Autor: Turandot
 

Kapitel 9

Der Tag der offenen Tür war lange und anstrengend, aber alles lief wunderbar. Die Schülerinnen und Schüler hatten sich sehr viel Mühe mit den Darbietungen und dem kalten Buffet gegeben. Dementsprechend war auch das Echo der BesucherInnen, die sich fast durchweg sehr positiv äußerten. Direktor Lake war ungeheuer stolz auf 'seine' Kids und auf das Lehrerkollegium. Erfolge wie dieser gaben ihm die nötige Kraft für den schwierigen Alltag als Schulleiter einer Problemschule.

Als ihn die fortschreitende Uhrzeit zum Aufbruch mahnte, war er kurz versucht, sein Treffen mit Peter Caine zu verschieben. Er war rechtschaffen müde, und er wollte die positive Stimmung in den nächsten Tag hinüberretten, was ihm aber sicher nicht gelang, wenn er gleich ein schwerwiegendes Problem aufgetischt bekam, das noch dazu im Geheimen besprochen werden musste.

Natürlich tat er nichts dergleichen, sondern fuhr wie versprochen zu Kwai Chang Caines Wohnung, wo er einige Minuten vor der verabredeten Zeit eintraf und langsam die Feuertreppe an der Außenseite des Gebäudes hochstieg. Als er oben angelangt war und die Tür zum Gebäude öffnete, hörte er erregte Stimmen. Eine davon gehörte Peter Caine, die andere kannte er nicht. Man musste nicht extra hinhören, um sofort klar zu erkennen, dass hier lautstark gestritten wurde.

Carlton hatte keine Lust, mitten in eine Auseinandersetzung hineinzuplatzen; deshalb wollte er schon beinahe wieder umkehren, als ein Mann aus der Wohnung trat, sich an der Tür noch einmal umdrehte, die Faust drohend erhoben, und in äußerst wütendem Tonfall hervorstieß: "Nehmen Sie sich in acht, Sie Möchtegern-Shaolin. Wenn Sie noch ein einziges Mal versuchen, sich meinem Sohn zu nähern, dann mach ich Sie fertig, Caine!" Ohne Carlton zu beachten, stürmte er an ihm vorbei die Treppe hinunter.

Von drinnen erklang ein Geräusch, als trete jemand mit aller Kraft gegen die Wand, dann wurde es still.

Offenbar hatte Carlton sich einen denkbar schlechten Zeitpunkt für seine Ankunft ausgesucht. Er beschloss, ein wenig zu warten, bevor er sich bemerkbar machte, um seinem Gastgeber Gelegenheit zu geben, sich wieder zu beruhigen. Außerdem wollte er dem jungen Mann die Peinlichkeit ersparen, zu wissen, dass ein Außenstehender den Streit und die Drohung des aufgebrachten Familienvaters mitbekommen hatte.

Doch schon nach wenigen Augenblicken hörte er ihn sagen: "Kommen Sie ruhig herein, Mr. Lake, Sie müssen nicht draußen stehenbleiben." Seine Stimme klang nicht mehr wütend, sondern flach, leise, erschöpft.

*Woher weiß er dass ich hier bin? Kann er hellsehen?* Nun ja, er war jetzt ein Shaolinpriester wie sein Vater, und der schien auch manchmal fast übersinnliche Fähigkeiten zu haben.

Carlton zuckte mit den Schultern und trat ein.

Peter Caine stand mit gesenktem Kopf im Flur, hielt die Augen geschlossen und rieb sich die Schläfen. Nun blickte er auf, nickte ihm zu und brachte sogar ein gequältes Lächeln zustande. "Es tut mir leid, dass Sie diesen Streit miterleben mussten. Entschuldigung."

Er atmete tief durch, dann fügte er in beinahe normalem Tonfall hinzu: "Nochmal danke schön, dass Sie mich hier besuchen. Bitte, kommen Sie doch mit in die Küche, das ist momentan der einzige Raum mit mehreren Stühlen. Möchten Sie etwas trinken?"

