe sich die anderen versahen, erfuhren sie von Caine und Lo Si, der bisher unbewegt dabei gestanden hatte, eine ähnliche Behandlung. Sich ihrer Niederlage schmerzlich bewusst, ergriffen die Kerle die Flucht.

"He, ihr habt was vergessen!" rief Peter ihnen triumphierend nach und wies auf deren leblosen Kameraden am Boden. Als niemand Anstalten machte, ihn mit zu nehmen, schulterte ihn Peter kurzerhand und warf ihn vor der Haustür in den Schnee. Von der plötzlichen Kälte wurde die Jammergestalt wieder wach und rappelte sich eilends auf, um ihren fliehenden Spießgesellen in die Dunkelheit zu folgen. Peter rieb sich die Hände und schloss zufrieden die Tür hinter sich.
Der ganze Zwischenfall hatte nur wenige Minuten gedauert, dennoch kam es Peter vor wie eine Ewigkeit.

Die Uhr zeigte fünf vor Zwölf und Lo Si mahnte zur Eile.

"Wenn wir das Ritual genau um Mitternacht durchführen, hat es die stärkste Wirkung!" erklärte er.

Die drei Söhne des Matthew Caine stellten sich um dessen Bett herum auf und fassten sich an den Händen. Peter trat etwas zurück und zwang sich, ruhig zu bleiben. Er hasste es, tatenlos zusehen zu müssen.

"Vereinigt euer Chi!" ordnete Lo Si an.

Kwai Chang Caine schloss die Augen, nahm das Chi seiner beiden Brüder auf und vereinigte es mit seinem eigenen. Peter spürte die ansteigende Energie im Raum so deutlich, als sei es elektrische Ladung. Die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf und ein Knistern lag in der Luft.

"Söhne des Matthew Caine, nennt eure Namen: Wer ist der Erstgeborene?"

Caine hob das Gesicht in Richtung Zimmerdecke.

"Kwai Chang Caine!" rief er mit lauter Stimme, jedes Wort betonend.

"Wer ist der Zweitgeborene?" ertönte Lo Sis Stimme erstaunlich kraftvoll.

"Dominic Matthew Caine!" rief sein Bruder ebenso laut und nicht ohne Stolz.

"Und wer ist der Jüngste?"

"Martin Bradshaw Caine." sagte der jüngste Bruder etwas leiser, aber bestimmt.

"Söhne des Matthew Caine, brecht nun gemeinsam den Fluch!" forderte Lo Si drei die Männer auf.

Ihre Energie bündelte sich und bildete einen hellen Strahl in ihrer Mitte über Matthews Bett. Die Gesichter der Brüder verzerrten sich vor Anstrengung und ihre Hände und Arme bebten.

"Es… reicht nicht!" presste Caine hervor.

Peter sah die verzerrten Gesichter, sah das bleiche Gesicht seines Großvaters und vor seinem inneren Auge Dominics Gesicht, nachdem er den Brief gelesen hatte. Er fasste einen Entschluss und trat zu dem Kreis, über dem ein flackernder, warmer Schein wie von einem großen Feuer lag.

Er legte seine Hände auf die von Martin und Dominic, die einander krampfhaft umschlungen hielten und vor Anspannung zitterten. Peter lenkte seine ganze Konzentration auf seine eigenen Hände und löste mit größter Anstrengung die verschränkten Finger seiner beiden Onkel. Er ergriff mit der Rechten Martins, mit der Linken Dominics Hand, hielt sie fest und ließ sein eigenes Chi hindurch fließen. Wie sein Vater vorher hob er das Gesicht mit geschlossenen Augen und rief laut seinen Namen:

"Peter Matthew Caine!"

Sein Chi fügte sich mit dem seiner Onkel und seines Vaters zusammen und der Energiestrahl wurde heller und stärker. Er hüllte Matthew nun völlig ein und zog den Fluch förmlich aus ihm heraus. Lo Si hielt sich schützend den Arm vor die Augen, die vier Caines hatten ihre Augen immer noch geschlossen. Allmählich verebbte der Energiestrahl und sie ließen einander erschöpft und erleichtert los.