Bis der Tee fertig war, plauderten sie von alltäglichen Dingen. Carlton bewunderte den jungen Priester insgeheim dafür, wie schnell es ihm gelungen war, sich zu sammeln und auf den neuen Gesprächspartner einzustellen.

*

Schließlich kamen sie auf den Grund für ihr Treffen zu sprechen. Peter erzählte von Tommys Problemen und brachte sein Anliegen vor. Der Schulleiter hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen. Schließlich nahm er seine Brille ab und rieb sich die Augen, dachte angestrengt nach.

Peter wartete ab, so schwer es ihm auch fiel. Er konnte spüren, wie es in seinem Gegenüber arbeitete, wie er versuchte, das eben Gehörte zu verdauen.

Endlich blickte der Schulleiter wieder hoch. "Das ist ziemlich starker Tobak, wissen Sie das? Ein Schüler hilft anderen bei einem Betrug. Das ist ein schwerwiegendes Vergehen, das normalerweise mit Suspendierung oder dem Verweis von der Schule geahndet wird. Selbst wenn er, wie Sie sagen, dazu erpresst wurde, bleibt die Tatsache des Unterschleifs bestehen. Das kann ich nicht ignorieren."

"Natürlich nicht. Wie ich schon sagte, ist Tommy zu jeder Form der Wiedergutmachung bereit, die Sie von ihm verlangen. Er hat erkannt, welch schrecklichen Fehler er gemacht hat, als er sich mit dieser Clique einließ. Aber ich kann es in gewisser Weise nachvollziehen. Stellen Sie sich seine Situation doch einmal vor: er ist im typischen Revoluzzeralter, hat gerade seine Mutter verloren und das Verhältnis zu seinem Vater ist ziemlich schlecht, vor allem seit die Muttler als Vermittlerin fehlt. Zu allem Überfluss muss er auch noch in eine fremde Stadt umziehen, so dass auch der Kontakt zu seinen Freunden abbricht, die ihm sonst geholfen hätten, mit dem Verlust der Mutter fertig zu werden. In einer solchen Lage ist doch jeder Mensch anfälliger als sonst für Fehler und falschen Freunde, meinen Sie nicht auch?"

Carlton Lake nickte. "Das mag schon sein, aber...“ Er war sichtlich hin- und hergerissen zwischen der Verpflichtung, als Schulleiter den Unterschleif angemessen zu bestrafen, und dem Wunsch, gegen den Übeltäter nicht überhart vorzugehen, um nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Peter versuchte es mit einem weiteren Argument: "Wissen Sie, Tommys Schilderungen seiner Lage erinnern mich sehr stark an meine eigene Jugend, an die Zeit, als ich ein wenig jünger war als Tommy und meinen Erziehern das Leben manchmal ganz schön schwer gemacht habe. Ich selbst habe damals eine Chance bekommen, warum sollte sie ihm verweigert werden?"

Sein Blick ging auf einmal in die Ferne; als er fortfuhr, sprach er ebenso zu sich selbst wie zu seinem Gast: "Manchmal frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wenn ich im Waisenhaus hätte bleiben müssen, damals, nach dem Brandanschlag auf unseren Tempel, der meinen Vater angeblich das Leben gekostet hatte. Ich war todunglücklich, weil meine ganze Welt in Trümmern lag. Zugleich fühlte ich eine ungeheure Wut auf alles und jeden - vor allem auf mich selbst, weil ich nicht auch gestorben war, sondern weiterleben musste. Noch dazu in einer Umgebung, mit der ich überhaupt nicht zurechtkam und die ich als extrem unfreundlich erlebte. Um mich vor weiteren Verletzungen zu schützen, fing ich an mich einzuigeln. Irgendwann ließ ich nichts und niemanden an mich heran. In dieser Situation hätte ich, mit den falschen Freunden, leicht auf die schiefe Bahn geraten können; ich habe ähnliche Fälle später oft genug gesehen.