Matthews Gesicht hatte einen rosigen Farbton angenommen, er atmete jetzt gleichmäßig ein und aus. Seine Bewusstlosigkeit war einem tiefen, erholsamen Schlaf gewichen.

Dominic saß erschöpft am Boden. Das alles hatte ihn viel Kraft gekostet. Martin lehnte schwer atmend an der Wand und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Peter war leicht in die Hocke gegangen, hatte die Arme auf die Knie gestützt und ließ keuchend den Kopf hängen, wie ein Sportler nach einem Dauerlauf. Nur Caine war keinerlei Anstrengung anzumerken.

Caine sah seinen Sohn voller Zuneigung an und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Du hast Weisheit und Stärke bewiesen, mein Sohn. Ich bin stolz auf dich."

Haselnussbraune Augen sahen ihn bewegt an. "Ich habe getan, was ich tun musste." erwiderte Peter leise. Er sah zu seinem Großvater hinüber, der immer noch schlief, aber nun nicht mehr krank wirkte. "Ich habe es für ihn getan, für ihn und für unsere Familie."

"Ja, jetzt sind wir wirklich wieder eine Familie." erwiderte Caine und legte Peter eine Hand auf die Wange. "Danke, Peter." flüsterte er und seine Augen schimmerten feucht. Dann zog er seinen Sohn mit einem erleichterten Seufzer an sich.

Lo Si trat zu den beiden. "Du hast dich eines Shaolin würdig erwiesen, Peter." sagte er und lächelte dabei sein verschmitztes Lächeln. "Dein Vater hat allen Grund, stolz auf dich zu sein!"

"Aber warum hat es eigentlich funktioniert, Lo Si? Ich habe es getan, ohne zu wissen, ob es klappt, aber es schien mir der einzige Weg. Ich musste es versuchen, obwohl ich kein Sohn von Matthew Caine bin."

Lo Si lächelte ihn an. "Doch, Peter, du bist sein Sohn."

Peter sah Lo Si so entgeistert an, dass auf Caines Gesicht ein breites Lächeln erschien. Martin und Dominic tauschten einen fragenden Blick.

"Ein Sohn ist nichts anderes als ein männlicher Nachkomme." erklärte ihnen der Ehrwürdige. "Und das bist du in Bezug auf Matthew Caine, sogar im doppelten Sinne: Du bist der Sohn seines Sohnes, sein Enkelsohn."

"Und du trägst seinen Namen." fügte Caine hinzu.

"Warum konnte ich dann nicht von Anfang an mit im Kreis sein?" wollte Peter wissen.

"Du musstest ihm aus eigenem Antrieb beitreten." war Lo Sis rätselhafte Antwort.

So wie Dominic sich aus eigener Kraft zu seiner Familie bekennen musste. dachte Peter. Doch er war zu müde, um dieser Sache noch weiter auf den Grund zu gehen.

Caine trat zu Dominic und half ihm auf die Füße. Er legte seinen Brüdern je einen Arm um die Schultern und sagte: "Kommt, wir können jetzt ausruhen."

Peter grinste. "Nun gibt es eine neue Bruderschaft: Die Bruderschaft der Caines!"

Auf Caines Gesicht erschien zum zweiten Mal ein breites Lächeln und er nahm seinen Arm von Martins Schultern, um Peter einen seiner Püffe auf die Wange zu verabreichen.

Während draußen mehrere dunkle Gestalten fluchend und zischend in der Dunkelheit verschwanden, legten sich drinnen die vier Caines und der Ehrwürdige endlich zu wohlverdienter Ruhe.

Zu dieser Geschichte gibt es zwei verschiedene Epiloge:
zu Epilog A
zu Epilog B

 

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