Aber ich hatte Glück, riesengroßes Glück. Ich traf Menschen, die hinter die Fassade meines abweisenden Verhaltens und meiner Verschlossenheit blickten und bereit waren, dem ruppigen, eigenbrödlerischen Teenager eine Chance zu geben. Sie nahmen mich in ihre Familie auf und schenkten mir Geborgenheit, so dass ich nach und nach meine Verbitterung ablegen und wieder Gefühle wie Vertrauen und Zuneigung zulassen konnte. Dass mein Leben seitdem so positiv verlaufen ist, habe ich nur meinen Pflegeeltern zu verdanken."

Er sah dem Schulleiter fest in die Augen. "Ich glaube ganz fest daran, dass auch Tommy eine Chance verdient. Ja, er hat einen schlimmen Fehler gemacht, aber er hat das von selbst erkannt und die Notbremse gezogen. Alles, was er jetzt braucht, ist die Möglichkeit zu beweisen, dass er aus seinem Fehler gelernt hat und ihn nicht wiederholen wird. Geben Sie ihm diese Chance – bestrafen Sie ihn für sein Vergehen, aber weisen Sie ihn nicht von der Schule. Lassen Sie ihn das Abschlussjahr an der 'Roosevelt High' beenden.“

Peter hatte all sein Pulver verschossen, nun lag die Entscheidung bei Direktor Lake, der weiterhin still dasaß und nachdachte. Nach einer endlos scheinenden Minute nickte er. "Nach einem so engagierten Plädoyer kann ich schon fast gar nicht anders als Ihnen zustimmen. Ich werde mir den jungen Mann zur Brust nehmen und ihm eine saftige Strafe aufbrummen, aber er darf auf der Schule bleiben."

Die Andeutung eines Grinsens zeigte sich auf seinem Gesicht. "Wenn ich's mir recht überlege, fallen mir eine Menge Arbeiten ein, für die wir immer viel zu wenig Freiwillige haben. Da findet Tommy bestimmt ein weites Betätigungsfeld."

Dem jungen Shaolin fiel ein Stein vom Herzen. Er atmete erleichtert auf. "Vielen Dank! Sie werden es bestimmt nicht bereuen."

"Wenn ich nur an den Papierkrieg mit dem Schulamt und der Stadtverwaltung denke, tue ich das jetzt schon", brummelte der Schulleiter vor sich hin, aber er zwinkerte dabei. Dann wurde er wieder ernst.

"Sicher haben Sie sich auch schon überlegt, was ich jetzt mit den anderen machen soll, mit den Anstiftern, deren Namen Sie bisher vergessen haben zu erwähnen?"

"Die bekommen schon ihr Fett weg, keine Sorge. Aber sie sollen sich möglichst noch ein paar Tage in Sicherheit wiegen können, bis ich nähere Informationen über den geplanten Einbruch habe. Und bis ich mich mit meinen früheren Kollegen vom 101. Revier abgesprochen habe. Wenn diese Jungs nämlich Hintermänner haben, wäre es sehr schade, wenn wir die nicht auch erwischen – schließlich wollen wir ja nicht die kleinen Fische bestrafen und die dicken Haie laufen lassen."


Kapitel 10

Die beiden besprachen noch weitere Einzelheiten, bevor Direktor Lake sich verabschiedete. Für das Problem des unauffälligen Informationsaustauschs zwischen Tommy und Peter, das durch Mr. Wus Drohungen noch verschärft wurde, hatte der Schulleiter eine simple Lösung parat.

"Ich habe Tommy heute Nachmittag gebeten, in den nächsten Tagen morgens im Sekretariat auszuhelfen, bis Mrs. Mallory wieder gesund ist. Das ist eine ausgezeichnete Gelegenheit für Sie, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Rufen Sie einfach an, am besten vor halb acht, denn ab dann geht’s oft hoch her. Und ich werde Tommy ausnahmsweise gestatten, das Schultelefon für Anrufe auf Ihr Handy zu benutzen."

Peter fiel ein Stein vom Herzen. "Wunderbar! So bekommen weder die Erpresser noch Mr. Wu etwas mit. Ich möchte schließlich keinen weiteren Keil zwischen Tommy und seinen Vater treiben."

"Ganz abgesehen davon, dass er Ihnen gewaltigen Ärger bereiten könnte. Obwohl die Wus erst seit einigen Monaten in der Stadt sind, soll er bereits großen Einfluss in der chinesischen Gemeinde haben."

Doch darüber machte Peter sich keine Gedanken. "Schon möglich, aber ich glaube kaum, dass er meine Lage noch weiter verschlimmern könnte", gab er leichthin zurück. "Was will er schon groß tun? Meinen Ruf als leichtsinniger Revolverheld habe ich schon weg, ich glaube nicht dass er den noch weiter beschädigen kann."

*

Um die Aufregungen des Abends für sich zu verarbeiten, gönnte Peter sich nach Carlton Lakes Aufbruch eine kurze Meditation, dann verließ er selbst das alte Backsteingebäude und fuhr zum Theater, um Susan von der Arbeit abzuholen.

*Mal sehen, welche Botschaft Doc Kline heute für uns hat*, dachte er und schaltete einen seiner Lieblingssender ein, WNKW. Dort lief gerade ein Werbespot, dann war Doc Klines Stimme zu hören. "Hier bin ich wieder, Leute, heute ist Musikabend bei WNKW, und es geht immer noch um den Liedermacher, den ich vor kurzem in Kanada erlebt habe und der mich schwer beeindruckt hat. Glaubt mir's, Leute, der Junge hat's drauf, der hat Musik im Blut und der wird bald groß rauskommen oder ich hab keine Ahnung mehr vom Musikbusiness. Zum Beweis lass ich euch gleich mal den nächsten Song hören, der ist ebenfalls aus seinem Album 'Sails to the Wind' wie alle Songs, die ich bisher heute Abend gespielt habe.. Hier ist Bruce Guthro mit 'Cheer up, buddy', für alle schwer schuftenden Leute da draußen."

Und schon erklangen die ersten Takte.

"So, you carry the world around on your back..."

Peter musste unwillkürlich grinsen – warfen ihm seine Freunde nicht immer vor, sich alles auf seine Schultern zu laden und sich für alles verantwortlich zu fühlen?

"… Man don't let 'em get you down
get back up, go another round
give 'em everything you've got
at least they'll know how hard you fight..."

*Hm, vielleicht sollte ich mir das wie ein Mantra immer wieder vorsagen, wenn mich das Misstrauen hier in der chinesischen Gemeinde wieder einmal niederdrückt. Hat mir Lo Si nicht heute schon genau das gleiche zu verstehen gegeben?*

Der Song gefiel ihm, er trommelte mit den Fingern im Takt gegen das Lenkrad und summte den Refrain mit. Viel zu bald kam er zu dem kleinen Gässchen, in dem der Bühneneingang zu Susans Musicaltheater lag.

*Schade! Ich hätte gerne noch mehr gehört, die Musik ist klasse.* Peter parkte den Stealth, stieg aus und ging in das Gässchen hinein. Einige Meter vor dem Bühneneingang sprang sein sechster Sinn an; irgendetwas war hier faul. Im nächsten Moment kamen drei großgewachsene Typen direkt auf ihn zu und versuchten, ihn zu umzingeln. Ihre drohende Haltung und die Stöcke, die sie in den Händen hielten, ließen keinerlei Zweifel an ihren Absichten aufkommen.

*Auch das noch – als hätte ich heute nicht schon genug erlebt! Hat ein Shaolin denn niemals Feierabend?!* Peters gute Laune war wie weggeblasen. Er nahm die Hände aus den Hosentaschen und hielt sie beschwichtigend nach oben. Die Kerle sahen nicht aus wie professionelle Schläger vielleicht hatte er Glück und konnte das Trio zum Reden bringen.

"Hey Jungs, ist das wirklich euer Ernst? Ich habe heute doch schon meinen Abendsport gemacht. Außerdem bin ich hundemüde und hab gerade keine Lust auf eine Rauferei, können wir das nicht sein lassen?"

"Halt die Klappe, Bürschchen!", fuhr ihn einer an. Ein anderer musterte ihn geringschätzig von oben nach unten und wandte sich dann an seine beiden Kumpane: "Mir scheint, Susans neuer Macker hat Angst. Kein Wunder, der ist ja auch nur eine halbe Portion. Ich möchte nur wissen, was die Kleine sich dabei gedacht hat, mich für so 'nen Milchbubi einzutauschen. Hätt ihr mehr Geschmack zugetraut. – Na Kleiner, haste jetzt die Hosen voll?"

Gröhlend lachten die drei wie über einen guten Witz. Peter jedoch wurde wütend. Das war also Mike! Der Mann, der sein Kind verleugnete und sich einfach so aus der Verantwortung stahl. Seinetwegen war Susan todunglücklich, hatte tagelang in einem kalten, zugigen Loch hausen müssen und damit nicht nur ihre eigene Gesundheit aufs Spiel gesetzt, sondern auch die ihres ungeborenen Kindes.

"Wieso sollte ich denn vor dir Angst haben? Wer bist du denn schon, du Gernegroß? Ein Vater, der sich vor seiner Verantwortung und seinen Pflichten drückt! Hast wohl Angst davor? Wer ist hier also der Feigling?", gab Peter scharf zurück.

Ihm war klar, dass er als Shaolin eigentlich nicht so heftig reagieren durfte, sondern versuchen musste, auch Mike zu verstehen. Aber dazu fühlte er sich in diesem Moment außerstande. Er war müde und genervt und hatte keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit Mikes Motiven. Außerdem hatte er viel zu sehr unter der Trennung von seinen beiden Vätern gelitten – litt immer noch darunter – als dass er viel Verständnis für jemanden aufbrachte, der absichtlich sein Kind von sich stieß.

"Du wagst es, mich einen Feigling zu nennen?" Drohend baute sich Mike vor dem jungen Priester auf. "Das nimmst du zurück, oder du kannst was erleben."

Den ließ das kalt. "Was denn? Dass ihr zu dritt über mich herfallt, weil du dich alleine nicht traust und Verstärkung brauchst? Nur zu, tu was du nicht lassen kannst, wenn du wirklich glaubst, dass ihr gegen einen Shaolinkämpfer eine Chance habt. Aber an deiner Stelle würde ich jetzt mal ganz schnell Platz machen und mich vorbei lassen. Glaub mir's, das ist besser für deine Gesundheit."

Peters Aufforderung bewirkte genau das Gegenteil; mit einem Wutschrei stürzte sich Mike auf den vermeintlich unterlegenen Gegner, musste aber feststellen, dass er hier mit bloßer Kraft nicht weiterkam. Mit einem gezielten Handkantenschlag wurde ihm der Stock entrissen, dann traf ihn ein Fußtritt in den Magen, der ihn zurücktaumeln ließ und für einen Moment den Atem nahm. Ein lauter Krach, und der lange Stock war in zwei Teile zerbrochen.

Mike rappelte sich auf und stürzte sich erneut auf den jungen Shaolin, diesmal unterstützt von seinen beiden Freunden, die sich inzwischen von ihrer Überraschung über Peters erfolgreiche Gegenwehr erholt hatten.

Es war ein ungleicher Kampf. Die drei waren zwar stark und hatten bestimmt schon so manche Wirtshausrauferei ausgefochten, hatten aber keine Ahnung von KungFu. Peter brauchte nicht einmal eine Minute, um die beiden anderen ebenfalls zu entwaffnen und ins Reich der Träume zu befördern. Gerade holte er zu einem Fußtritt aus, um auch Mike schlafen zu schicken, als ihn ein gellender Schrei ablenkte. "Mike! Nein, nicht!"

Automatisch drehte er sich um. Susan war gerade aus dem Theater getreten und blickte mit schreckgeweiteten Augen auf die beiden Kämpfenden. Dieser eine Augenblick gab Mike die Gelegenheit, Peter einen Fausthieb an den Kopf zu verpassen, der ihn buchstäblich Sterne sehen ließ. Er taumelte, und Mike warf sich mit neuer Energie auf seinen momentan geschwächten Gegner, in der vergeblichen Hoffnung, noch einen draufsetzen zu können. Doch Peter hatte sich bereits wieder gefangen und ließ ihn mit einem schnellen Tritt zu Boden gehen.

"Peter! O mein Gott!" Susan kam herbeigerannt und musterte ihn besorgt. "Hat er Sie verletzt? O mein Gott, Sie bluten ja!" Sie war völlig außer sich. Peter hatte seine liebe Mühe damit, sie zu beruhigen.

"Das ist nur ein kleiner Kratzer, ich bin Schlimmeres gewöhnt. Beruhigen Sie sich, es ist ja nichts passiert."

In der Ferne erklangen bereits die Sirenen der Einsatzwagen – Jeremiah hatte die Szene beobachtet und sofort die Polizei verständigt – so dass bald darauf alles vorbei war. Die Raufbolde kamen in Gewahrsam, und Peter konnte Susan nach Hause fahren.


Kapitel 11

Als Tommy Wu am nächsten Morgen leise die Garagentür schloss, atmete er auf. Uff, geschafft! Er war ihm tatsächlich gelungen, sich für die Schule fertig zu machen und aus dem Haus zu schleichen, ohne seinen Vater zu wecken! Zufrieden schwang er sich aufs Fahrrad. Für die nächsten Stunden war er sicher vor weiterem Geschimpfe. Unwillkürlich musste er grinsen.

*Wenn Direktor Lake das gewusst hätte, als er mich gestern um Hilfe bat! Ganz verlegen war er, weil ich jetzt jeden Tag fast eine Stunde früher in der Schule sein muss; dabei hat er mir einen Riesengefallen getan. - Ich möchte ja nur zu gerne Dads dummes Gesicht sehen, wenn er meine Nachricht liest. Geschieht ihm ganz recht, nach seinem Auftritt von gestern Abend! Ist er jetzt ganz übergeschnappt? Mir einfach jeden Kontakt zu Mr. Caine zu verbieten, noch dazu unter Androhung von Hausarrest! Als wäre ich in der ersten Klasse, lächerlich! Da hat er sich aber geschnitten, das kann er mit mir nicht machen.*

Dermaßen außer sich wie am Abend zuvor hatte Tommy seinen Vater lange nicht mehr erlebt. Was Peter Caine wohl getan oder gesagt hatte, um ihn so auf die Palme zu bringen? Verraten hatte er ihm jedenfalls nichts, sonst hätte sich sein rasender Zorn nicht gegen den Shaolin, sondern allein gegen Tommy gerichtet. Dass der junge Priester jetzt als Sündenbock für Tommys Probleme herhalten sollte, tat ihm sehr leid, und er war kurz davor gewesen, seinem Vater alles zu gestehen, hatte sich dann aber doch nicht getraut.

Den Umgang mit Mr. Caine würde er sich jedenfalls nicht verbieten lassen, das stand fest. Tommy konnte nicht sagen warum, aber der junge Shaolin hatte ihn mächtig beeindruckt. Vielleicht lag es ja daran, dass er ihn ernst genommen und wie einen Erwachsenen behandelt hatte?

Und dass er Tommy nicht verraten hatte, rechnete er ihm sehr hoch an. Schließlich wusste er aus eigener Erfahrung nur allzu gut, wie unangenehm der herrische Thomas Wu werden konnte, wenn etwas nicht hundertprozentig nach seinem Willen ging.

*

Unter diesen Überlegungen war Tommy auf dem Gelände der 'Roosevelt High' angelangt. Jetzt schnell ins Sekretariat!

Er sperrte sein Fahrrad ab, rannte über den Hof, betrat das Schulgebäude und lief die Treppe hoch. Der Schulleiter hatte gesagt, er brauche nur zu klopfen, einer der Lehrer werde da sein; aber er war sehr überrascht, dass ihm Carlton Lake persönlich öffnete.

"Ah, Tommy, schön dass Sie so pünktlich sind. Bitte kommen Sie gleich mit, ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen, bevor Sie mit Ihrer Arbeit beginnen", sagte er in ernstem Ton und lotste ihn in sein Büro.

Das klang gar nicht gut – was der Direktor wohl von ihm wollte? Ihn überkam eine schreckliche Ahnung.

*Phil! Hat er womöglich dem Direktor verraten, was ich angestellt...?* Bevor Tommy diesen Gedanken richtig zu Ende gebracht hatte, saß er auch schon dem Schulleiter gegenüber, der ihn durchdringend anblickte.

"Können Sie sich denken, worüber ich mit Ihnen sprechen will?"

Bei dieser Standardeinleitung für Standpauken und Verweise wurde ihm noch mulmiger zumute, und er versuchte vergeblich, möglichst ahnungslos dreinzuschauen. "N... nein, Sir."

Ein äußerst strenger Blick traf ihn. "Und wenn ich Ihnen sage, dass ich gestern Abend eine lange Unterredung mit Mr. Caine hatte?"

Tommy bekam einen fürchterlichen Schreck. Er fühlte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Sein Mund klappte auf, aber er brachte keinen Ton heraus.

"Aha, hab ich mir's doch gedacht! Nun, dann brauchen wir nicht lange um den heißen Brei herumzureden. Sie wissen, dass Sie ein Verbrechen begangen haben, mit dem Sie sich Ihre ganze Zukunft..."

Bei dem Wort 'Verbrechen' setzte Tommys Verstand wieder ein; er fand seine Sprache wieder und stammelte verzweifelt: "Bitte, Sir, ich weiß, dass das durch nichts zu entschuldigen ist und dass ich gar nicht erst auf die Erpressung hätte eingehen dürfen. Ich war so ein Riesen-Schwachkopf, und ich habe jede Strafe mehr als verdient, die Sie mir aufbrummen, aber bitte, bitte, werfen Sie mich nicht von der Schule! Ich..."

Direktor Lake gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. "Lassen Sie mich bitte ausreden. Ich denke, dass Ihnen die Tragweite Ihrer Handlung sehr wohl bewusst ist. Sie wissen, dass ich kaum eine andere Wahl habe, als Sie der Schule zu verweisen?"

Tommy sank das Herz endgültig in die Hose. Jetzt war alles aus!

"Ja, das weiß ich", erwiderte er leise, den Blick zu Boden gerichtet.

"Wahrscheinlich hätte ich das auch getan, hätte sich Mr. Caine nicht so engagiert für Sie eingesetzt."

Wie war das? Hatte er sich verhört? Tommys Kopf fuhr ruckartig in die Höhe. "Was …?" Durfte er womöglich doch bleiben?

Er musste einen komischen Anblick bieten, denn einen Moment lang zuckte es verdächtig um die Mundwinkel des Schulleiters, bevor er ihm ernst antwortete: "Ja, Sie haben mich schon richtig verstanden. Ich werde Gnade vor Recht ergehen lassen, Sie bekommen eine zweite Chance. Die Einzelheiten regeln wir sobald diese Einbruchsgeschichte vom Tisch ist. Aber lassen Sie mich eines klarstellen: Sie haben es nur Mr. Caines Fürsprache zu verdanken, dass Sie mit einem schweren Verweis und Strafarbeiten davonkommen. Sollten Sie sich einen weiteren Fehltritt leisten, und sei er noch so geringfügig, dann haben Sie diese Chance vertan, und Sie fliegen doch noch."

* * *

Die wenigen Schritte zurück ins Sekretariat kamen Tommy so vor, als schwebe er wie auf Wolken. Er konnte sein Glück kam fassen – er durfte wirklich auf der 'Roosevelt High' bleiben! Und Direktor Lake hatte ihm auch gesagt, dass der Ladenbesitzer ebenfalls bereit war, Tommy eine Chance zu geben, und auf eine Anzeige verzichtete. Das alles hatte er nur dem jungen Shaolinpriester zu verdanken, zu dem er zuerst unter keinen Umständen hatte gehen wollen. Cam hatte ihn regelrecht hinschleifen müssen.

Am liebsten hätte er seinen Fürsprecher sofort angerufen, um sich zu bedanken. Er hatte den Telefonhörer schon in der Hand, als ihn der Gedanke an die frühe Uhrzeit doch davon abhielt, die Handynummer des jungen Priesters zu wählen. Dieser hatte zwar gesagt, Tommy könne ihn jederzeit anrufen, aber da hatten sie über den geplanten Einbruch gesprochen und darüber, auf welche Weise er Mr. Caine am besten über alles informieren konnte, das er in Erfahrung brachte. Ob er sich freuen würde, wenn Tommy ihn womöglich mit seinem Anruf aus dem Schlaf riss, ohne konkrete Informationen zu haben, sondern nur weil er sich bedanken wollte? Nein, er würde lieber noch ein wenig warten.

Nur wenig später brach dann die übliche frühmorgendliche Betriebsamkeit im Sekretariat aus, so dass Tommy keine Gelegenheit mehr hatte, unbeobachtet zu telefonieren. Er arbeitete bis zum Gongschlag, der den Beginn der ersten Stunde ankündigte, und rannte dann schnell in sein Klassenzimmer, wo die Geschichtslehrerin, Ms. Dockery, bereits Arbeitsblätter verteilte. Sie nickte ihm zu: "Ah ja, Tommy, Mr. Lake hat uns mitgeteilt, dass Sie in den nächsten Tagen netterweise im Sekretariat aushelfen und deshalb morgens ein wenig später kommen. Bitte setzen Sie sich, damit wir anfangen können."

Als er in der ersten Pause einen Apfel aß, kam Phil auf ihn zugeschlendert und grinste ihn an. "So, so, unser Musterschüler hilft also im Sekretariat aus? Da hast du ja wieder ganz leichten Zugang zu allen Klausuraufgaben, nicht wahr?"

Tommy blieb der Bissen im Hals stecken, er bekam einen Hustenanfall.

Phil klopfte ihm zwischen die Schulterblätter und lachte. "Hey, das war 'n kleiner Scherz, Mann! Kein Grund so zu erschrecken, demnächst sind doch gar keine Klausuren. – Hast du über unser Gespräch nachgedacht?"

Jetzt kam's darauf an, überzeugend auf die Erpressung einzugehen.

"Ja, hab ich", sagte Tommy mit einem gut gespielten Seufzer in der Stimme. "ich will nicht von der Schule fliegen, so kurz vor dem Abschluss. Mein Dad bringt mich um."

"Dann machst du also mit?" Forschend sah Phil ihm ins Gesicht.

Tommy senkte den Kopf. "Muss ich ja wohl... Aber nur wenn ich dann die Aufgaben und die restlichen Bilder bekomme und dann wirklich alles ausgestanden ist."

Phil grinste ihn an. "Hey, vertrau mir. Du kommst mit uns und hilfst uns, und danach bekommst du die Sachen. Wie bei den Photos vom CD-Klauen. Versprochen."

Er senkte die Stimme ein wenig. "Komm morgen Abend um halb Zehn zur großen Lagerhalle in der Georgestreet, und zwar zum dritten Eingang auf der Rückseite, den mit der rot angestrichenen Tür. Da besprechen wir die Einzelheiten und ziehen dann gemeinsam los."

"Ok – aber was..."

Phil unterbrach ihn. "Alles weitere erfährst du an der Lagerhalle. Ach ja – zieh dunkle Klamotten an, wir wollen in der Nacht schließlich nicht auffallen."

Und schon schlenderte er weiter, die Hände in den Hosentaschen, so als ob gar nichts gewesen wäre, während Tommy sich ärgerte, dass er keine weiteren Informationen aus ihm herausbekommen hatte.

 

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